Schweitzer Fachinformationen
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Der Flur war lang. Zu lang. Als würde er niemals enden. Abrupt blieb Leonie Singer stehen. Ratlos. Wieder hatte sie sich verlaufen in dem Labyrinth. Ein Versuch, sich an den Schildern zu orientieren. Erstaunte Blicke, die Leonie ignorierte, sie lief weiter wie blind. Wurde schneller. Erneute Blicke, das eine oder andere Lächeln folgten ihr.
Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie noch immer diese viel zu großen bunten Schuhe, von ihr liebevoll Breitmaulfrosch genannt, über ihren gelben Sneakers trug. Sie sorgten für den typischen Watschelgang des Clowns und waren gewiss ein Grund für die neugierigen Blicke. Leonie blieb stehen, schlüpfte aus den Schuhen, schleuderte sie von sich, lief weiter. Sie musste schneller sein, schneller laufen, auch wenn sie nicht ankommen wollte. Nicht sehen, was sie in wenigen Minuten sehen würde. Begreifen, was nicht zu begreifen war. Eine Frau hob die bunten Breitmaulfroschriesenschuhe auf und schaute verblüfft dem eigenartigen vor sich hin stolpernden und auf dem glatten Boden immer wieder wegrutschenden bunten Wesen hinterher. Dann glaubte sie zu verstehen und lächelte.
Leonie lächelte auch.
»Du willst wirklich mit mir bis rauf nach Lappland, Tom?« Noch vor wenigen Stunden hatten Leonie und ihr Mann Tom mit einem ganzen Stapel von schwedischen Reiseführern am Frühstückstisch gesessen, und Leonie hatte es noch immer nicht fassen können, dass Tom sie zwei Wochen zuvor damit überrascht hatte. »Ich träum schon so lange davon, Thommy. Ich freu mich so!«
Sein Gesichtsausdruck hatte sie daran erinnert, wie sehr Tom die Verniedlichung seines Namens verabscheute. Rasch hatte sie sich zu Tom verbessert und weitergesprochen, ohne auf sein zufriedenes Nicken zu warten. Ihr Ton wurde vorsichtig, tastend - wie so oft, seit Tom so explosiv geworden war. In den letzten Jahren reichte ein vermeintlich falsches Wort, und er ging in die Luft.
»Aber ist das nicht viel zu weit mit dem Auto?«, fuhr sie sich an ihn herantastend fort. »Vielleicht hätten wir doch eine organisierte Reise buchen sollen?«
Diesmal blieb er freundlich und ruhig. »Ich sitze am Steuer, wenn es übermorgen losgeht, Leonie, nicht du.« Er lächelte leicht, und sie atmete auf. »Sei nicht immer so ängstlich, Leo .«, kurze Pause, ».nie.«
Mit diesem Wortspiel betonte er gerne, dass sie vieles war, nur keine Löwin, und es nie sein würde. Leo? Nie! Dazu dieser Tonfall, leicht von oben herab. Sie hatte gehofft, er würde ihn sich abgewöhnen, nach allem, was in den vergangenen Monaten geschehen war. Doch sie rief sich zur Ordnung. Sie musste geduldig sein, ihm Zeit lassen. Zeit! Zum Glück würden sie jetzt erst einmal genug davon haben. Sie schluckte seinen Anflug von Überheblichkeit. Lächelte. »Ich bin nicht ängstlich, Tom. Ich frage.«
»Ich bin da, Leonie. Vertrau mir!« Seine Stimme nicht mehr unterschwellig aggressiv, überfordert, sondern warm und fürsorglich wie früher. Sie lernten gerade beide wieder dazu.
Als sie sich kennenlernten und viele Jahre, die folgten, war Tom stark, ihr Beschützer gewesen. Er war derjenige, der alles im Griff hatte. Privat. Beruflich. Bis er zu übertreiben begann. Er hatte zu viel von sich verlangt, und so waren unter dem ständigen Druck, den er sich selbst auferlegt hatte, die Rädchen aus seinem gut geölten Getriebe gesprungen. Nervenzusammenbruch. Burn-out.
»Vertraust du mir?« Er nahm ihre Hand, zart, behutsam, fast so wie früher. Keine Spur mehr von Unmut in ihm oder Ärger, die sie so oft auf Zehenspitzen um ihn herum hatten schleichen lassen.
»Natürlich vertrau ich dir, Tom. Ich hab einfach nur Reisefieber.« Geduld war der Weg. »Das habe ich immer.« Gleichzeitig war der Gedanke da, dass auch sie sich in den Jahren ihrer Ehe verändert hatte. Vermutlich gab es in ihr noch irgendwo die Löwin. Die Löwin, die brüllte und aus ihr herauswollte, ab in die freie Wildbahn. Dem Glück nachjagen und leben. Vor allem wieder leben. Doch über die Jahre war Leonie zur perfekten Dompteuse ihrer selbst geworden. Vorder- und Hinterpfoten parallel auf dem eisernen Rundhocker, mit viel zu wenig Platz für so eine gewaltige und stolze Wildkatze. Kein Fauchen, höchstens einmal das Lecken der Pfoten und den gewaltigen Schädel nach hinten gebogen, um vielleicht - und auch nur vielleicht - wieder einmal am Hals gekrault zu werden, da, wo Mensch und Tier besonders verletzlich sind.
Du bist wie deine Locken, hatte Tom am Anfang ihrer Liebe oft mit einer Zärtlichkeit gesagt, die über die Jahre verschwunden war. Einfach nicht zu zähmen wie Flummis. Der Vergleich mit den kleinen, bunten Springbällen hatte ihr gefallen. Vielleicht, weil sie sich nach ihrem Kennenlernen zum ersten Mal lebendig gefühlt hatte. So durch und durch sie selbst. Ebenso hatte es ihr gefallen, von ihm geneckt zu werden.
Warum willst du mich heiraten, Tom?
Wer außer mir sollte sich denn sonst opfern, mein lieber Schatz?
Jetzt sag schon, Tom, sag, dass du mich liebst.
Bis zu den Sternen, Leonie.
Ach, Thommy, ich brauch keine Sterne, mir genügt es, denselben Boden unter den Füßen zu spüren wie du. Egal, wo!
Vielleicht hätte sie genau das nicht sagen, nicht einmal denken, sondern mehr von ihm verlangen sollen. Achtsamkeit und Respekt. Aber sie hatte sich ihm zu sehr angepasst, damit er durch sie nicht auch noch unter Druck geriet. Dabei hatte sie zu viel von sich aufgegeben. Selbst als er mit der Zeit schwierig geworden war, auch immer wieder ungerecht gegen sie. Und das nur, das hatte sie in letzter Zeit erkannt, weil er mit sich selbst nicht klarkam. Emotional - nicht finanziell - war sie, durch und durch harmoniesüchtig, zu abhängig von ihm geworden. Nicht wie eine Löwin, nicht einmal wie ein Kätzchen. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn sie energischer gewesen, sie selbst geblieben wäre, mehr von ihm verlangt hätte . Hätte hätte Fahrradkette.
Leonie tastete sich weiter durch das Krankenhauslabyrinth. Tastete, stolperte, rannte, mit immer neuen Gedanken, die das andere, was sie nicht denken wollte, verdrängten. Dass seine Zärtlichkeit ganz allmählich verblasst war, wie ein Foto, das zu lange der Sonne ausgesetzt gewesen war. Der Mensch vertrug nicht zu viel Sonne. Vertrug er auch nicht zu viel Glück?
»Lass uns fliegen.« Auch das hatte Tom an diesem Morgen unvermittelt gesagt. Erst jetzt fiel ihr auf, wie seltsam die Szene am Frühstückstisch gewesen war und wie gründlich sie ihn missverstanden hatte.
»Du meinst, wir nehmen doch lieber das Flugzeug und nicht den Wagen?«, hatte sie nachgehakt.
»Ich meine nicht das Fliegen mit dem Flugzeug. Fliegen wie die Kraniche. Hast du sie schon mal beobachtet, die Kraniche?«
»Nein.«
»Nein? Dann musst du das unbedingt nachholen. Es ist etwas ganz Besonderes.«
»Warum hast du sie mir dann nicht längst gezeigt?«
»Kannst du nicht irgendwas mal alleine tun?« Seine Faust war so heftig auf dem Tisch gelandet, dass sie zusammengezuckt war. Tränen waren ihr in die Augen geschossen, und er hatte sie um Verzeihung bittend angesehen. »Tut mir leid, Leonie, tut mir leid. Natürlich machen wir das gemeinsam. Tut mir leid.«
»Schon gut.« Sie hatte sich wie immer zu einem Lächeln gezwungen. Tom hatte ebenfalls gelächelt, wobei, wenn sie sich jetzt in diesem verdammten Krankenhaus daran erinnerte, war es ein trauriges Lächeln gewesen. Verloren. Ein verlorenes Lächeln, das er danach nicht wiedergefunden hatte. Auch sich zu entschuldigen - und das gleich zweimal -, war sonst nicht seine Art.
»Früher«, war er fortgefahren, »habe ich die Kraniche oft beobachtet. Vor allem am Morgen, wenn sie sich versammelt haben, aber auch am Abend. Was für ein Schauspiel, wenn sie in perfekter Formation am Himmel auftauchen. Die kräftigen, erfahrenen Tiere an der Spitze, dann die Familien mit ihren Jungtieren. Die Luft ist erfüllt von ihrem lauten Trompeten.«
»Nur um diese Jahreszeit fliegen Kraniche nicht in den Norden«, widersprach Leonie automatisch, ganz die Lehrerin, die es gewohnt war, ihre Schüler zu verbessern. »Sie kommen aus dem Süden zurück zu uns.«
Im selben Moment noch biss sie sich auf die Lippen, war sicher, dass sie mit ihrer elenden Klugscheißerei kaputt gemacht hatte, was sich gerade wieder zwischen ihnen zu entwickeln begann. Nähe.
Doch Tom war nicht wütend geworden. Er hatte sie nur mit dieser Enttäuschung im Blick angesehen, die sie selbst von sich kannte. Als Kind, wenn ihr Vater sie aus der Welt der Astrid Lindgren zurück in die Realität holte. Sie hatte die Hand nach ihm ausgestreckt, doch er war zurückgewichen.
»Da ist sie ja, meine Lehrerin.« Und jetzt war auch er wieder zurück, dieser latent aggressive Spott, der jede gute Stimmung verdarb. Ihr das Gefühl gab, etwas falsch zu machen. Falsch zu sein.
Zum ersten Mal war ihr der Gedanke gekommen, ob es nicht nur die Arbeit gewesen war, sondern doch sie, wenn auch ungewollt, von der er sich überfordert fühlte. Grundschullehrerinnen hatten den Ruf, ihren Lieben gelegentlich mit ihrer »Besserwisserei« auf die Nerven zu gehen. Vielleicht war sie an all dem schuld, das die vergangenen Monate so besonders schwer gemacht hatte.
Er hatte schneller als sonst eingelenkt. »Ich bin ein guter Fahrer, Leonie, wir kommen gut an und verbringen eine großartige Zeit. Stockholm, Gotland - und am Ende springen wir über den Polarkreis, kehren um und fangen noch mal von vorne an.«
»Ach, Thommy«, sie hatte aufgeatmet, die Situation war offenbar wieder entspannt, »das Leben kann so schön...
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