Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
1.
Ich war im Oktober 1927 in Paris eingetroffen und hatte mich während der langen Winter- und Frühjahrsmonate eifrig meinen Studien gewidmet. Die Sprache bereitete mir anfangs Schwierigkeiten, obwohl ich mich sorgfältig auf meine Reise vorbereitet hatte. Zwar machte mir die Lektüre auch schwieriger französischer Texte verhältnismäßig wenig Mühe, und auch jetzt noch scheint mir, dass die französische Sprache geeignet ist, selbst schwer nachvollziehbare Gedankengänge mit müheloser Leichtigkeit darzustellen, sogar mit solcher Leichtigkeit, dass dies den ernsthaften Forscher zuweilen stört und irritiert. Ich meine vor allem jene gerade bei Berühmtheiten zu beobachtende ärgerliche Angewohnheit, in ihren literarischen Arbeiten bei jeder sich nur bietenden Gelegenheit irgendein bon mot oder einen spielerischen Gedankensprung anzubringen, und das selbst inmitten anspruchsvollster Denkgebäude, zu deren Verständnis dem Leser ohnehin völlige Konzentration abverlangt wird. Mir kommt das immer so vor, als würde ein seriöser Professor sich mitten in seiner Vorlesung in einen Handstand aufs Katheder schwingen, um auf diese Weise seine Gelenkigkeit vorzuführen, und dann leicht und behände wieder auf seinen Sitz zurückspringen, um, ohne mit der Wimper zu zucken, in seinem Vortrag genau an der Stelle fortzufahren, wo er ihn unterbrochen hat.
Ich gestehe, dass meine nordische Gemütsart verhältnismäßig langsam und schwerfällig ist, und könnte eine solche, ernsthafter Arbeit ungeziemende Leichtsinnigkeit als Ausdruck fremden Nationalcharakters abtun. Aber da sich bei solchen gedanklichen Spielereien hinter äußerlich täuschendem und sonnigem Lächeln meistens ein überraschend gefühlloser und plumper Zynismus verbirgt, kann ich nicht umhin, eine starke Abneigung dagegen zu empfinden.
Diese Gedanken, die mir ganz von selbst in den Sinn kommen, wenn ich an jenen fernen, dem Studium gewidmeten Winter zurückdenke, überraschen gewiss einen möglichen Leser, jedenfalls in Zusammenhang mit der Geschichte, von der ich mich nun endlich befreien will, indem ich sie niederschreibe, um damit den letzten Rest der Unruhe aus meinem Innern zu verbannen. Denn wenn ich auch einen moralischen Fehltritt darstellen muss, so will ich doch betonen, dass dieser mein Fehltritt keine allzu ernsten Folgen hatte. Und möglich ist auch, dass ich später irgendwann einmal diese Aufzeichnungen mit demselben Gefühl zur Hand nehme, wie eine Frau, die ein wertvolles Buch dadurch verunreinigt hat, dass sie eine Blume zum Trocknen zwischen die Buchseiten gelegt hat und nun Jahre später die vertrocknete, brüchig gewordene und längst nicht mehr duftende Blume betrachtet, ohne sich mehr daran erinnern zu können, wie damals bei ihr der Wunsch entstehen konnte, sie so sorgsam aufzubewahren.
Was mir widerfahren ist, hatte nämlich nichts Umwerfendes an sich, nichts, was für mein weiteres Leben entscheidend gewesen wäre. Jetzt sehe ich dieses Erlebnis als völlig abgeschlossene Episode im zielgerichteten Verlauf meines Lebens und meiner Arbeit. Um es mit einem Bild zu sagen: Der menschliche Organismus sondert eine Kugel ab, die zu entfernen nicht möglich war, indem er um sie herum eine schützende Kalkschicht wachsen lässt, so dass die Kugel nicht mehr länger eine störende Partikel im Körper ist, sondern ganz einfach im Innern der Schutzschicht vergessen wird. Die menschliche Seele funktioniert auf die gleiche Weise: Um unsere Irrtümer, unsere Kümmernisse und Enttäuschungen herum lässt sie allmählich schützende Kalkschichten wachsen und trennt diese so von den Verrichtungen und Gedanken unseres Alltagslebens.
Ich erwähnte die anfänglichen Sprachschwierigkeiten. Meine mangelnde Sprachkenntnis, oder besser gesagt: eine gewisse, mir eigene Langsamkeit sonderte mich von der menschlichen Gesellschaft ab, zumindest während der ersten Monate in Paris. Ich kann nicht sagen, dass ich darunter nennenswert gelitten hätte, denn meine seelische Beschaffenheit, ja mein ganzes Wesen hat mich stets für die Einsamkeit prädestiniert. Ich kann mich nicht erinnern, während meiner Schulzeit einen einzigen wirklich guten Freund gehabt zu haben.
Jene, denen Freundschaft und Gesellschaft viel bedeuten, die nicht zurechtkommen, wenn sie nicht reden und anderen ihre Gedanken und Meinungen offenbaren und erläutern können, werden mich gewiss bedauern und meinen, ich müsse ein unglücklicher Mensch sein. Ich möchte bemerken, dass dies eine ganz und gar unzutreffende Vorstellung ist. Die Einsamkeit hat ihren eigenen Reiz, dem Einsamen entsteht kein Widersacher in Wortgefechten, kein Spott aus fremdem Munde verletzt seine subtilsten Gedanken, noch treffen ihn Blicke des Unverständnisses oder unduldsame Andeutungen. Möglicherweise ist ja bei vielen Menschen der ererbte Herdentrieb auf atavistische Weise zu neuer Kraft gelangt, so dass sie geradezu psychisch leiden, wenn sie ihr Wissen und ihre Meinungen nicht mit anderen teilen können. Mir ist es nie so ergangen. Eine geheime Freude, geheime Entdeckerlust, das hat mir immer mehr Befriedigung verschafft als geteilte Freude. Auch konnte ich meinen Kummer immer verbergen und habe von anderen nie gefordert, sie müssten mir ihr kaltes Mitgefühl zeigen oder mir mit geheuchelter Anteilnahme die Hand drücken.
Das alles hat zur Folge, dass ich als zugeknöpft und unfreundlich gelte. In Gesellschaft sei ich mürrisch und ein Langeweiler, heißt es, aber ich gestehe auch, dass ich unruhig werde, wenn ich die Leute mit munterer Miene von belanglosen Dingen plaudern höre, so als wären diese Dinge für sie von tiefer und beglückender Bedeutung.
In jenem Winter damals in Paris war ich noch nicht so. Ich war zu unselbständig, um andere kritisieren zu können und hatte noch nicht die äußere Anerkennung erfahren, die eine Voraussetzung für unerschütterliche Sicherheit ist. Meine Jugend war spät und gleichsam kühl gekommen, meine Studienzeit war voller wirtschaftlicher Schwierigkeiten samt den daraus entstehenden Widersprüchen, und mehrere Jahre lang hatte ich als Aushilfskraft auf dem Lande verbracht, um dort in aller Stille meine Schulden abzuzahlen und mir das Geld für meine Studienreise und meine Forschungen zusammenzusparen.
Ich war an ein sparsames Leben ohne Komfort gewöhnt, an schlecht zubereitetes Essen und daran, ohne Freunde zurechtzukommen. Deshalb störte mich die zwangsweise Armut, in der ich im Quartier Latin lebte, auch in keiner Weise, sondern im Gegenteil war ich unaufhörlich voller Freude, nachdem ich mich, zunächst scheu und unbeholfen, in meine Umgebung eingelebt hatte. Diese Freude war etwas, was ich bisher, während meiner bedrückenden Studentenzeit und den farblosen Jahren in entlegenen Landstrichen, noch nicht kennengelernt hatte. Das Leben inmitten eines fremden Volkes ließ in mir ein meiner Natur nicht gemäßes Gefühl unbändiger Freiheit entstehen. Die historischen Gebäude und Straßen sowie die zahlreichen vergessenen Denkmäler von Paris, ganz zu schweigen von der Nationalbibliothek mit ihren riesigen Katalogen, all das weckte in mir ein Gefühl der Freude und Kraft, das mir die Arbeit leicht machte und meinen Gedanken überraschende Flinkheit und Schärfe verlieh.
In dem Maße, wie meine Arbeit Fortschritte machte, hatte ich zum ersten Male das Gefühl, intelligent zu sein, und der Genuss, den dieses Gefühl einem beschert, dürfte wohl mit nichts anderem vergleichbar sein. Meine erste Untersuchung, zu der in jenem Winter der Grund gelegt wurde, ist mir immer noch meine liebste Arbeit, trotz einer gewissen Plumpheit, trotz des Wunsches, den Quellen blind zu vertrauen und der Ehrfurcht, die ich meinen Vorgängern zollte. Jetzt wäre ich nicht mehr so zimperlich, aber damals vermochte ich noch nicht zu erkennen, dass in der Welt wissenschaftlicher Arbeit womöglich noch verbissener gekämpft wird und hier die Todesstreiche mit noch mehr Hinterlist versetzt werden als zum Beispiel in der Finanzwelt.
Es ist ein lautloser Abend, da ich dieses schreibe, und ich erhebe mich vom Tisch und trete an meinen Bücherschrank, hinaus aus dem Lichtkegel der Lampe. Meine Augen sind ermüdet, und während ich sie einen Augenblick ausruhen lasse, kommt mir die Erinnerung an jenen Winter mit überraschender Frische wieder in den Sinn. Ich bin ein außerordentlich schlechter Beobachter und kann die Einzelheiten um mich herum oft nur schwer unterscheiden. Wenn ich nun versuche, mir die genauen Züge und die Details, die mich damals umgaben, zu vergegenwärtigen, fühle ich mich deshalb hilflos und gleichsam in einem dunklen Raum umhertappend.
Aber in meinem Munde spüre ich immer noch den Geschmack heißer Milch im Kaffee während der kalten Morgenstunden, als die Bäume in den Parks mit Reif überzogen waren und die Kamine in den Glasterrassen der kleinen Cafés wohlige Wärme ausstrahlten, die man im Hotelzimmer so vermisste. Deshalb hatte ich die Gewohnheit angenommen, meine Aufzeichnungen in dem kleinen Café zu machen, das neben dem Hotel in der schmalen Seitengasse lag, in der man immer achtgeben musste, um nicht in den Gemüseabfällen auszurutschen. Ich erinnere mich lebhaft an den Geruch verdorbenen Salates und den Duft der gebratenen Kastanien, der von den Türen der großen Cafés am Boulevard herüberzog. Ich nahm gewöhnlich nur eine Mahlzeit am Tag ein, denn Brot konnte man dazu umsonst essen, so viel man wollte. Auch kaufte ich mir oft in Fett gebackene Kartoffeln und aß sie aus einer Tüte aus Zeitungspapier.
Dies alles hört sich jetzt im Nachhinein nach einem ärmlichen Leben...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: ohne DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet – also für „glatten” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Ein Kopierschutz bzw. Digital Rights Management wird bei diesem E-Book nicht eingesetzt.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.
Dateiformat: PDFKopierschutz: ohne DRM (Digital Rights Management)
Das Dateiformat PDF zeigt auf jeder Hardware eine Buchseite stets identisch an. Daher ist eine PDF auch für ein komplexes Layout geeignet, wie es bei Lehr- und Fachbüchern verwendet wird (Bilder, Tabellen, Spalten, Fußnoten). Bei kleinen Displays von E-Readern oder Smartphones sind PDF leider eher nervig, weil zu viel Scrollen notwendig ist. Ein Kopierschutz bzw. Digital Rights Management wird bei diesem E-Book nicht eingesetzt.