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Halbwahrheit Nr. 2
Heutzutage ist die Wahrheit zu einer heiklen Angelegenheit geworden. Viele Menschen sind stolz darauf, »ihre eigene Wahrheit zu sagen«. Das wird dann zum Problem, wenn man nicht zunächst einmal feststellt, was Wahrheit eigentlich ist. Es scheint, als hätten viele Menschen den Eindruck, dass Wahrheit relativ sei: »Was für mich wahr ist, muss für dich nicht wahr sein und umgekehrt«. Aus meiner Sicht wird hier Wahrheit mit Glauben verwechselt. Jede*r Beteiligte an einem Ereignis bildet seine eigene Überzeugung oder Erzählung darüber aus, und es ist sehr unwahrscheinlich, dass die jeweiligen Erzählungen zu hundert Prozent übereinstimmen. Da die unterschiedlichen Erzählungen jeweils auch Behauptungen über die gemeinsam erlebte Realität aufstellen, können sie nicht alle in gleichem Maße absolut wahr sein - denn die Wahrheit hat die Eigenschaft, mit den Fakten bzw. der Realität übereinzustimmen.
Mein Argument lautet, dass Wahrheit im Gegensatz zum Glauben von Natur aus unbestreitbar ist. Wir können zwar über die Gültigkeit einer Methode zur Wahrheitsfindung streiten, aber wenn zwei verschiedene, aber gleichwertige Methoden verwendet werden, kommen sie zum gleichen Ergebnis. Wenn zum Beispiel eine Person den Eiffelturm in Metern und eine andere Person ihn in Yards misst, wird die erste Person feststellen, dass der Turm 324 Meter hoch ist, und die zweite, dass er 354,33 Yards misst - aber diese beiden Zahlen beschreiben genau dieselbe Länge, nur nach zwei verschiedenen Maß-Systemen.
Objektive Wahrheiten sind solche, über die wir uns alle einig sind, wenn wir uns die Mühe machen, sie nachzuprüfen, zum Beispiel die Höhe des Eiffelturms, die Anzahl der Minuten zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang an einem bestimmten Tag an einem bestimmten Ort oder auch die Frage, ob die Zahl der gemeldeten Gewaltverbrechen in den letzten zehn Jahren zu- oder abgenommen hat.
Subjektive Wahrheiten sind nur demjenigen bekannt, der sie erlebt (zum Beispiel was du letzte Nacht geträumt hast oder ob du jetzt gerade Schmerzen im Knie hast), so gesehen sind sie unanfechtbar.
Obwohl der Unterschied zwischen Wahrheit und Interpretation bei genauerem Nachdenken jedem sehr klar sein sollte, wird beides überraschenderweise immer wieder verwechselt. Noch mehr Verwirrung stiftet die Tatsache, dass viele Menschen nicht erkennen, dass ein Glaube keine Wahrheit ist, sondern bestenfalls eine Interpretation subjektiver und/oder objektiver Wahrheiten. Eine Interpretation kann einer Prüfung unterzogen werden und aufgrund dieser kann gezeigt werden, dass sie den Tatsachen mehr oder weniger genau entspricht. Aber selbst wenn eine Interpretation die Tatsachen sehr gut wiedergibt, kann sie nicht als Wahrheit an sich angesehen werden - sie ist nur eine effektivere Art, Tatsachen zu reflektieren.
Wenn Menschen diese drei Kategorien verwechseln: subjektive Wahrheit, objektive Wahrheit und Interpretation, dann ist das sehr belastend für jede Form von zwischenmenschlichen Beziehungen. Die ersten beiden sind unbestreitbar; über die dritte kann man nicht nur endlos debattieren, sondern auch trefflich streiten. Ich bin sicher, dass ein klares Verständnis der Unterschiede zwischen diesen drei Kategorien menschliche Beziehungen auf eine sehr harmonische Ebene bringen kann. Ich lade dich ein, diese Hypothese auf die Probe zu stellen.
Menschen, die ihren Gedanken Glauben schenken (die meisten von uns), neigen dazu, ihre Gedanken so auszusprechen, als wären es objektive Wahrheiten, etwas, das sie beobachtet haben. Zum Beispiel könnte jemand seinem Gegenüber sagen: »Du willst mich nicht hier haben.« Die weit weniger angreifbare Wahrheit in dieser Situation könnte jedoch lauten: »Du schenkst mir nicht so viel Aufmerksamkeit, wie ich es gerne hätte, und deshalb denke ich, dass du mich nicht hier haben willst, und ich neige dazu, diesen Gedanken zu glauben, weshalb ich mich im Moment ziemlich traurig fühle.« Siehst du den Unterschied? Die zweite Aussage ist unbestreitbar, die erste ist es nicht. Die zweite Aussage ist genau deshalb unbestreitbar, weil sie die Erfahrung des Sprechers charakterisiert und nicht das vermutete Innere der anderen Person. Wir haben hier also Wahrheit (2. Aussage) versus Interpretation (1. Aussage).
Unsere Sprache ist so beschaffen, dass in einer Aussage wie »Ich fühle mich nicht beachtet/respektiert/gesehen« unterschwellig eine Bewertung des Gegenübers mitschwingt. Im Grunde wird behauptet, die oder der andere hätte mich nicht beachtet, was sowohl Interpretation als auch Anschuldigung beinhaltet und daher leicht zu Streit führen kann. Hingegen könnte man seine persönliche Wahrheit wie folgt formulieren: »Ich bin traurig und wütend, weil ich möchte, dass du meinen Bedürfnissen/Gefühlen/Taten mehr Beachtung und Bedeutung beimisst, als du es meiner Wahrnehmung nach derzeit tust«.
Um wirklich unumstößliche Aussagen zu machen, hilft es, wenn man sehr differenziert vorgeht. In dem Beispielsatz gibt es den wichtigen Zusatz ». als du es meiner Wahrnehmung nach derzeit tust«. Gäbe es ihn nicht, so könnte dein Gesprächspartner antworten: »Aber deine Gefühle sind mir doch wichtig!«, und damit das Thema verfehlen. Durch den Zusatz wird betont, dass in dem Moment nicht spürbar ist, dass die andere Person deinen Gefühlen, Bedürfnissen und Werten Bedeutung beimisst - es kommt nicht bei dir an.
Urteile, Interpretationen und Bewertungen helfen uns nicht, einander zu verstehen, unumstößliche Wahrheitsaussagen schon. Um wirklich unumstößliche Aussagen zu machen, muss man sehr differenziert vorgehen.
Wenn du effektiv kommunizieren, Kontakte knüpfen und Verbindung zu jemandem schaffen willst, solltest du sicherstellen, dass du ein tatsächliches Gefühl benennst, wenn du sagst: »Ich fühle .« Es sollte nicht um eine verdeckte Bewertung der Handlungen einer anderen Person gehen. »Ich fühle mich verraten« ist kein Gefühl - »ich fühle maßlose Wut/Enttäuschung« schon. Das Wort fühlen wird heutzutage leider häufig dazu verwendet, um das zu bezeichnen, was man für eine gültige Beschreibung der Handlungen eines anderen hält.
Aber die Sache ist die: Jede*r von uns kann die Wahrheit nur aus einer Ich-Perspektive artikulieren, nicht aus einer Du-Perspektive. Eine Aussage, die mit dem Wort »du« beginnt (das heißt die Bewertung einer Situation mit einem Subjekt der zweiten Person), ob explizit oder verschleiert, setzt zumeist voraus, dass wir die Handlungen, Erfahrungen oder die Perspektive einer anderen Person charakterisieren, etikettieren oder bewerten, wozu wir nicht legitimiert sind. Es ist unmöglich, eine wahrheitsgemäße Aussage zu treffen, wenn man die subjektive Erfahrung oder Perspektive einer anderen Person charakterisiert, es sei denn, man kennzeichnet sie eindeutig als Spekulation (zum Beispiel »Ich vermute, dass du dich über das, was ich gesagt habe, aufregst« oder »Ich grüble darüber, dass du mich vielleicht betrogen hast«).
Betrachten wir also einige weitere Beispiele, in denen wir strittige Urteile in persönliche Wahrheitsaussagen umwandeln:
»Du bist sehr respektlos« könnte bedeuten: »Ich finde es frustrierend, wenn du mich unterbrichst, und es fällt mir schwer zu glauben, dass du meine Meinung überhaupt respektierst.«
»Immigranten kann man nicht trauen« könnte bedeuten: »Ich habe schlechte Erfahrungen mit einigen Leuten gemacht, die meine Sprache nicht sehr gut sprechen, deshalb fühle ich mich in der Nähe von Leuten nervös, die so aussehen oder klingen wie sie.«
»Trump-Wähler sind dumm« könnte bedeuten: »Wenn ich mir die Begründungen der Leute anhöre, warum sie für Trump gestimmt haben, finde ich sie weder ansprechend noch überzeugend.« [Ähnlich könnte die Aussage in DACH-Ländern in Bezug auf Wähler*innen bestimmter Parteien verwendet werden.]
»Ich bin dir egal!« könnte bedeuten: »Aufgrund der Verhaltensweisen X und Y (objektiv unbestreitbar) erzählt mir mein Verstand die Geschichte, dass ich dir egal bin, und im Moment fällt es mir schwer, das nicht zu glauben.«
»Ich bin so ein Idiot, ich werde nie gut genug sein« könnte bedeuten: »Wenn die Leute wütend auf mich sind und sagen, ich hätte mich anders verhalten sollen, schäme ich mich und bin entmutigt, weil ich nicht weiß, ob ich ihren Erwartungen gerecht werden kann.«
Vielleicht gehörst du zu den Leuten, die bei den zweiten Aussagen in den genannten Aufzählungspunkten mit den Augen rollen. Aber es ist genau dieses Vorurteil, das wir gegen offene, ehrliche und peinlich genaue Aussagen haben, das zu Konflikten und Leid in unseren Beziehungen führt. Wenn wir lernen können, wahre und unumstößliche Aussagen in der ersten Person zu machen, anstatt anfechtbare Interpretationen zu verwenden, die sich auf die zweite oder...
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