Schweitzer Fachinformationen
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»Das Kaufhaus Bon Marché in Paris ist das älteste und beste Kaufhaus der Welt!«
Diesen Satz hatte Florence Beaumarie ihre Tante Odette im Laufe ihrer Kindheit wohl mehr als 100 Mal sagen hören. Ihre Großmutter väterlicherseits, die sie nicht mehr gekannt hatte, hatte in diesem Kaufhaus gearbeitet - und dann die Tante!
Jetzt war Florence selbst schon Großmutter. Vor gut einem halben Jahr war sie, eine hochangesehene Mitarbeiterin im Kommissariat des 5. Arrondissements in Paris, in Pension gegangen. Gelegenheit, mit ihrer Enkelin ins Bon Marché zu gehen, hatte sie aber noch keine gehabt. Florences Sohn Michel lebte in China, und ihre chinesische Schwiegertochter schien genauso wenig Lust auf eine Reise nach Europa zu haben wie sie auf eine Reise nach Asien.
Als Florence ein kleines Mädchen war, hatte sie ihre Tante Odette angehimmelt. So sehr, dass die eigene Mutter beinahe eifersüchtig geworden wäre. Die kinderlose Tante war im Kaufhaus Bon Marché ausgerechnet die Chefin der Abteilung für Kindermoden gewesen. Das war auch der Grund, weshalb Florence zweimal im Jahr an der Hand ihrer Mutter in dieses glitzernde Märchenschloss spazierte, um Tante Odette zu besuchen, welche die schönste und gepflegteste Dame war, die sie kannte. Wie sie mit ihren eleganten, blassen Händen die entzückendsten - und für Florences Mutter unerschwinglichen - Kleidchen auf eine unnachahmliche Weise faltete und in gläserne Schaukästen legte, hatte die kleine Florence jedes Mal tief beeindruckt. Dass die anderen Angestellten der Kinderabteilung von ihrer Chefin jedoch alles andere als angetan waren, hatte sie dabei nicht mitbekommen. Florence hatte bereits mit ihrer Tätigkeit im Polizeikommissariat begonnen, als sie erfuhr, dass Tante Odette von heute auf morgen ihren Job aufgegeben hatte, aus Gesundheitsgründen, wie sie der Familie mitteilte. Ein paar Wochen später hatte allerdings eine der Mitarbeiterinnen, und gleichzeitig eine Kundin im Blumengeschäft von Florences Mutter, ganz etwas anderes zu berichten gewusst. Seit Jahren hatten sich regelmäßig die Untergebenen der Tante an oberster Stelle über deren tyrannische und boshafte Art beschwert, und schließlich sei das Fass zum Überlaufen gekommen und die Tante gekündigt worden. Sie hatte einem kleinen Mädchen, das es gewagt hatte, ein von ihr soeben sorgfältig zusammengefaltetes Kleidchen zu berühren, eine Ohrfeige verpasst.
Ach, Tante, dachte Florence jetzt, als sie an einem milden Vormittag im Dezember den kleinen Park vor dem Bon Marché durchquerte. Du hast es dir und deiner Umgebung mit deinem übertriebenen Ordnungssinn wirklich nicht leicht gemacht. Aus der bewunderten Tante war im Laufe der Jahrzehnte eine tyrannische Alte geworden, die insbesondere ihrem Onkel August das Leben schwer gemacht hatte. Was Tante Odette wohl heute zu diesem Konsumtempel sagen würde? Die früheren Abteilungen des Kaufhauses mit ihren hölzernen Ladentischen und den raumhohen Regalen samt verschiebbaren Leitern, in denen man von Nägeln und Putzeimern bis hin zu den großartigsten Ballroben alles kaufen konnte, waren von sogenannten luxuriösen Department Stores abgelöst worden, die hauptsächlich auf Schmuck, Kosmetik und Bekleidung in den allerhöchsten Preiskategorien spezialisiert waren.
Heutzutage falle wahrscheinlich sogar ich hier unangenehm auf, weil ich keine Sachen von Dior oder Chanel trage, überlegte Florence, während sie in einem gläsernen Lift in den dritten Stock des Kaufhauses hinauf schwebte und die Weihnachtsdekorationen betrachtete. Die waren aufwendig und raffiniert, besaßen jedoch nichts mehr vom Charme und Glanz des Bon Marché von anno dazumal. Hier würde sie wohl kaum ein Geschenk für ihren Freund Charles Florentin finden, der sie für die Weihnachtsfeiertage in sein Landhaus ins malerische Saignon in der Provence eingeladen hatte. Sie wusste noch nicht, ob sie diese Einladung annehmen sollte. Erst vorgestern Abend hatte er sie angerufen und ihr mitgeteilt, dass seine Tochter Chantal, eine Musikerin, über Weihnachten ein Engagement in Wien habe, und er sich über Florences Gesellschaft freuen würde. Florence hatte sich Bedenkzeit erbeten. Sie war sich noch immer nicht im Klaren über ihre Beziehung zu diesem attraktiven älteren Herrn aus Avignon, den sie erst vor knapp einem halben Jahr kennengelernt hatte. Es konnte jedenfalls nicht schaden, sich so nebenbei nach einem Geschenk für ihn umzuschauen.
Wenigstens die Abteilung für Papier- und Schreibwaren, die sie nun betrat, befand sich noch immer an ihrem alten Platz. Wie jedes Jahr hatte sich diese auch heuer wieder in eine glitzernde Welt mit endlosen Regalen voll mit Weihnachtskitsch und Christbaumschmuck verwandelt. Florence ging davon aus, dass sie hier keine ihrer Bekannten antreffen würde. Die würden sich ihre vorweihnachtliche Stimmung lieber bei den mit beweglichen Bildern ausgestatteten Auslagen der Kaufhäuser Galerie Lafayette und Printemps abholen. Es wäre ihr auch ein wenig peinlich gewesen, ausgerechnet hier angetroffen zu werden. Der Besuch dieser Abteilung war ausschließlich ihrer Tante geschuldet, denn diese hatte hier im Dezember ihrer Maman alljährliche die neueste, mit weihnachtlichen Motiven bedruckten Stofftasche überreicht. Immerhin, diese Tradition der »Weihnachtstasche« hatte das Management bis heute beibehalten.
»Florence, was verschlägt denn dich ins Bon Marché?«
Florence, die gerade ihre Tasche bezahlte, erkannte die Stimme sofort. Dieser klangvolle Mezzosopran konnte nur zu Hélène Mordent, der Frau ihres ehemaligen Chefs gehören. Erstaunt drehte sie sich um.
»Was für eine Überraschung, Hélène«, antwortete sie »warte bitte, ich bin sofort bei dir.«
Zehn Minuten später saßen die beiden Frauen rauchend und in ihre Wintermäntel gehüllt vor dem Café Les Oiseaux mit Blick auf das Kaufhaus. Florence, die bereits vor mehr als 20 Jahren das Rauchen aufgegeben hatte, machte jedes Mal eine Ausnahme wenn sie mit Hélène zusammen war.
Nach einem kleinen Disput, den sie und Hélène einst miteinander hatten, hatte Florence ausnahmsweise eine Zigarette quasi als Friedenspfeife geraucht, und diesen Brauch hatten sie bei ihren selten stattfindenden Treffen beibehalten.
Warum sie denn so erstaunt gewesen sei, sie im Bon Marché anzutreffen, fragte Florence nun Hélène Mordent.
»Ehrlich gesagt, Florence, habe ich in diesem versnobten Konsumtempel wirklich nicht damit gerechnet, ausgerechnet dir zu begegnen. Hier verkehrt ja, abgesehen von einigen reichen Ausländern, nur die stockkonservative französische Bourgeoisie. Ich jedenfalls habe diese Art von Leuten, mit denen ich in meinem früheren Beruf als Sensalin viel zu tun hatte, seit meinem Rückzug ins Privatleben endgültig satt.«
»Aha und deshalb bist du ausgerechnet heute hier!«, antwortete Florence amüsiert. »Vielleicht hast du doch ein wenig Sehnsucht nach diesen Leuten?«
»Du hast mich erwischt, Florence«, antwortete Hélène mit gespielter Entrüstung. »Ich habe meine Gründe für den Ausflug in die Welt der Schönen und Reichen. Der erste ist politischer Natur, davon später. Der zweite allerdings pure Sentimentalität. Als Kind hat mich die Weihnachtsabteilung des Bon Marché immer sehr beglückt, und da wollte ich heute einmal kurz überprüfen, ob ich dieses Glücksgefühl noch nachempfinden kann.«
»Sie mal einer an, da haben wir ja etwas gemeinsam. Ich kann leider kein politisches Motiv für einen Besuch hier vorweisen. Die Familientradition und wohl auch etwas Sentimentalität haben mich heute hierher gebracht.«
Natürlich wollte Hélène nun mehr über diese Familientradition erfahren und so erzählte ihr Florence die Geschichte ihrer Tante Odette. Dabei blickte sie von Zeit zu Zeit verträumt zum Kaufhaus hinüber.
»Weißt du, Hélène«, meinte sie schließlich »von hier aus sieht das Bon Marché so schön aus wie eh und je und man kann sich gar nicht vorstellen, dass jetzt im Inneren alles anders ist.«
Hélène Mordent seufzte.
»Genau, Florence. Die Zeiten haben sich eben geändert. Zur Zeit deiner Tante gab es noch recht passable Arbeitsbedingungen für die Angestellten des Kaufhauses. Die Familie, die das Kaufhaus gegründet hat, hatte eine soziale und fortschrittliche Ader. Die Arbeitsbedingungen für die Näherinnen und Spitzenklöpplerinnen, die in den Werkstätten der Zulieferer arbeiteten, waren jedoch schlimm. Leider ist das heute überhaupt nicht besser. Mich haben in letzter Zeit Zeitungsartikel erschüttert, die von den Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie berichten. Diese sind vielleicht noch katastrophaler als anno dazumal! Sogar Luxuslabels produzieren ihre Kleidung in Billiglohnländern! Ich sage dir, diese Waren werden mit dem Blut und den Tränen von Arbeitssklaven erzeugt!«
Den letzten Satz hatte sie mit einem für sie ungewöhnlichen Pathos gesprochen. Florence war erstaunt, aber bevor sie Hélène antworten konnte, fuhr diese fort.
»Weißt du, ich überlege allen Ernstes, eine Protestaktion zu starten, um auf diese Arbeitsbedingungen aufmerksam zu machen.« Jetzt sah sie Florence erwartungsvoll an.
»Du und Protestaktion, Hélène, das höre ich zum ersten Mal. Ich habe dich doch noch nie bei einer der Demos angetroffen, zu denen ich von Zeit zu Zeit gehe.«
»Da wirst du dich vielleicht noch wundern, Florence. Nur in der Welt herumreisen, reicht mir nicht. Du weißt doch, dass ich vorzeitig...
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