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Als der uns als Philosoph, Förderer und Freund Hannah Arendts bekannte Karl Jaspers im Jahr 1909 in Heidelberg seine Dissertation einreichte, befasste sich der angehende Psychiater mit dem Thema "Heimweh und Verbrechen". Was heute in Zeiten des massenhaften Billigreisens undenkbar scheint - wegen Heimwehs Verbrechen zu begehen oder ernsthaft krank zu werden - beschäftigte zum damaligen Zeitpunkt bereits über zweihundert Jahre eine Reihe von Gelehrten, eben weil es auffallend oft zu Heimwehverbrechen kam. Jaspers stützte sich auf Untersuchungen des Begründers der Heimwehforschung Johann Hofer bzw. Johannes Hoferus, wie er latinisiert in der Gelehrtensprache hieß. Mit seiner "Dissertatio Medica De Nostalgia, oder Heimwehe", Basel 1678, fokussierte er ein damals gesellschaftsrelevantes Thema. Die Schweizer lieferten zu dieser Zeit, und hier insbesondere die Berner, Anlass zur Sorge, Heimweh könnte eine Krankheit sein. Gründe dafür waren vermehrt auftretende Suizide oder kriminelles Verhalten von Dienstboten, Mägden und Knechten. Bei den Untersuchungen zeichnete sich ab, dass die Inkriminierten nicht aus Gier, sondern vielmehr aus einem gefühlten Schmerz heraus Straftaten begingen. Dies alles in der irrigen Annahme, sie würden, nachdem das Kind, das sie zu beaufsichtigen hatten, tot sei, oder das Haus, das sie zu hüten hatten, abgebrannt sei, nach Hause zurückkehren dürfen. Als erwähnter Johann Hofer sich dem Thema widmete, meinte er, das von den Schweizern so bezeichnete "Heimweh" sei nicht nur unter Eidgenossen verbreitet, es gäbe Entsprechungen auch im Französischen, wo es mal du pays hieß. Besonders junge, unausgereifte Menschen würden daran leiden. Die beste Heilung erziele man, indem man die Leute zurück nach Hause schickte. Heutzutage, wo alle Welt auf den Beinen ist, nahezu jeder sich auf Reisen begibt, können wir gar nicht glauben, dass man vor lauter Heimweh krank werden kann. Umso absurder klingen die Erklärungsversuche für unsere heutigen Ohren. Man suchte die Ursache im Luftdruck der schweizerischen Höhenluft oder glaubte, vornehmlich mit Muttermilch gesäugte Jugendliche würden von Heimweh befallen. Exotischer noch mutet die Annahme, das derbe Leben im Gebirge führe zu Dummheit bei den Menschen und diese wiederum wären dann in der Folge anfälliger für das Leiden. Heimweh als Ursache des Krankheitsbildes zu deuten, war angesichts der immer wieder auftretenden Fälle von Kindstötungen oder Brandstiftungen durch ländliches Personal in städtischen Haushalten naheliegend wie verständlich. Es betraf vorwiegend heranwachsende Mädchen. Für diese Verzweifelten gab es recht bald die expressis verbis weibliche Bezeichnung Heimwehverbrecherinnen. Was von den Eltern gut gemeint war, die eigenen Kinder vor der Not daheim fort in den Dienst zu fremden Leuten in unbekannte Gegenden zu schicken, endete nicht selten in einer Katastrophe. Die Häufigkeit, mit der dies geschah, zog die Aufmerksamkeit der sich gerade formierenden Psychiatrieforschung auf sich. Der Schmerz, das Leid, die seelische Not der an Heimweh Erkrankten und die daraus resultierenden kriminellen Taten nannten die doctores recht bald treffend nostalgia, in Anlehnung an die altgriechischen Wörter nostos für Heimkehr und algos für Schmerz. Nun ist das Heimweh nichts, was es erst mit dem Aufkommen der Psychiatrie gab. Das Heimweh ist ziemlich sicher so alt wie die Menschheit, dennoch galt es lange als Schweizer Phänomen. Die Verortung des Menschen, seine Sesshaftwerdung, zog es nach sich, dass man begann sich auf einen greifbaren Punkt zu konzentrieren und auf diesem Besitz auszubilden. Rund um den Besitz herum formierte sich Gemeinschaft, in der man zunächst unter sich blieb. Innerhalb dieser blieb die Unterscheidung zwischen einem abgegrenzten individuellen Ich und dem individuellen Anderen dennoch topographisch auf einen gemeinsamen Lebensraum beschränkt, der sich als Gemeinschaft, als Kollektiv ausformte. Das Eigene und das Fremde entstanden, zeichneten sich ab, konturierten sich, lagen im Spannungsfeld ökonomischen Handelns. Der Marktplatz und die ökonomischen Strukturen des Warentausches erzwangen geradezu, den selbstbezogenen Blick auf Unterschiede im Anderen auszudehnen. Neid, Begehrlichkeit, Bewunderung - alles Regungen, die vor allem durch die Differenz des Lebens erweckt werden. Die Verbindung zwischen den Unterschieden, dem Selbst und dem Anderen, fand ihren Ausdruck in unterschiedlichen Ausprägungen sozialer Beziehungen, hier speziell von Interesse ist das Gastrecht. Im Gestus des Gastrechtes manifestiert sich nicht nur eine Willkommenskultur. Sie birgt auch das Gegenteil davon, denn sie zeigt an, wo das Fremde beginnt und das Eigene aufhört. Kurzum, wo Grenzen zu ziehen man gewillt ist. Dem Gast oder dem Fremden wird signalisiert, dass er eben nur ein Gast ist, was mit beschränkten Rechten und Pflichten einhergeht, dass er dem Einheimischen, dem Gastgeber, nicht gleichgesetzt ist. Ist man Gast, ist man nicht daheim, lautet die Grundregel zum Verständnis dessen, was Heimat zu sein vermag. Der Gast ist und bleibt der Fremde, nur jener Gast, der sich "wie daheim fühlt", adelt den Gastgeber und in gewisser Weise sich selbst.
Auch wenn Daheim a priori dort ist, wo man in die Welt geworfen wurde, muss man sich diese erst erobern. Innerhalb dieses abgesteckten Mikrokosmos gilt es, leben, essen, trinken, weinen, lieben, zürnen und hassen zu lernen. Wird man daraus, wie aus dem mythologischen Paradies, vertrieben, verwandelt man sich schlagartig selbst zum Fremden. Und nicht zu vergessen: Diese erste, eine Heimat, dieses Daheim kann das Paradies, aber auch die Hölle sein.
Verlässt man freiwillig sein angestammtes Terrain beispielsweise aus Not, um Handel zu treiben oder noch besser aus Neugier, ist das, was man zurücklässt, einmal mehr, einmal weniger überschaubar. Und das, was man beim Weggang mitnimmt, einmal mehr, einmal weniger bewusst gewählt. Aber immer lässt man etwas zurück und stets nimmt man etwas mit, das eine dauernde Verbindung oder langanhaltende Erinnerung zur Verlassenschaft zu nennen ist. Es ist nicht bloß der Verlust materieller Güter, auch wenn dieser oft schwer wiegt, es ist mehr, viel mehr. Die Hilflosigkeit der jungen Schweizerinnen, die blind und endlos verzweifelt vor Weh nach dem Daheim einfach nur nach einem Ausweg suchten, zeugt davon. Es ist im Kopf, es ist in dem, was man Seele nennt, es ist im Herzen, es ist wo auch immer, aber es ist da und verursacht Unbehagen und ist wie der Tod, es kann jeden befallen.
Wie schmerzhaft der Verlust von Heimat sein kann, bekommen wir auch von Heroen unserer Kulturgeschichtsschreibung überliefert. Die Briefe aus der Verbannung des römischen Dichters Ovid, die in regelmäßiger Stetigkeit und voller Schmerz an die daheim Lebenden gerichtet sind, vermitteln eindringlich den Verlust der Heimat, oder anders formuliert die Liebe zu Gewohntem. Eine Reihe weiterer Briefe und Aufzeichnungen berühmter und weniger berühmter Menschen sind uns Zeugnis für dieses Besondere, das wir gemeinhin Daheim, Heimat nennen und das bei Verlust emotionale Irritationen hervorruft. Heimat als Angst- oder Verlustmotiv finden wir in zahlreichen Mythen und Märchen abgehandelt, zu den berühmtesten gehören die Odyssee und die Vertreibung aus dem Paradies.
Je entfernter von Daheim, aber vor allem je unfreiwilliger die Reise angetreten wurde, desto drängender müssen die Seelenqualen gewesen sein. Nicht umsonst ließ sich der Mensch Verbannung als Strafe einfallen. Bedenkt man, in welcher Sehnsucht nach Daheim selbst ein großer Geist wie Ovid, während seiner Verbannung in Tomis am Schwarzen Meer, dem heutigen Constanta in Rumänien, darbte, versteht man erst recht die Appetitlosigkeit und psychischen Probleme der jungen, ungebildeten, armen, verängstigten und überforderten schweizerischen Landmädchen.
Am Beginn der wissenschaftlichen Erforschung von Heimweh befundete man Heimweh als passive asthenische Geisteskrankheit, die sich, so die Annahme der Mediziner, mit dem Heimweh eines Ovid oder Napoleon nicht vergleichen ließe. Der Unterschied liege in einem testimonium paupertatis, einem Zeugnis der Armut, begründet. Das eine Heimweh entspränge dem Unbewussten: Es ist das Heimweh der Dienstboten, das der armen, ungebildeten Kreaturen, das Heimweh der Sprachlosen. Während das Heimweh der politischen, klugen und reichen Verbannten dem bewussten Geiste entsprechen würde. Derselbe Schmerz, der beim Armen nur als krankhaftes Symptom gewertet wurde, schwang sich beim Gelehrten oder Feldherrn zu Poesie empor.
Trauer über den Verlust von Gewohnheiten wie von sozialen Beziehungen war es bei den einen wie den anderen, und als solches fühlte es jeder Betroffene.
Rings von Gefahren, von Feinden umdroht, muss ich leben, als wäre mir mit der Heimat zugleich jeglicher Friede geraubt: [.] Dann auch das Antlitz des Orts, das Laub nicht noch Bäume verschönen! Träg an den Winter schließt immer der Winter an sich an. Hier nun werd' ich bereits vom vierten Winter gepeinigt, kämpfe mit Pfeilen und Frost, kämpfe mit einem Geschick. Ach, meine Tränen versiegen nur dann, wenn Betäubung sie hindert und in der Brust mein Herz scheint wie im Tode erstarrt.1
Befallen von der Heimwehkrankheit wurden arme Mädchen vom Lande, die in die Stadt mussten, um sich zu verdingen, genauso wie Soldaten, Gefangene, Vertriebene oder Mönche und Nonnen. Die krankhafte Pein und die mit ihr einhergehenden strafrechtlichen Folgen verleiteten die Mediziner dazu,...
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