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Um es mit Hugh MacLennans1 Worten aus dem Vorwort zu seinem Roman Two Solitudes zu sagen: »Weil dies eine Geschichte ist, möchte ich sie nicht mit einem Vorwort belasten, doch irgendetwas in der Art scheint mir nötig zu sein, denn es handelt sich um einen Roman über Kanada.« Und da viele meiner Leserinnen und Leser kaum etwas über Kanada oder Montreal, wo mein Roman spielt, wissen werden, halte ich ein Mindestmaß an Hintergrundinformationen für unentbehrlich. Außerdem verdankt sich diese Geschichte - die auch unabhängig von ihrem Schauplatz und ihrem allegorischen Charakter gelesen werden kann - der großen Trauer um eine Stadt, die ich erst liebte, dann hoffnungslos deprimierend fand und nie wiedersehen wollte und inzwischen wieder lieben kann. Dass das längst untergegangene Montreal meiner Kindheit nach einer schrecklichen Zeit der Verwüstung nun in vollkommen neuem Gewand wiedergeboren wird und aufblüht, ändert nichts an meinem Schmerz über das, was damals geschah: den ganzen Hass und die Feindseligkeit zwischen den beiden Kulturen und Sprachen, die ich liebe und die beide zusammen Montreal zu der wunderbaren, faszinierenden und unglaublich charmanten Inselstadt gemacht haben, die es ist.
Kanada ist ein Land mit zwei offiziellen Sprachen: Französisch und Englisch oder Englisch und Französisch, je nachdem, welche Sprachgruppe man meint zuerst nennen zu müssen (was schon auf die darunterliegenden Spannungen hindeutet). Als ich noch ein Kind war, konnte kaum ein englischstämmiger Kanadier außer Diplomaten und weit gereisten oder gerade erst eingewanderten Menschen ein Wort Französisch - weder in der Provinz Quebec noch irgendwo sonst in Kanada. Soweit ich weiß, sprachen auch nur wenige der Franzosen in der Provinz Englisch, obwohl manche natürlich dazu gezwungen waren, besonders in Montreal, wo sie das Englische beherrschen mussten, um eine Anstellung zu finden. Es war unmöglich, Bus- oder Taxifahrer, Hausmeister oder gar Anwalt zu werden, wenn man nicht die Sprache der damaligen Elite - der Briten - sprach, die zwar eine winzige Minderheit waren, aber eine enorme Macht hatten. Heute ist Montreal in jeder Hinsicht eine französischsprachige Stadt.2 Die meisten englischen Muttersprachler haben die Flucht ergriffen, als es verboten wurde, am Arbeitsplatz Englisch zu sprechen oder zu schreiben3, und vermutlich aus diesem Grund scheinen sich die heutigen Montrealer nicht mehr von den »Anglais« bedroht zu fühlen. Dennoch sprachen bei einem kürzlichen Besuch dort alle Franzosen, mit denen ich mich traf oder die in Geschäften und Restaurants arbeiteten, ganz selbstverständlich auch fließend Englisch (im Gegensatz zu den späten 70er- und frühen 80er-Jahren, als selbst diejenigen, die Englisch konnten, bewusst auf Französisch antworteten, wenn man sie auf Englisch ansprach). Ich würde die französischstämmigen Einwohner von Montreal heutzutage als zweisprachig bezeichnen: Zumindest sprechen sie besser Englisch als viele der verbliebenen »Anglos« Französisch, obwohl es auch bei diesen große Fortschritte gibt. In jedem Fall hat sich die einst giftige Atmosphäre zwischen den beiden Sprachgruppen weitgehend aufgelöst und einem überwiegend entspannten und freundlichen Miteinander Platz gemacht.
Und doch: Es gibt bis heute keine Bezeichnung für einen Bewohner des Landes, mit der beide Bevölkerungsgruppen zufrieden wären. Um noch einmal Hugh MacLennan zu zitieren (mit Sätzen, die 1945 geschrieben wurden, aber immer noch Gültigkeit haben): »Wenn die französischsprachigen Kanadier das Wort >canadien<4 verwenden, meinen sie damit in der Regel nur sich selbst. Ihre englischsprachigen Landsleute nennen sie >les anglais<. Englischsprachige Bürger handeln nach dem gleichen Prinzip. Sie bezeichnen sich selbst als >Kanadier< und ihre französischsprachigen Landsleute als >Frankokanadier< (heute wohl eher >Québécois<, wobei die beiden Ausdrücke nicht synonym sind).«
In Montreal schwankte die Vorherrschaft der einen Sprache über die andere im Laufe der Zeit. Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert war die englischsprachige Bevölkerung in der Minderheit und bestrebt, Französisch zu lernen. 1831 bildeten die Briten sowohl in Quebec City als auch in Montreal, wo sie sich als Kaufmanns- und Unternehmerklasse etabliert hatten, die Mehrheit. Während dieser Zeit des rasanten wirtschaftlichen Wachstums kehrten sich die Verhältnisse um, und die Franzosen begannen Englisch zu lernen. Der wirtschaftliche Aufschwung führte zu einem Zustrom der frankokanadischen Landbevölkerung in die Metropole, und weil gleichzeitig viele anglofone Montrealer in andere aufstrebende Städte und Provinzen im Westen abwanderten, kehrte sich das Verhältnis wieder um, und im Jahr 1871 bildete die französischsprachige Bevölkerung aufgrund ihrer schwindelerregend hohen Geburtenrate5 wiederum die Mehrheit.
Zu dieser Zeit waren die Engländer bereits gut als herrschende Klasse etabliert, sowohl aufgrund ihrer kommerziellen und finanziellen Stärke als auch aufgrund ihrer Erziehung und Ausbildung, die der französischen weit überlegen waren. Das Ergebnis war, dass sich die englischsprachige Bevölkerung nicht bemühte, die Sprache der Mehrheit zu erlernen, und stattdessen behauptete, die katholische Kirche sei schuld, wenn die Franzosen von den Engländern als Bürger zweiter Klasse behandelt würden, denn sie habe die Gläubigen dazu ermutigt, riesige Familien zu gründen, für die sie kaum aufkommen konnten und die daher so unzureichend ausgebildet waren, dass sie mit ihren englischsprachigen Landsleuten nicht mithalten konnten. Obwohl nicht geleugnet werden kann, dass die katholische Kirche entscheidend dazu beitrug, ihre Gläubigen in Armut und von Bildung fernzuhalten, und dass sie in der Provinz Quebec lange Zeit überaus korrupt war, sind die Engländer damit meiner Meinung nach nicht von aller Verantwortung freizusprechen. An einem Ort wie Montreal oder in der Provinz Quebec, wo immer alles in beiden Sprachen gesagt und geschrieben wurde, erscheint es unbegreiflich und unentschuldbar, dass es jemals möglich war, dass Menschen nicht die Mehrheitssprache der Provinz, in der sie lebten, beherrschten. Die Tatsache, dass die Anglofonen in Quebec mit Ausnahme einer kleinen Handvoll aufgeklärter Geister bis vor Kurzem keinerlei Versuch unternahmen, auch nur ein einziges Wort Französisch zu verstehen, geschweige denn zu sprechen, musste bei den Frankokanadiern unweigerlich zu dem Eindruck führen, dass sie nicht nur gegen soziale und wirtschaftliche Ungerechtigkeit kämpften, sondern auch für den Erhalt ihrer Kultur und Sprache.
Glücklicherweise haben sich die Dinge in den letzten vierzig Jahren geändert. Die meisten englischstämmigen Kanadier in der Provinz Quebec haben sich bemüht, einigermaßen Französisch zu lernen, und einige sprechen es ziemlich fließend. Viele ihrer Kinder gehen inzwischen auf französische Schulen (in meiner Kindheit eine unerhörte Vorstellung, und ich vermute, es wäre auch rechtlich gar nicht möglich gewesen), und man kann hoffen, dass die beiden Kulturen dauerhaft friedlich und freundschaftlich zusammenleben.
Als ich länger über das nachdachte, was in Quebec im Laufe der Jahrzehnte geschehen ist, war ich erstaunt, wie viele Parallelen es zu anderen Orten in der Welt gibt (Irland, der Nahe Osten, der Balkan, Südafrika, Pakistan, Indien, Kaschmir, um nur einige zu nennen) und wie sehr diese uralten und offenbar unüberwindlichen Feindschaften aus der Angst vor dem »anderen« geboren zu sein scheinen. Sogar an ansonsten friedlichen Orte, an denen es zufällig zwei oder mehr Kulturen und Sprachgruppen gibt, wie Belgien und sogar die Schweiz, oder wo zwei verschiedene Richtungen ein und derselben Region verbreitet sind (Katholiken gegen Protestanten, Sunniten gegen Schiiten), sind viele Menschen nicht in der Lage, ihre - meist von mangelndem Verständnis und der daraus entstehenden Angst verursachte - Abneigung gegen andere zu überwinden. Wie ein verängstigter Hund eher dazu neigt zu beißen, provoziert Angst auch beim Menschen Aggression, die bis zum Krieg führen kann. Diese Reaktionsweise kennen wir nicht nur von Einzelpersonen, sondern auch von ganzen Nationen. Wer missbraucht wurde, neigt dazu, andere zu missbrauchen; wer unterdrückt wurde, tendiert dazu, selbst ein Tyrann zu werden, wenn es ihm irgendwann gelingt, an die Macht zu kommen; wer verfolgt wurde, entwickelt eine Paranoia und verfolgt seinerseits diejenigen, die er fürchtet. Wer als Kind geschlagen wurde, neigt dazu, seine eigenen Kinder zu verprügeln; und wer als Schüler drangsaliert wurde (besonders im Internat), hat unbegreiflicherweise die Tendenz, seine Kinder auf genau dieselbe Schule zu schicken.
Es ist nur zu verständlich und nachvollziehbar, dass, wer vergewaltigt wurde, in ständiger Angst lebt, das Gleiche erneut zu erleben, so wie Überlebende eines Völkermordes niemals die Furcht verlieren, wieder bis fast zur vollständigen Auslöschung verfolgt zu...
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