Schweitzer Fachinformationen
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New York, 1923: Gemeinsam mit seiner Verlobten Scarlett plant der junge Philipp Korff eine Europareise, um die kluge Amerikanerin seiner Familie vorzustellen. In Wirklichkeit hat die Reise einen dramatischen Grund: Scarlett ist schwer krank und hofft auf Rat bei europäischen Ärzten. Trotzdem genießt sie den Rausch von Big Apple - verbotene Flüsterkneipen, den neuen Jazz, die Broadway-Shows -, sie will dem Tod ein Schnippchen schlagen. In der alten Welt geht es nur scheinbar ruhiger zu. Katrin, langjährige Hausdame der Familie, ist inzwischen Maxim Korffs Geliebte. Sie ahnt jedoch nicht, welch dunkle Seiten der alte Patriarchat gerade auszuleben beginnt. In dieser ausufernden Zeit, die nicht erkennt, dass die Saat für den nächsten Weltkrieg bereits in ihr sprießt, kämpfen die jungen Liebenden um ihr Lebensglück, während Maxim dem Teufel, der Europa bald beherrschen soll, mit den Weg bereitet.
Seit drei Jahren hatten Frauen in den USA das Wahlrecht, und was taten sie an diesem historischen Wendepunkt? Sie ließen sich von ihrem Friseur in kleine Jungs verwandeln. Sie kullerten mit den Augen und sahen niedlich unter ihrem Pony hervor. Scarlett Wilson war fest entschlossen, sich keinen Bubikopf schneiden zu lassen. Allerdings hatte sie heute Nacht eine winzige Konzession an die neueste Mode gemacht : Sie trug eine raffinierte Haube aus azurblauen Straußenfedern. Wie ein Helm aus blauen Träumen schloss er sich um ihren Kopf. Scarlett Wilson war die schöne, selbstbewusste, eigenwillige Tochter von Harry Wilson, dem New Yorker Geschäftspartner des Korff-Industriekonzerns. Scarlett hatte schweres blondes Haar, ein willensstarkes Kinn und leuchtende Augen, die von ihren Verehrern gern als veilchenfarben bezeichnet wurden.
Scarlett wollte feiern. Heute Nacht wollte sie um jeden Preis etwas erleben. Die Frage war, wie viel sie noch erleben würde. Denn nachts sah Scarlett die Dämonen an ihrem Bett sitzen; ruhig und geduldig warteten sie, bis sie sich ihnen endgültig ausliefern würde. Scarlett kannte den Dämon der Todesangst und jenen der Resignation. Aber der gefährlichste von allen war der draufgängerische Dämon der Verleugnung.
Angetrieben von der verzweifelten Hoffnung, dass alles nicht wahr sein sollte, stürzte sich Scarlett in das tosende Treiben von New York. Wer sich mit dieser Stadt verbündete, der genoss auch ihren Schutz. Man hatte in New York City einfach keine Zeit, um schwach und krank zu sein. Täglich gab es Neues zu entdecken. Ständig eröffneten neue Galerien und Theater, überall wurde himmelhochjauchzend gebaut. Manhattan war der gigantische Versuch, ein Babylon des 20. Jahrhunderts zu errichten. Neue Drinks kamen heraus, die Scarlett probieren musste, neue Tänze, die sie lernen wollte, neue Moden - neu, neu, neu, schrie es Tag für Tag von Yonkers bis zum Battery Park, von Washington Heights bis nach Brooklyn.
Die Nächte in den Tanzpalästen und Flüsterkneipen waren ungesund für Scarlett, aber einsperren ließ sie sich nicht. Hätte ihr Vater gewusst, wohin sie heute Nacht mit Philipp Korff ausgegangen war, dass sie trank und in wilden Verrenkungen über das Parkett sprang, ihr Daddy wäre sehr aufgebracht gewesen. Morgen würde Scarlett es büßen, da war sie sicher, morgen würde sie sich in einen erbärmlichen Schatten ihrer selbst verwandeln. Wen kümmerte das? An einem nicht mehr allzu fernen Morgen würde sie tot sein - ein Wort, ein Gedanke, der unmöglich gedacht werden konnte, denn er bedeutete das schwarze, unwiderrufliche Nichts.
Scarlett hob die Teetasse, um mit Philipp anzustoßen. Sie wollte leben, heute Nacht ging es um nichts anderes. Sie wollte niemals bereuen müssen, ihr bisschen Leben nicht genossen zu haben.
»Wer schreibt das?«, fragte sie über den Tisch hinweg.
»Sigmund Freud schreibt das.« Philipp Korff legte die New York Times beiseite und goss Scarlett aus der Teekanne nach.
Sie führte den Zeigefinger an die Lippe. »Ist das der Doktor, der gesagt hat : Hinter jeder starken Frau versteckt sich ein tyrannischer Vater?«
»Hat er das wirklich gesagt?« Philipp lächelte das korffsche Lächeln. Es wurde behauptet, dass er stark nach seinem Vater kam. Niemand konnte lächeln wie Maxim Korff. Seit dem vorigen Jahr, seit Sommer 1923, hatte Philipp Korff von Maxim die Geschäfte in Amerika übertragen bekommen. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie war es für die Korffs leichter geworden, international zu expandieren. Österreich, dieses gigantische Kaiserreich, war zu einem Zwergstaat geschrumpft, einer bedeutungslosen Republik am Rande der Alpen.
»Wenn Freud recht hat«, sagte Scarlett nachdenklich, »müsste ich eigentlich eine schwache Frau sein. Mein Daddy ist nämlich der sanftmütigste Vater, den man sich wünschen kann.«
»Wenn es ums Geschäft geht, lässt dein Vater den Tyrannen durchaus erkennen«, widersprach Philipp. Sie stießen mit den Tassen an. »Freud hat auch gesagt : Wir streben stets mehr danach, Schmerz zu vermeiden, als Freude zu gewinnen.«
»Und was tue ich gerade deiner Meinung nach?« Scarlett trank einen Schluck. »Gewinne ich Freude, oder betäube ich meinen Schmerz durch Alkohol?«
»Von beidem etwas.«
Scarlett war siebenundzwanzig, ein Jahr älter als Philipp. Sie galt als neugierig, humorvoll, hart im Nehmen und gut im Austeilen. Sie war alles, was für Amerika stand, eine Frau, wie man sie im zerstörten, ausgebluteten Europa nicht für möglich halten würde. Scarlett war der lebende Beweis dafür, dass die Welt von vor dem Krieg endgültig versunken war. In England nannte man diesen Krieg Great War, denn man hatte ihn gewonnen. In den USA nannten sie ihn den War to end all wars. Zum ersten Mal hatten die Amerikaner in eine Völkerschlacht eingegriffen und dem Krieg dadurch die entscheidende Wendung gegeben. Zur Verblüffung der europäischen Kulturnationen waren die hinterwäldlerischen Amerikaner im Begriff, zur Weltmacht aufzusteigen.
Scarlett genoss es, mit Philipp seinen sechsundzwanzigsten Geburtstag in New York zu feiern. Er liebte diese Stadt seit dem Tag, an dem er angekommen war. Philipp sagte, New York habe den Geschmack eines frischen Pfefferminzbonbons, während seine Heimatstadt Wien eher wie eine ranzig gewordene Cremetorte schmeckte.
Heute Nacht schenkte Scarlett ihm noch einen anderen Geschmack : Sie tranken Whiskey. Jeder in der Flüsterkneipe tief unter der Erde genoss den Whiskey aus Teetassen, äußeres Zeichen dafür, dass man etwas Verbotenes tat. Auch Scarlett verstieß gegen den 18. Zusatzartikel der Verfassung der Vereinigten Staaten, der die Prohibition landesweit zum Gesetz erhoben hatte.
Sie fühlte sich schwerelos, glücklich, übermütig. »Tanzen wir?« Ohne Philipps Antwort abzuwarten, zog sie ihn auf die Tanzfläche. Sie hatte ihrem europäischen Freund schon einige neue Tänze beigebracht, den Rouli Rouli, den Chichipanga und den Shimmy.
Er nahm sie in den Arm und lauschte auf den abgehackten Rhythmus der Band. »Was ist das? Das kenne ich nicht.«
Scarlett machte einen Sprung nach vorn und landete auf beiden Füßen. Mit den Armen vollführte sie schlangenhafte Bewegungen. »Das ist der Buffalo Rag.« Insgeheim musste sie lachen, dass sie sich von einem Österreicher, der gerade seine Walzertradition abstreifte, übers Parkett führen ließ.
Scarlett war verliebt in Philipp, und wahrscheinlich wusste er das auch. In ihrem Bekanntenkreis gab es einige junge Männer, die groß, athletisch und redegewandt waren, aber Philipp besaß etwas, das Scarlett zutiefst rührte. Es war die naive Neugier, mit der sich dieser Mann aus der Welt der Kaiser und Baronessen in New York zurechtfand, wo man davon ausging, dass alle Menschen gleich waren. Scarlett lebte in den Kreisen der Carnegies, der Morgans und Rockefellers, diese Leute waren zweifellos gleicher als die Normalsterblichen. Vielleicht liebte sie Philipp ja auch, weil er so herrlich unmodern war. Den jungen Korff prägten Traditionen und die uralte Geschichte seines Landes. Er staunte über die Amerikaner, die historisch gesehen von nirgendwo kamen, deren Bildung nicht weiter zurückreichte als zur Gründungsgeschichte ihrer Nation und denen wegen dieses Unwissens die Zukunft gehörte, davon war Scarlett überzeugt. Auf seine Art war Philipp ein alter Mensch, und das war das Charmanteste, was sie je bei einem jungen Mann erlebt hatte.
Sie sprang um ihn herum, lachte und spürte, wie die blauen Federn um ihren Kopf in Bewegung gerieten. Plötzlich schrie sie auf.
»Was hast du?« Philipp hielt sie fest im Arm.
Scarlett hatte für einen Augenblick das Bewusstsein verloren. Hätte Philipp sie nicht aufgefangen, wäre sie auf das Parkett gestürzt. »Es ist nichts. Alles in Ordnung.«
Er musterte sie aufmerksam, während rund um sie der Veitstanz weiterging. »Wirklich?«
»Aber ja. Ich habe eine Teekanne voll Whiskey getrunken, da ist es wohl nicht überraschend, wenn mir beim Buffalo Rag schwindelig wird.« Sanft hakte sie ihn unter. »Lass uns etwas trinken.«
»Mehr Tee vertrage ich aber nicht.«
»Kein Whiskey. Ich habe Durst.« An seinem Arm zwängte sie sich zwischen den Tanzenden zum Tisch zurück. »Hast du eigentlich einen Spitznamen?« Scarlett bestellte Club Soda.
»Nicht, dass ich wüsste.« Er zog seinen Frack gerade.
»Komm schon, irgendein Mädchen hat dir bestimmt einen verliebten Kosenamen gegeben.«
Philipp zog den linken Lackschuh aus und schüttelte ein Steinchen heraus. »Pipp«, sagte er nach einer Pause.
»Pipp?« Aus großen Augen sah sie ihn an. »Das klingt eher frech als romantisch.«
»Es war auch frech gemeint.«
»Pipp .« Sie schüttelte den Kopf, die Straußenfedern bekamen ein flatterndes Eigenleben. »Wer war dieses Mädchen?«
»Das ist schon lange her.«
Scarlett spürte, sie hatte an etwas gerührt, das nicht nach New York gehörte. Es hatte in dem alten Land stattgefunden, aus dem er stammte, und er wollte, dass es auch dort blieb.
»Happy birthday, mein Lieber«, sagte sie zärtlich.
Seine hellen Augen bekamen einen Glanz wie das Blinzeln eines Polarwolfes. »Du siehst heute Nacht zauberhaft aus.«
»Danke dir.« Scarlett hatte Lust, sich hinüberzubeugen und...
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