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YUNHO
Einen Schritt vor, einen zurück, spulte er immer wieder in seinem Kopf ab.
Mit einem Lächeln auf den Lippen tanzte Yunho leichtfüßig über das Seil, das in schwindelerregender Höhe hing. Die erstickten Gespräche der Zuschauer drangen zu ihm hoch, aber davon ließ er sich nicht beirren.
Einen Schritt vor, einen zurück, so hatte er es etliche Male getan.
Yunho nahm den Geruch nach Popcorn, Schweiß und billigem Parfüm wahr, der sich mit dem Duft des Heus, der von den Ställen herüberwehte, vermischte. Das war bereits die vierte Vorstellung diese Woche, die bis auf den letzten Platz ausverkauft war. Die Menschen im Königreich Scalis mochten es, ihr Geld für Unterhaltung auszugeben. Dafür sahen sie sogar darüber hinweg, wer sie ihnen bot.
Normalerweise wurden Traveler, wie Yunho einer war, in diesem Königreich verachtet. Sie waren fahrendes Volk ohne Heimat. In den Augen der Bewohner waren sie damit unkultiviert, ohne Wertvorstellungen und ohne Sitte. Wilde oder Barbaren. Doch jetzt wollte Yunho all das vergessen. Für einen Moment schloss er die Lider, um sich zu konzentrieren. Das Seil unter ihm schwang kaum merklich und er wusste, was das bedeutete. Als er sie wieder öffnete, erblickte er das wunderschöne Gesicht von Luna.
Ihre dunkelblonden Haare, mit denen er heute Morgen noch gespielt hatte, hatte sie zu einem kunstvollen Zopf geflochten, damit sie ihr nicht ins Gesicht fielen und ablenkten. Ihr schmaler, athletischer Körper steckte in einem eng anliegenden, mit Pailletten bestickten Anzug.
Die Menge unter ihnen klatschte und Luna sah Yunho herausfordernd an. Er liebte diesen Gesichtsausdruck an ihr.
"Bereit?", fragte sie.
Yunho nickte und klopfte noch mal seine in Kreide getauchten Hände zusammen. Die Scheinwerfer waren nun auf die beiden gerichtet. Als wäre es das Leichteste der Welt, gingen Yunho und Luna aufeinander zu. Sie kannten sich seit ihrer Kindheit und vertrauten einander bedingungslos. Hunderte Male hatten sie dieses Kunststück geprobt und vorgeführt.
Seine Finger kribbelten, als er ihre Hand in seine nahm. Später, wenn er allein mit ihr war, würde er sie mit Küssen verwöhnen.
"Ich liebe dich", flüsterte sie, bevor sie ihren Körper anspannte und nach links kippte. Die Zuschauer schrien entsetzt auf - doch Yunho packte Luna an den Armen und ließ sie etwas hinunterrutschen, bis er ihre Handgelenke umfassen konnte und sie an den Händen hielt. Das Seil schwankte leicht unter seinem Gewicht, allerdings hatte er einen sicheren Stand.
Die Menge atmete auf und klatschte. Yunho sah den zufriedenen Blick des Zirkusdirektors, der von der Manege aus nach oben schaute. Yunho und Luna waren die Hauptattraktion. Mit einem kraftvollen Schwung zog er sie wieder hoch. So vollführten sie noch einige Kunststücke auf dem dünnen Seil, das Yunho eine Heimat war.
Der Applaus der Besucher ebbte auch dann nicht ab, als Yunho und Luna die Leiter hinabstiegen und sich mitten in der Manege mit geschmeidigen Verbeugungen bedankten. Doch die Show war noch nicht zu Ende - nun würde das Highlight folgen.
Luna verließ das Zelt, um sich schnellstmöglich in einem der bunten Wohnwagen umzuziehen, Yunho folgte ihr bis zum Manegenrand. Er ließ seinen Blick über die Zuschauer schweifen, die an den Lippen des Direktors hingen. Bald würden sie ihren Augen nicht mehr trauen.
Yunhos Freund stand am Ende der Tribüne. Sie tauschten kurz Blicke und Ace deutete mit dem Zeigefinger nach oben und packte ein Seil.
Um nicht die Aufmerksamkeit der Besucher auf sich zu ziehen, schlenderte er zu seinem Freund.
"Ihr konntet ja eure Blicke nicht voneinander abwenden", sagte dieser und grinste.
"War es etwa so offensichtlich?" Yunho kratzte sich verlegen am Hinterkopf.
"Ich bin dein bester Freund. Wenn mir so was nicht auffällt, wem dann?" Ace legte ihm seinen Arm um die Schultern und zog ihn mit sich. "Wir müssen uns mit dem Seil beeilen." Ace setzte seine seriöse Miene auf.
Flink wie ein Affe stieg Ace das Gerüst hoch, welches das Zelt stützte. Er befestigte das Seil am höchsten Punkt und warf es Yunho dann gekonnt zu, der unten wartete.
Auch er kletterte hoch. Während er mit dem Seil hantierte, brach Applaus aus und Luna kam hinter dem Vorhang hervor. Yunho blieb für einen Moment die Luft weg, so atemberaubend sah sie aus. Sie trug ein weißes Kleid, das über und über mit kleinen Spiegelpailletten bestickt war. Sie fingen das Licht ein, brachen es und warfen es in hundert verschiedenen Farben zurück. Luna drehte sich für die Zuschauer, die aus dem Staunen nicht mehr herauskamen.
Ace bedeutete Yunho mit einer Geste, sich zu beeilen. Nur widerwillig löste er sich von Ihrem Anblick und machte das Seil fest.
Heute Nacht wird sie das Kleid nur für mich ausziehen.
"Und nun, meine Damen und Herren, der Höhepunkt des Abends", verkündete der Direktor.
Luna hatte sich einen Gürtel um die Taille geschnallt, an dem Ace zwei kleine Karabiner, die am Ende des Seiles hingen, befestigte. Er gab Yunho ein Zeichen, der daraufhin an einem dicken Strick zog. Luna erhob sich in die Luft und schien zu schweben. Bunte Muster wurden aufgrund ihres Kleides und den Schmucksteinen gegen das Zelt geworfen. Yunho beobachtete, wie die Augen der Kinder immer größer wurden. Er sah auch die Blicke der Männer und etwas in seinem Magen rumorte. Er wusste um Lunas Schönheit und wie glücklich er sich schätzen konnte, dass sie sich ausgerechnet in ihn verliebt hatte.
Luna kam oben an der Plattform an. Jeden Moment würden die Zuschauer ihr unglaubliches Können bestaunen - einem Wunder gleich. Das Seil, auf dem sie tanzen sollte, war aus einem besonderen Material gefertigt, es passte sich der Umgebung an und so sah es aus, als würde sie durch die Luft gehen. Die Traveler hatten dieses Seil im Nachbarkönigreich Dorado anfertigen lassen. Dort waren die Technologien und auch der Wissensstand weit fortgeschritten. Im Gegensatz zu Scalis, in dem sich seit über zweihundert Jahren nichts verändert hatte.
Luna löste die Karabiner und tanzte wie eine Ballerina in den Lüften. Yunho war so konzentriert auf Luna und ihre Sprünge und Kunststücke, dass er Ace' Stimme zu spät vernahm.
"Yunho, verdammt, das Seil!", schrie dieser und blickte zum Zeltdach.
Sofort schoss Yunhos Blick nach oben - Ace hatte recht. Das Seil, das er nicht überprüft hatte, weil er von Lunas Anblick abgelenkt war, löste sich aus den Windungen.
"Scheiße, wenn sie fällt, wird sie es nicht überleben!"
"Hol das Sprungtuch!", wies Yunho seinen Freund an. "Ich versuche, noch rechtzeitig nach oben zu kommen." Seine Hände waren schwitzig, in seinem Kopf hämmerte es und sein Herz raste.
Yunho hatte gerade die dritte Sprosse auf der Leiter erreicht, als er ein Geräusch hörte, das ihm durch Mark und Bein ging. Das Schreien der Menge bestätigte ihm, dass etwas schiefgegangen war.
Die Szenerie verlangsamte sich.
Yunho drehte sich um. Lunas schmaler Körper lag inmitten der Manege. Blut tränkte den Sandboden. Ohne auf das zu achten, was um ihn geschah, stieg er hinunter und rannte los. Er kam mit den Knien vor Lunas Körper auf.
Von irgendwo rief Ace: "Verdammt! Holt den Arzt!"
Genau, wir haben einen Arzt, der uns schon so oft geholfen hat, versuchte Yunho, sich zu beruhigen.
"Luna", flüsterte er und wusste nicht, wo er sie berühren sollte, ohne ihr weitere Schmerzen zuzufügen. "Es wird alles wieder gut."
Mit ihren blauen Augen sah sie ihn liebevoll an. "Ich denke nicht." Ihre Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. Blut rann ihr aus den Ohren und dem Mundwinkel.
Er ergriff ihre Hand. "Du kannst mich nicht verlassen."
Ein flüchtiges Lächeln umspielte ihre blassen Lippen, doch im nächsten Moment hustete sie. Blut spritzte ihm auf Kleidung und Gesicht. Verzweifelt bemühte er sich, ihre Blutungen zu stillen.
Ehe er dazu kam, kniete sich der Arzt neben ihn und hielt seinen Handrücken gegen Lunas Lippen. "Sie atmet nur noch schwach."
"Tu etwas!", rief Yunho völlig außer sich.
"Wahrscheinlich ist ihre Halswirbelsäule beschädigt." Er tastete sie weiter ab. "Hier sind zwei Rippen gebrochen und womöglich in die inneren Organe eingedrungen. Wir können sie nicht bewegen und mir fehlen die Geräte, um sie zu operieren, und das nächste Spital ist mehrere Tagesfahrten mit der Kutsche entfernt."
"Also willst du sie hier sterben lassen?" Yunho spürte eine leichte Berührung an seinem Handgelenk und sah zu Luna hinunter. Sie wirkte so zierlich und verletzlich, wie er sie nie wahrgenommen hatte. "Wir können es zum Spital schaffen, es wird alles gut", sagte er zu ihr.
"Ich kann meine Beine nicht mehr spüren und das Atmen fällt mir immer...