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Gerald Murphy stützt seinen schlanken Körper auf einem Rechen ab. Einen großen Teil des Strands von La Garoupe hat er schon von Algen und Treibgut befreit. Täglich kommt er hinunter in die kleine Bucht, um den Strand präsentabel zu machen - für seine Frau Sara, für seine drei Kinder Honoria, Baoth und Patrick und für seine Gäste.
Er müsste es nicht tun. Der Strand gehört ihm nicht, er ist öffentlich zugänglich. Seine Familie und Freunde könnten auch in seinem riesigen, von mehreren Gärtnern gepflegten Garten entspannen, der in der Mitte des Caps oberhalb des Strands liegt. Ein 7500 Quadratmeter großes Grundstück, in dessen Herzen eine neu renovierte Villa steht, müsste ausreichen, um ein paar Decken auszubreiten und Liegen aufzustellen. Aber Gras ist eben nicht Sand. Gemüsebeete ersetzen kein Meer. Und wenn es schon eine kleine, menschenleere Bucht gibt, nur wenige Gehminuten vom Garten entfernt, wäre es wahrlich dumm, diese nicht zu nützen.
Gerald zieht mit dem Rechen saubere, gerade Linien in den Sand. Seine Bewegungen sind routiniert, haben geradezu etwas Meditatives an sich. Doch der Sohn eines renommierten, in New York ansässigen Lederwarenhändlers ist nicht der spirituelle Typ. Er ist ein Ordnungsliebhaber; ein Mann, der in Listen, Karten und Tagesplänen denkt, als würde er ein Skript für sein Leben schreiben.
Punkt 1 auf der Tagesordnung: Strand rechen.
Näher ist der achtunddreißigjährige Mann aus Boston der Landschaftsplanung, die er für eine kurze Zeit in Harvard studierte, nicht gekommen. Auch sein Yale-Studium braucht er für das Leben hier auf dem Cap nicht wirklich. Die Zeit an der Universität ist eine Phase in seinem Leben, an die er sich ungern erinnert. Gerald war weder ein herausragender Student noch Sportler und musste durch gesellschaftliche Aktivitäten auf sich aufmerksam machen: Er wurde Mitglied von Delta Kappa Epsilon, kurz DKE, der exklusivsten Studentenverbindung auf dem Campus. Auch als Manager der studentischen Schauspiel- und Musiktruppe Apollo Glee Club verschaffte er sich Ansehen. Er fand viele Bekanntschaften, schloss aber kaum Freundschaften und fühlte sich fremd. Vergeudete Jahre, findet er, wenn er jetzt, Jahre später, an das Studium an der amerikanischen Ostküste zurückdenkt.
Und doch verdankt er sein Glück hier, an diesem kleinen Strand von La Garoupe, in gewisser Weise Yale. Es ist schwer zu sagen, ob sich seine Wege sonst mit denen von Cole Porter gekreuzt hätten, jenem jungen, talentierten Musiker, den er für den Glee Club gewann. Ob sie jemals so gute Freunde geworden wären, dass sie gemeinsam auf Urlaub fahren würden?
1922 macht Cole gerade seine Anfänge als Musiker und ist noch weit entfernt von seinen großen Erfolgen am Broadway. Seinen Hang für ausgefallene Urlaubsziele hat er bereits und er entscheidet sich in diesem Sommer für einen Aufenthalt in Südfrankreich. Er kennt die Gegend aus seiner Zeit als Soldat im Ersten Weltkrieg. Das Cap d'Antibes ist eine wesentlich klügere Wahl als jene der Murphys. Gerald und Sara folgen in diesem Sommer, ganz entgegen ihrem sonst so avantgardistischen Stil, der Masse. Wer in Paris etwas auf sich hält, "übersommert" und verbringt die heißen Monate am Ärmelkanal. Die Normandie ist die französische Version von New Yorks Hamptons - ein Ferienparadies der Gutsituierten am Ostzipfel von Long Island, das Gerald und Sara beide nur zu gut aus Jugendjahren kennen. Saras Vater, Frank Wiborg, hat schon früh ein riesiges Anwesen in dieser vielversprechenden Sommerdestination erworben und Gerald war ein häufiger Gast der Wiborg-Schwestern. Der Unterschied zwischen den Hamptons und der französischen Atlantikküste ist unübersehbar: In der Normandie sind die Chancen auf ungetrübten blauen Himmel, wärmende Sonnenstrahlen und ruhiges Meer deutlich geringer als an den amerikanischen Ufern.
Honoria, viereinhalb Jahre alt, Baoth, drei, und Patrick, noch nicht einmal zwei, werden mit Eselreiten und Sandburgbauen trotz wolkenverhangenem Himmel bei Laune gehalten. Doch wenn es am Strand zu regnen und zu winden beginnt, fällt selbst den größten Optimisten Urlaubsstimmung schwer. Wie gerufen kommt da die Einladung von Cole und seiner Frau Linda aus Südfrankreich: Wer sagt schon Nein zu einer Urlaubswoche umgeben von Palmen, Meer und Sonnenschein?
Die meisten. In der Sonne sitzen und schwitzen ist Anfang der 1920er-Jahre nicht chic. Demzufolge ist die Côte d'Azur im Sommer nicht chic. Zwar haben sich die Zentren Cannes, Nizza und Monte Carlo schon als Touristendestinationen etabliert - allerdings nur während des Winters. Die Hivernants, überwiegend Engländer, fliehen spätestens Ende April, wenn das Quecksilber im Thermometer steigt, zurück zu ihren eigenen kühlen Temperaturen.
Die Murphys fühlen sich am Mittelmeer, das so viel freundlicher wirkt als der stürmische Ärmelkanal, auf Anhieb wohl. Selbst wenn die Einheimischen über die sonnenhungrigen Amerikaner die Stirn runzeln und den Kopf schütteln. Fou. Verrückt. Bête. Dumm.
In den frühen 1920er-Jahren ist Antibes ein verschlafener, weitgehend unbekannter Ort. Wenn man den Namen gehört hat, dann vielleicht im Zusammenhang mit Napoleon, der hier gelandet war, nachdem er seinen Verbannungsort, die Mittelmeerinsel Elba, 1815 verlassen hatte.
Viel zu bieten hat das Fischerdorf nicht: einen Bahnhof, einen Marktplatz und eine zitronengelbe Kirche. Ein Kreuz und Quer aus engen Gassen, in denen sich pastellfarbene Häuser aneinanderreihen, vor den Fenstern prall bepflanzte Blumenkästen mit den buntesten Blüten. Pittoresk, aber langweilig und abgeschieden. Wer von Antibes aus telefonieren will, muss dies während begrenzter Stunden tun: In der Telefonzentrale genießen die Mitarbeiter eine mehrstündige Mittagspause, pünktlich um 19 Uhr ist Feierabend. Zu viel Unterhaltung darf man sich auch nicht erwarten: Das Kino öffnet nur einmal in der Woche die Pforten für all jene, die bereit sind, für einen neuen Film den muffigen Geruch im Saal zu ertragen.
Auf dem Cap d'Antibes, der Halbinsel südwestlich des Ortes, weilt der Luxus: Eine Handvoll mehr oder weniger schlichter Villen steht hier. Das Château de la Garoupe, in dem sich die Porters eingemietet haben, zählt zu letzteren: ein riesiges Schloss im Besitz einer englischen Lady, das auf einem weitläufigen Grundstück steht - samt Weingärten und Pfaden, die direkt hinunter zum Meer führen. Wie überall lebt Cole Porter, Spross einer wohlhabenden Familie aus Indiana und einer der reichsten Studenten in seinem Jahrgang, auf großem Fuß.
Es ist nicht das riesige Anwesen, das Gerald Murphy bei seinem ersten Besuch vor vier Jahren fasziniert hat, sondern ein winziger Flecken Dreck. Ein kleiner Strandabschnitt, keine 300 Meter lang, der übersät ist mit Algen und Seetang, an manchen Stellen sogar bis zu einem Meter tief. Zunächst also greift Gerald zum Spaten anstatt zum Rechen. Gemeinsam graben Cole und er einen Platz frei, groß genug, um ein paar Decken auszubreiten und sich an diesem verlassenen Ort, der sich wie das Ende der Welt anfühlt, der Sonne hinzugeben. Kommen einheimische Fischer vorbei, schütteln sie noch heftiger die Köpfe. Eine Freizeitbeschäftigung, bei der man sich zunächst einölt und dann in den Sand legt, um wie ein Entrecote zu brutzeln, ist zu dieser Zeit nicht angesagt. Zwar geben sich schon einige Skandinavier und Deutsche dem Sonnenbaden hin, aber in Frankreich braucht es ein prominentes Vorbild, damit dieser Zeitvertreib à la mode wird. Erst als die zierliche Coco Chanel ein Jahr später von der Jacht eines reichen Herzogs an Land geht, strahlend schön und braun gebrannt, löst sie den Sonnenhunger an der Küste aus.
Die fortschrittlichen Murphys reiben sich im Sommer 1922 unbekümmert mit Kokosöl ein. Sie trinken Wein, spielen Rollenspiele und machen Gymnastik auf "ihrem" kleinen Strand. Am Ende ihres Aufenthalts wissen sowohl Gerald als auch Sara, dass der Urlaub in diesem Paradies ihr Leben verändern wird. Sie wollen hierhergehören.
Cole Porters Herz gewinnt Venedig für sich. Während er am Lido ein extravagantes Palais und Gondolieri mietet, kehrt die Familie Murphy alleine nach Antibes zurück. 1923 ist ihre Unterkunft eine Spur weniger luxuriös als das mondäne Château de la Garoupe. Aber das Hôtel du Cap, nur etwas weiter die Straße entlang, mit direktem Blick aufs Meer, der von einer majestätischen Allee freigegeben wird, eignet sich für die Murphys ebenso gut, zumal sie es fast für sich alleine haben.
Bislang hat der Besitzer, Antoine Sella, sich selbst und seinen Angestellten eine ausgedehnte Sommerpause gewährt. Zwischen Mai und September hat das Hotel mangels Nachfrage geschlossen.
Sella hat längst bewiesen, dass er ein kluger Geschäftsmann ist. 1887 hat der Italiener das frühere Grand Hôtel du Cap gekauft, das im...
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