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Die Pfarrerstochter von Hochdorf
Etwas abseits vom letzten Gehöft, auf einer blühenden Wiese, hatten sich die Töchter des Dorfpfarrers niedergelassen. Anna Catharina hatte die Beine untergeschlagen. Die zweitälteste Tochter von Magister Haug war gerade 16 Jahre alt geworden. Ungeduldig sah sie zum Hängenloh hinauf, dort führte die Kirchheimer Landstraße von Notzingen herunter. Hin und wieder blickte sie bange zurück. Zum Glück war vom Pfarrhaus nur das rote Ziegeldach zu erkennen und so waren sie wenigstens für eine gewisse Zeit vor den wachsamen Blicken der Eltern und der Dörfler geschützt.
Am allerliebsten genoss Anna Catharina die Zweisamkeit mit Marietta, ihrer jüngsten Schwester, die gerade vier geworden war. Marietta war ein Naturell von ausgesprochener stiller Zufriedenheit. Auch hatte sie für diejenigen, die ihr freundlich begegneten, stets ein bezauberndes Lächeln übrig. Sie schien mit sich und der Welt, die sie umgab, im Reinen zu sein und flocht gedankenverloren an einem Blumenkranz.
Im Gegensatz zu ihr war Anna Catharina unruhig, sie fürchtete ständig, bei allem, was sie tat, beobachtet zu werden. Und so geisterte der innere Aufpasser durch ihre Gehirnwindungen. Eigentlich war es ja Vaters Stimme, die da zu ihr sprach. Was er wohl sagen würde, wenn er die Geschwister der Muße frönend antreffen würde? Anna Catharina konnte es sich denken. Wie der Teufel das Weihwasser, so scheute der Vater den Müßiggang, der seiner Auffassung nach die Tür in ein lasterhaftes Leben öffnete. Dabei war er nicht etwa ein unfairer Mensch. Nein, denn was er von seinen Kindern verlangte, das lebte er ihnen auch vor. »In der Muße wuchern die tollsten Gedanken«, hatte er heute Morgen noch geschimpft. Wie so oft hatte Anna Catharina den Worten nicht den nötigen Ernst beigemessen, denn bei aller Strenge wusste sie doch, wie sie ihn mit einem Lächeln oder einem Blick beschwichtigen konnte. Anna Catharina war wie ein Schmetterling, der die Freiheit mehr liebte als alles andere. Sie bemitleidete die armen Bauern, die von den Jahreszeiten und der Stundenglocke getrieben wurden. Sie hingegen konnte die Süße des Lebens noch schmecken, so wie jetzt, wo ihr der laue Spätsommerwind Düfte von reifem Obst und gemähtem Gras um die Nase strich.
Pünktlich begann das Glockengeläut. Schon seit Anna Catharina denken konnte, schlug man um zwölf die Türkenglocke1 an. Davon abgelenkt schnellten die Blicke der Mädchen zum Kirchturm hinauf. Nein, Anna Catharina verschwendete keinen einzigen Gedanken an die bedrängte Stadt am anderen Ende der Welt. Das Schicksal Wiens, ganz gleich, welches es auch war, konnte für das ferne Württemberg doch nicht von Bedeutung sein, daran glaubte sie fest. Ihre einzige Sorge galt dem Besucher aus Deizisau, der sich heute angekündigt hatte, und natürlich Mardochai, dem jüdischen Händler, der längst hätte hier sein müssen.
Die Zeit verrann, schon war es fünf nach zwölf und die Glocken verstummt. Noch war das Hundsgespann des Juden nicht in Sicht. Eigentlich war er pünktlich. Im Sommer kam er dienstags, einmal im Monat, lange vor dem Zwölf-Uhr-Läuten.
Nervös wühlte Anna Catharina in ihrer Schürzentasche. Sie fühlte den kleinen, silbernen Handspiegel, den sie immer bei sich trug. Der Spiegel war ein Geschenk von Mutter gewesen, die sich des Öfteren über den Spross, der etwas aus der Art geschlagen war, den Kopf zermarterte. Sie wusste genau, was Anna Catharina gefiel. Der Vater ahnte davon natürlich nichts. Nun nahm Anna Catharina das verbotene Utensil mit dem kunstvoll geschmiedeten Griff zur Hand und hielt es vors Gesicht. Wie gerne sie sich darin bewunderte! Es war ihr durchaus bewusst, dass der Schöpfer ihr eine Schönheit beschert hatte, die über das gewöhnliche Maß hinausreichte. Dabei war es ein Jammer, sie nicht zeigen zu dürfen und die blond gekräuselten Haare unter der strengen Ohrenhaube verbergen zu müssen. Sie zupfte einzelne Haarfransen darunter hervor. Plötzlich hielt sie inne, da Wagenräder ratterten. Rasch schob Anna Catharina den Spiegel ein und sprang auf. Sie hielt Ausschau und strich fahrig die weiße Schürze zurecht. Doch weit und breit war nirgends ein Hundsgespann zu sehen. Nur eine Eselkarre kam näher. Ein schmächtiger Mann mit einem runden Spitzhut lenkte sie. Anna Catharina erkannte ihn sofort. Es war Mardochai, der Jude, der ihr überschwänglich entgegenwinkte. Was für ein blechernes Getöse! Marietta riss staunend die kindlichen Augen auf und drängte sich schutzsuchend an den Rockzipfel der großen Schwester.
Das Gefährt blieb stehen. Mardochai hob den runden Hut und verneigte sich. »Schalom, die Damen!«, grüßte er fröhlich. Dann stieg er vom Kutschbock, um die hintere Pritsche zu öffnen.
Ein Hüne war der Jude wahrlich nicht, ganz im Gegenteil. Anna Catharina konnte ihm leicht über die Schulter sehen, während er in seinen Sachen wühlte.
»Ich handle neuerdings mit Kupfergeschirr und Alteisen«, erklärte Mardochai, ohne aufzusehen. »Auch mit Weinstein und Wachskerzen ., wenn du magst .« Zweifellos besaß der Jude nicht nur eine ausgesprochene Spürnase für nachgefragte Waren, er war auch ein Energiebündel, der es immer wieder schaffte, Interesse zu wecken, wo eigentlich keines existierte.
»Nur Blechgeschirr und Eisenwaren?«, fragte die Pfarrerstochter enttäuscht und zog die Worte wie eine zähe Masse in die Länge. Sie hatte sich schon so auf die neuesten französischen Stoffe gefreut, die Mardochai normalerweise mitbrachte. Überhaupt verwunderte sie, wie er sich in dem Gerümpel zurechtfinden konnte.
»Plus Weinstein und Wachskerzen«, fügte Mardochai penibel erklärend hinzu. »Ach, Kindl, du hast den ganzen Schtat doch gornischt nötig. Ober ich will mol sen, ob ich woß schejnes finden kun.«
Da er offensichtlich nicht das fand, was er suchte, runzelte er die Stirn. Doch beim näheren Durchsehen einer Kleidertruhe, färbte sich seine Stimme mit dem gewohnt triumphierenden Klang. »Was sogt man dazu ., ejne schicke Schnürbrust.« Er zerrte ein Brokatkorsett hervor und hielt es vor seinen Bauch. Anna Catharina wollte nach dem Kleidungsstück greifen, doch Mardochai entzog es ihr. »Nejn, wenn ich es mir so recht überlege«, er tippte mit dem Zeigefinger nachsinnend auf die Unterlippe, »ist das nicht das Richtige für ein braves Christenmädchen. Das Gepränge ist ein halbes Vermögen wert und unbezahlbar für dich!« Als er das Korsett in die Truhe zurückgequetscht hatte, griff er mit der Linken in seine Brusttasche hinein. Dabei sah er die Pfarrerstochter neckend an. »In dieser Hand hab ich wos, was viel besser zu dir passen kennte. Ich sog dir, es ist ganz nach deinen Wuntschn und gar nicht teuer. Es kostet dir eben mal 18 Kreuzern und wenn du das Geld hast, will ich es dir gerne losn.«
Anna Catharina hatte rote Gesichtsflecken bekommen, das passierte immer, wenn sie aufgeregt oder wütend wurde. Mardochai machte es aufreizend spannend. Er kramte ein Bündel bedruckter Papiere aus der Manteltasche, das er der Pfarrerstochter unter die Nase fächerte. Als jene zugreifen wollte, zog er die Hand prompt zurück. »Normalweise trägt die Pandora2 die französische Staatstoilette durch ganz Europa«, erklärte er. »Ober die Franzosen sind findige Leute. Eine Zeitung, die sich fast jeder leisten kun, ist doch das Allerbeste. Na, Kindl, hast du vielleicht Lust?« Schon hielt er die rechte Hand auf. Das Blatt verstaute er solange unter dem Mantel.
Anna Catharina tastete nach ihrem Beutel, der an einer Kordel am Kleid hing. Während sie im Beutel kramte, verlor sie Mardochai keine Sekunde aus den Augen. Endlich konnte sie ein paar Münzen greifen und in die winkende Hand des Juden legen.
»Das sind aber nur zwej!«, beanstandete der Händler und wog abschätzend den Kopf.
»Leider habe ich nicht mehr. Aber da wir gute Freunde sind .« Mit den schön geschwungenen Wimpern blinzelnd, neigte sie den Kopf zur Seite und grinste schelmisch. Für einen Moment verschwammen die Rollen und man konnte nicht mehr erkennen, wer von beiden der Gewieftere war.
»Und du glaubst wirklich, das reicht? Ich meine, die bejden Sechs-Kreuzer-Stücke in Verbindung mit unserer Freundschaft?«
Anna Catharina behielt den Hundeblick bei. Auf diese Weise schaffte sie es normalerweise, den Vater zum Einlenken zu zwingen. Und wie konnte es anders sein, auch bei Mardochai war sie erfolgreich, denn dessen Faust hatte sich längst behütend über den Geldstücken geschlossen. Bewundernd nickte er und lobte: »Jo, ejns muss man dir wirklich losn. Du verstehst wos vom Geschäftemachen.«
Anna Catharina platzte vor Neugierde, als sie die Errungenschaft endlich in den Händen hielt. Der Krämer bestieg den Kutschbock und sah zufrieden auf die beiden herab. »A schejnen Dank, Mejdl«, grüßte er die Ältere und rief der Jüngeren ein »sej gesund« zu. Dann schwang er die Zügel und der Wagen schwankte davon. Marietta blickte ihm nach. Man hörte Mardochai ein hebräisches Lied trällern, das aber allmählich unter dem blechernen Klappern verklang.
Derweil studierte Anna Catharina das Deckblatt und raunte die groß aufgedruckten Lettern gebrochen nach. »Mercure Galant.« Sie reffte die Stirn, denn der Schriftzug ergab für sie keinen Sinn. Mit einem Male löste sich die Begeisterung in Enttäuschung auf. »Was soll ich damit nur anfangen?«, maulte sie. »Ich kann das Zeug höchstens zum Feuermachen oder auf dem Abort verwenden«, und sann die Landstraße zum Talbach hinab, wo Mardochais Karren längst verschwunden war. Unbeachtet ließ sie die Seiten durch die Finger...
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