Kapitel 1
Für die höllischen Qualen, die nach dem Schicksalsjahr 1634 dem Lande erwuchsen, gab es keine irdischen Worte, die die Schrecken nur annähernd zum Ausdruck gebracht hätten. Der Mensch ertrug sie schweigend. Es muss für ihn ein kaum zu ertragender Zustand gewesen sein, sein Dasein in einem Land zu fristen, das schutzlos den marodierenden Söldnerheeren ausgeliefert war.
Jeder neue Tag konnte das Unheil bringen.
Sicher, die Seele des Menschen lässt sich bis ins Bodenlose unterdrücken. Dabei beginnt die Liebe jedoch langsam zu sterben, und Hass breitet sich aus. Fortan beschränkt sich der menschliche Eifer ausschließlich auf sein instinktives Überleben. Alsbald überwuchert der Verfall alles Menschliche, und es erwächst aus ihm das einfältigste Biest.
Doch den Kriegstreibern schien es nur recht zu sein .
Maria Gauger machte wie immer ein böses Gesicht. Sie langte mit dem Schürhacken über den Tisch, stieß ihn Genophea in die Rippen und knurrte finster: »Was hat das unnütze Weib? Es schläft uns glatt im Sitzen ein!«
Genophea schreckte von ihrem Stuhl hoch und starrte in die Gesichter derer, die sich rings um die Musschüssel in der Mitte des Essenstischs versammelt hatten. Ihr rotes Haar, das sie heute früh zu einem Zopf zusammen gebunden hatte, wirbelte durch die Luft.
Der Stich mit dem Schürhacken hatte sie aus dem schönsten Tagtraum gerissen. Noch immer standen die feinen Härchen auf ihrem Unterarm wie wachsende Grashalme ab. Für einen Moment hatte sie sich in Andreas' Armen wieder gefunden. Seine Hände, die manchmal ganz sanft erforschten, aber auch fordernd zugreifen konnten, waren plötzlich überall. Wieder raubten seine Küsse ihr den Atem. Dreieinhalb Jahre war er fort gewesen, ehe er plötzlich wieder vor ihrer Tür gestanden hatte. Doch ihre letzte Begegnung lag schon eine Woche zurück. Das Datum hatte sich fest in ihr Gedächtnis eingebrannt, und sie zählte jeden Tag, der ohne ihn vergehen musste: Es war der 22. März zu Gründonnerstag gewesen.1
Seitdem war Andreas nicht wieder erschienen.
Nein, sie dachte nicht im Traum daran, ihre Waffen zu strecken. Stattdessen bot sie der streitsüchtigen Hausherrin mutig die Stirn. Sie biss die Zähne fest aufeinander und rümpfte die Nase, auf die die Frühlingssonne Sommersprossen getupft hatte. »Rossmucken« hatte Christof2 ihre braunen, ungeliebten Pigmentflecke immer genannt und seine Schwester ausgelacht, wenn sie sich dafür schämte. Aber nein, Andreas hatte sich nie daran gestört.
Tapfer hielt Genophea den funkelnden Augen stand. Wie zwei Kuckucksweibchen, die sich um das Nest stritten, standen sie sich am Tisch gegenüber, Nase an Nase, und lugten sich aus. Genophea stemmte ihre Arme breit auf die Tischplatte, sie zitterte am ganzen Leib und merkte nicht, wie sich ihre Fingernägel durch die Kraft ihrer Hände in das Holz des Tisches eingruben.
Jörg sah es ihr an, dass sie der bösen Hexe, wie Genophea seine Tante immer nannte, am liebsten die Augen ausgekratzt hätte. Deshalb zog er sie auf den Stuhl zurück und strich beruhigend ihren Handrücken.
Nein, so betagt, wie Maria aussah, war sie beileibe nicht. Sie war immer noch gebärfähig, denn manche Frauen ihres Alters brachten tagtäglich gesunde Kinder zur Welt. Sie war um einiges jünger als ihr Mann, Sebastian, »Baste«, Gauger, der einst so stolze Richter am Ort, der nun mit gesenktem Kopf im Brei rührte. Erst das Leid der letzten Jahre hatte Maria ergrauen lassen. Sie versuchte Baste aufzurütteln, doch nicht einmal, als ihr verbittertes Gesicht weitere wütende Falten riss, machte er Anstalten, sich einzumischen.
»Was .?«, stammelte Maria. Die Worte blieben ihr im Halse stecken. Sie hustete staubig und zischte, als sie wieder bei Stimme war: »Was döst sie . dieses . dieses undankbare Geschöpf? Ist es nicht die Höhe, dass sie sich jetzt schon auftürmt, als ob sie der Herr im Hause wär?« Immer noch erhoffte sie eine Regung von ihrem Mann. Ihre knochige Faust schlug auf den Tisch. »Baste, so sag du doch endlich auch mal was!«
»Hm?«, gab dieser brummig zur Antwort und durchbohrte Maria mit finsteren Augen. Als er sah, dass sie nicht einlenken würde, hob er genervt seine buschigen Brauen.
Maria zupfte an ihrem Dutt und sah mit Entsetzen, wie der Gatte wieder hungrig im Getreide-Mus-Stampf löffelte. Sie schaute ringsum in die Gesichter. Dabei traf ihr nach Zustimmung heischender Blick den ihres Neffen. Doch auch Jörg hob nur unschuldig die Achseln und wich ihr aus. Dabei kreuzte er Genophea, die erschöpft das Haupt senkte, die Lider schloss und in den Fingern wühlte. Über ihre Wangen bahnten sich stumme Tränen. Sie spürte die Hitze von Jörgs dunklen Augen, die sehnsüchtig über sie hinwegglitten, aber sie schüttelte sie mit einem beherzten Blinzeln ab. Das half jedoch nicht gegen seine kraftvolle Hand, die sich um die ihrige krallte, als wäre sie sein Besitz! Dem heftigen Druck nach wollte er sie erst gar nicht mehr loslassen.
Endlich rührte sich Baste. Er sprach mit vollem Mund. Genophea verstand nur die Hälfte und während sie ihn forschend beobachtete, walkte sie mit den Zähnen die Unterlippe. Manchmal dachte sie, Baste habe in all den Jahren, in denen er sein ganzes Hab und Gut verloren hatte, auch einen Teil seines Verstandes eingebüßt. Eigentlich war er ja ein gefühlloser, machtbesessener Mensch, überzeugt davon, mit Geld die Dinge zu seinen Gunsten lenken zu können. Aber die Macht, die ihm schließlich alles entrissen hatte, war ungleich größer. Nun war auch er ein Spielball dieser weltlichen Interessen geworden, was ihm anscheinend ein Gefühl des Ausgeliefertseins und der Angst bereitete.
»Ich glaube, es reicht jetzt - seht ihr denn nicht, sie hat ihr unverfrorenes Verhalten längst eingesehen!« Johannes, Bastes älterer Bruder, war ein Hüne. Sein Gesicht wurde von einer breiten, platt gedrückten Nase dominiert. Wie immer saß er bucklig da. Seine Bewegungen wirkten plump und ungelenk. Doch jetzt hatte er genug gehört und sprach ein Machtwort. Dabei schlug seine fleischige Hand erstaunlich kraftlos auf den Tisch, ohne dass er dabei Baste, der ungestört weiterkaute, aus den Augen verlor. Johannes besaß eine von Grund auf gutmütige Seele, weshalb der machtbesessene Sebastian ihm schon immer überlegen gewesen war.
Doch Johannes hatte im Gegensatz zu seinem Bruder, der bislang nur Mädchen zustande gebracht hatte, längst zwei Söhne gezeugt, von denen der jüngste, der wie sein Vater Johannes hieß, nicht zu seinem eigenen Vater, sondern vielmehr zu Sebastian aufsah. Es hatte den Anschein, als würde der junge Johannes sich zu dessen genauem Ebenbild entwickeln. Stets hatte er Genopheas Bruder, der im Kampf um die Dettinger Schanzen gefallen war, alles geneidet. Sogar seine zarten Bande zu der stummen Magdalena3. Dieselbe Schadenfreude empfand er auch gegenüber Genophea. Seine bleichen Backen glänzten feuerrot, und seine Lache verbarg er hinter vorgehaltener Hand.
Jörg strafte den Bruder mit einem schneidenden Blick.
Anna war das einzige Mädchen und damit das Nesthäkchen in Johannes' Kinderschar. Sie mochte Genophea und ertrug die Feindseligkeit gegen sie nicht länger. Sie zog ihre niedliche Stupsnase faltig, die sie so aussehen ließ, als könnte sie keinem ein Haar krümmen - und trat Johannes heftig gegen das Schienbein. Eigentlich sah sie ja wie ein Junge aus, denn um den gefürchteten Vergewaltigungen zu entgehen, hatte man sie in Männerkleider gesteckt. Annas Fußtritte schienen Johannes nicht weiter zu stören, was die junge Gaugerin an seinem fiesen Grinsen merkte. Sie streckte ihm deshalb die Zunge heraus.
Johannes hingegen ließ sie abblitzen. Erst der tadelnde Blick der Tante stoppte seine Häme, und er verschluckte sich an seinem Husten.
Maria blieb unversöhnlich. Für sie war Genophea der Grund für die ständigen Streitereien am Tisch. Jede Regung von Genophea wurde missverstanden, und Maria nahm sie zum Anlass für weitere Sticheleien gegen sie. Ihre Augen schraubten sich förmlich aus ihren Höhlen und starrten auf Genophea, die den randvollen Holzlöffel abermals hungrig zum Mund führte. Wieder wandte sie den Blick hilfesuchend zu Jörg und versuchte, wenn es schon nicht bei ihrem Mann gelang, sich wenigstens seine Allianz zu sichern.
»Jörg, guck sie dir doch an - die dürre Geiß! Erst rührt sie tagelang keinen Bissen an, und jetzt frisst sie uns die Haare vom Kopf . diese . diese undankbare .«
Genophea ließ angewidert den leergegessenen Löffel auf den Tisch fallen und würgte den letzten Bissen hinab. Nein, sie wollte das fehlende Wort gar nicht mehr hören und wich gegen die Stuhllehne zurück. Irgendetwas Böses würde schon folgen, das wusste sie. Maria spie Galle aus, und ihre eklige Spucke legte sich wie feiner Nebel an einem kalten Novembertag auf Genopheas Unterarm. Doch der Fluch, mit dem sie die Sierschtochter belegen wollte, kam ihr einfach nicht über die Lippen. Darum startete sie einen neuerlichen Versuch: »Sag mal, schämst du dich nicht? Schau dir den Johannes an, den armen Buben - der muss noch kräftig wachsen, dass er zum Mann wird! Los, lauf in die Küche und hol den Mustopf vom Herd, damit er ihn auskratzen kann!« Sie klatschte in die Hände. »Na wird's bald - hopp, hopp!«
Jung Johannes rekelte sich wie ein stolzer Gockel auf seinem Stuhl und grinste der Webertochter höhnisch nach.
Die hingegen war erleichtert und rieb sich auf dem Weg zur Küche die Tränen aus dem Gesicht. Sie trödelte...