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Kathrin Sahlmüller
T Das erwartet Sie in diesem Kapitel
Dieses Kapitel gibt einen Einblick in Vorstellungen unserer Gesellschaft vom »guten Sterben«, über die Entstehung und gesellschaftliche Bedingtheit solcher Bilder und über aktuelle Herausforderungen und Utopien für die Zukunft im Umgang mit Tod und Sterben.
An wen denken wir, wenn wir uns einen sterbenden Menschen vorstellen? An einen alten Menschen, der sich, ruhig und lebenssatt, von seiner versammelten Familie verabschiedet? An eine Patientin auf der Intensivstation, umgeben von Hektik und lauten Apparaten? An einen vor sich hin dämmernden Demenzkranken? An ein Opfer von Unfall oder Gewalt? Manche dieser Bilder fühlen sich für uns »richtiger« an: der Tod als natürliches Ereignis, vielleicht sogar als Erlösung. Andere Bilder wirken falsch und ungerecht. Besonders das Sterben junger Menschen erscheint uns unnatürlich. Naturgegeben erscheint den meisten allein der Tod am Ende eines langen Lebens. Und in unserer Gesellschaft sterben ja tatsächlich die allermeisten Menschen im (hohen) Alter, der Tod von jungen Menschen oder sogar Kindern gilt als tragischer Sonderfall.
Diese Verteilung der Sterblichkeit im menschlichen Lebenslauf ist relativ neu. In den vorindustriellen Gesellschaften war der Tod etwas, das überwiegend Neugeborene, Säuglinge und kleine Kinder betraf (Kellehear 2017, 12; Schäfer 2015, 157): Schweden richtete im Jahr 1749 als erstes Land ein Amt für Bevölkerungsstatistik ein und so zeigen Daten aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, dass mehr als 35?% der lebend geborenen Kinder vor ihrem fünften Geburtstag verstorben sind (Deaton 2015, 69). Die Zahlen gleichen sich für alle vorindustriellen Gesellschaften; Volk und Atkinson ermitteln im Vergleich von über 43 verschiedenen historischen Gesellschaften eine durchschnittliche Säuglingssterblichkeit von 26,9?% und eine Kindersterblichkeit von 46,2?%: »From the pre-Columbian Americas, to Ancient Rome, to medieval Japan, to the European Renaissance, roughly a quarter of infants died before their first birthdays and half failed to survive to adulthood« (Volk/Atkinson 2013, 184). Diese hohe Sterblichkeit am Anfang des Lebens ist auch der Grund für die niedrige Lebenserwartung in den vorindustriellen Gesellschaften. Wenn beispielsweise im Schweden des späten 18. Jahrhunderts die durchschnittliche Lebenserwartung bei Anfang bis Mitte 30 Jahren lag, so heißt das nicht, dass die Menschen in der Regel mit 35 Jahren verstarben, sondern dass viele Menschen mit 35 Jahren bereits verstorben waren - und zwar überwiegend in ihren ersten fünf Lebensjahren. Wer diese gefährlichen ersten Jahre überlebte, konnte durchaus alt werden - so hatte ein 80-jähriger Schwede im Jahr 1751 ein niedrigeres Sterberisiko als ein neugeborenes Kind zur selben Zeit (Deaton 2015, 69).
Die Hauptursache für die hohe Kindersterblichkeit, aber auch für den größten Teil der Todesfälle im Erwachsenenalter waren Infektionskrankheiten (Schäfer 2015, 158). Eine Aufstellung von Todesursachen im London des 17. Jahrhunderts zeigt, dass 100 Todesfällen 56-mal »Infektionskrankheiten und Durchfälle«, 21-mal »Schwangerschaftskomplikationen, Säuglings- und Kindersterblichkeit«, fünfmal Herzerkrankungen, zwei Fälle von Unterernährung sowie in 16 Fällen »andere Ursachen«, wie beispielsweise Unfälle, zugrunde lagen (Omran 2005, 740).
Diese Verteilung der Todesursachen änderte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts. Die Sterberate aufgrund von Epidemien und anderen Infektionskrankheiten begann zu sinken, generell gingen Infektionskrankheiten wie Cholera und Typhus durch verbesserte Hygienemaßnahmen wie die Einführung von Kanalisation in Städten und eine bessere Trinkwasserversorgung langsam zurück, und es wurden mit der Einführung der Kuhpockenimpfung erste Erfolge in der Krankheitsbekämpfung durch Impfungen erzielt (ebd., 66; Schäfer 2015, 161?f.). Um das Jahr 1900 lag die durchschnittliche Lebenserwartung weltweit bei etwa 30 Jahren, in Deutschland bei rund 43 Jahren, und stieg im Verlauf des 20. Jahrhunderts stetig an, auf heute über 80 Jahre in Deutschland und etwa 70 Jahre im weltweiten Durchschnitt (Sütterlin 2017, 5?ff.). Zurückzuführen ist der Anstieg der Lebenserwartung zunächst auch hier größtenteils auf den weiterhin signifikanten Rückgang der Säuglings- und Kindersterblichkeit an Infektionskrankheiten. Im 20. Jahrhundert wurde schließlich auch die Sterblichkeit der Erwachsenen durch Krankheiten und riskante Arbeits- und Lebensbedingungen geringer (ebd., 4) und die Ernährungssicherheit verbesserte sich stetig durch Entwicklungen in der Landwirtschaft und neue Möglichkeiten zur Konservierung von Lebensmitteln.
Heute haben vor allem in Ländern mit hohem und mittlerem Einkommen die sogenannten nichtübertragbaren Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Diabetes, chronische Atemwegserkrankungen und Demenzerkrankungen die Infektionskrankheiten als vorherrschende Todesursache abgelöst. Sie machen in Ländern mit hohem Einkommen mittlerweile fast 90?% der Sterbefälle aus (Sallnow/Smith/Ahmedzai et al. 2022, 843). Diese Entwicklung beschreibt Abdel Omran 1971 in seinem Modell des Epidemiologischen Übergangs (Omran 2005, 731?ff.). Auch in Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen nimmt die Anzahl der Menschen zu, die an nicht-übertragbaren Krankheiten sterben, auch wenn hier die Infektionskrankheiten immer noch eine sehr große Rolle spielen (Sallnow/Smith/Ahmedzai et al. 2022, 842?f.).
Der Übergang der Todesursachen hin zu den nichtübertragbaren und degenerativen Krankheiten veränderte auch die Art und Weise, wie die Menschen sterben (Greiner 2023, 38?ff.; Kellehear 2017, 21). Im Zeitalter der Epidemien und Infektionskrankheiten kam der Tod in der Regel schnell zu den Menschen - durch schwere Verletzungen oder Infekte, denen sie wenig entgegenzusetzen hatten. Zwischen dem Sich-bewusst-Werden, an der Verletzung, dem Fieber oder dem vereiterten Zahn sterben zu müssen und dem tatsächlichen Tod lag oft nur eine kurze Zeitspanne. Solche akuten Erkrankungen und Verletzungen können heute meist behandelt werden und sind so, zumindest in den Gesellschaften mit hohem und mittlerem Einkommen, in der Regel selten tödlich. In diesen Ländern sterben die Menschen hauptsächlich an Krankheiten, die einen anderen Verlauf nehmen: Sie können typischerweise nicht geheilt, aber durch medizinische Behandlungen oder Lebensstiländerungen in Schach gehalten werden. Erkrankte können mitunter noch viele Jahre mit einer chronischen Erkrankung leben - und oftmals nicht nur mit einer Erkrankung: »If they did not kill you soon, yet other diseases would join them so that instead of living and dying with one disease you might actually live with and have to manage several« (Kellehear 2017, 12).
Multimorbidität wird in einer alternden Gesellschaft zu einer Normalität, ein solchermaßen erkrankter Mensch leidet oft nicht an einer, sondern an mehreren lebensbedrohlichen oder lebenslimitierenden Erkrankungen gleichzeitig. Diese immer größere Normalität verlängerter Sterbeverläufe durch chronische Erkrankungen führte zu einem »neue?(n) Bedarf an Sinnstiftung (...). Mit dem Anwachsen der Zeit, die der oder die Einzelne hatte, um sich auf das Ende des eigenen Lebens vorzubereiten, stieg auch der Bedarf, Antworten auf all jene Fragen und Probleme zu finden, die damit einhergingen« (Greiner 2023, 566), zumal traditionelle Sinngebungsinstanzen oft an Akzeptanz verloren haben und nach neuen gesucht wird.
Ab welchem Zeitpunkt im Verlauf einer chronischen, zum Tode führenden Krankheit betrachten wir Betroffene als sterbend, ab wann betrachtet er oder sie sich selbst als sterbend? Beginnt der Sterbeprozess mit dem Einsetzen der Krankheit oder mit Diagnosestellung, mit dem Einstellen kurativer Behandlung oder mit dem schrittweisen Nachlassen der körperlichen Funktionen? Ein Mensch mit lebenslimitierender chronischer Erkrankung nimmt sich selbst häufig nicht als sterbend wahr, solange er die lebensverlängernden Optionen der Medizin noch nutzen kann. Und wenn die Betroffenen sich, oft erst recht spät in ihrem Krankheitsverlauf, als Sterbende wahrnehmen, sind es ebenfalls die Angebote der Medizin, experimentelle Therapien und Heilversuche oder die Angebote der Palliativmedizin, auf die sie hilfesuchend zurückgreifen. Auch der ärztlich assistierte Suizid kann bei genauerer Betrachtung als medizinische Dienstleistung angesehen werden. Greiner bestimmt als »Arbeitsdefinition« das Sterben als »die Phase des Übergangs zum Tod (...), womit konkret der Zeitraum am Ende des menschlichen Lebens gemeint ist, in dem ein Schwerkranker keine Aussicht auf Heilung mehr hat« (Greiner 2023, 6). Kellehear stellt weniger den medizinischen Aspekt als »Blick von außen« in den Mittelpunkt seiner Definition, sondern das Moment des Sich-bewusst-Werdens über die eigene Situation: »For most people, dying is an alteration of identity based on the knowledge that...
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