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Tantra ist hip. Wir sehen es auf den Titelseiten populärer Zeitschriften und Bücher, zumeist mit suggestiven Andeutungen von sexuellen Erfahrungen der Superlative.
Obwohl fast jede*r dieses Wort schon einmal gehört hat, weiß kaum jemand Genaueres über die historische Entwicklung der indischen spirituellen Tradition - auch oft diejenigen nicht, die von sich sagen, dass sie Tantra lehren. Akademische Studien zu Tantra haben wenig bis gar keine Ähnlichkeit mit dem, was unter dem gleichen Namen in Workshops der westlichen alternativen Spiritualität gelehrt wird. Es ist nicht der Hauptzweck dieses Buches, zu erklären, warum diese Kluft so tief ist - sie entstand aus einer komplexen Aneinanderreihung seltsamer Missverständnisse sowie kultureller Fehlinterpretationen. Wir geben hier einfach einen umfassenden Überblick über die ursprüngliche indische spirituelle Tradition, die in Sanskrit-Schriften, den sogenannten tantras (daher der Name), formuliert wurde.
Warum sollte dies für die/den modernen Westler von Interesse sein? Es gibt einen wichtigen Grund: Millionen von Menschen im Westen praktizieren heute etwas, das Yoga genannt wird. Eine Praxis, die zwar in Form und Kontext stark verändert wurde, aber in vielerlei Hinsicht auf die klassische Tantrik-Tradition zurückgeführt werden kann. Ähnliches gilt für moderne Formen des Buddhismus - insbesondere dessen tibetische Ausprägung hat seine Wurzeln im Tantra. Wie wir sehen werden, ist die heute sowohl im Westen als auch in Indien weit verbreitete Vorstellung, dass der moderne Yoga aus der vortantrischen Tradition des Yoga, die durch Patañjalis Yoga repräsentiert wird, hervorgegangen ist (oder sogar mit ihr verbunden ist), falsch. Das Yoga lehrt nur die Praxis der transzendentalistischen Meditation, im Gegensatz zu der umfangreichen Literatur über verkörperte yogische Praxis, die wir in der tantrischen Tradition finden. Da Patañjalis Text nach dem 12. Jh. in Indien nicht mehr weit verbreitet war, kann man mit Sicherheit sagen, dass alles, was wir von seinen Gedanken in der Ha?ha-Tradition finden, dort durch die Tantrik-Tradition weitergegeben wurde.6 Dazu folgt im nächsten Abschnitt und Kapitel mehr Ha?ha-Yoga.
In Anbetracht der weit verbreiteten terminologischen Verwirrung rund um das Wort Tantra bitte ich dich als Leser*in, deine Vorstellungen von allem zu befreien, was du darüber zu wissen glaubst, und hier mit diesem Buch ganz neu anzufangen. Auf diese Weise habe ich die Chance, dir die ursprüngliche tantrische Weltsicht näherzubringen: Die Möglichkeit, in eine Sichtweise und ein Verständnis der Realität einzutauchen, die dich bis in die tiefsten Ebenen deines Seins herausfordern und erhellen kann.
Yoga ist historisch gesehen mehr als nur eine Asana-Praxis, es ist auch mehr als Meditation und Atemübungen. Das, was heute in den Yogastudios praktiziert und gelehrt wird, hat vieles von seiner eigenen Geschichte vergessen. Yoga war und ist eine lebendige Tradition, die ganz grundlegend von der historischen Epoche des Tantra beeinflusst ist. Das Ziel dieses Buches ist es, einiges von dem spirituellen Schatz, der in Vergessenheit geraten ist, wiederzuentdecken und zu integrieren. Dabei richten wir den Blick darauf, inwieweit solche Erkenntnisse unser heutiges Leben bereichern können. Fest steht, dass die meisten populären Lehren und Texte des 20. Jh. über die indische Denkweise und Praxis (etwa zu den Chakras), so unterhaltsam und fesselnd sie waren, ihren Gegenstand weitgehend aus dem kulturellen und traditionellen Zusammenhang rissen, ihn inkohärent darstellten und den Sanskrit-Bedeutungen gegenüber ignorant waren, um ihnen mehr »Praxistauglichkeit« zu geben. Oder aber solche Texte waren systematisch, um einem akademischen Kontext Rechnung zu tragen - aber dabei leider auch trocken, langweilig und fade. Es ist an der Zeit, das Zerrbild vom Tantra durch eine lebendige und wertschätzende Sicht zu ersetzen. Keine andere indische Tradition wurde und wird derart missverstanden wie Tantra; vor allem vor dem Hintergrund seines tiefgreifenden Einflusses auf die gesamte globale Spiritualität.
Als historisch und philosophisch interessierter Akademiker liegt mir daran, interessierten Menschen dabei zu helfen, zwischen neuen Ideen und solchen zu unterscheiden, die es schon länger gibt. Ich behaupte keineswegs, dass das Alte besser oder von Natur aus legitimer sei als das Neue, aber es ist meine Aufgabe, Leser in die Lage zu versetzen, genau zu erkennen, welche Ideen in den Tantrik-Traditionen beständig und weit verbreitet und daher zentral sind und welche eher peripher sind (etwa als allzu freie, eigenmächtige Interpretationen von Texten). Warum sollte diese Unterscheidung wichtig sein? Aus der Sicht der Praktizierenden ist es hilfreich, die zentralen Lehren einer bestimmten spirituellen Tradition zu identifizieren. Denn jede Tradition hat im Laufe der Zeit die wirksamsten Lehren und Praktiken bewahrt und diejenigen verworfen, die sich als unwirksam erwiesen haben.
Leider kann daraus nicht gefolgert werden, dass alle wirksamen Praktiken überlebt haben. Aufgrund historischer Diskontinuitäten (wie der muslimischen Eroberung) gingen viele wirkungsvolle Lehren verloren. Dieser Schwund der Tradition ist im indischen Fall besonders tragisch, weil aufgrund der kulturellen Einstellung zur Weitergabe von Wissen und dem Wunsch, an ein »ewiges Dharma« zu glauben, im Allgemeinen nicht zugegeben wird, dass etwas Bedeutendes verloren gegangen ist. Dies erklärt, warum die moderne indische Kultur wenig Anstrengungen unternimmt, die Literatur einer der umfangreichsten, schönsten und wirksamsten spirituellen Traditionen ihrer langen Geschichte, des Saiva-Tantra, wiederherzustellen.
Der Prozess des Aufspürens und Zusammenbringens von Teilstücken aus unterschiedlichen Überlieferungen, die zu erprobten Praktiken und Übungen führen, ermöglicht es uns, unsere spirituelle Reise vertrauensvoll auf die Basis einer soliden Grundlage des Verstehens zu stellen. Das ist wichtig, denn es geht keineswegs darum, Wissenslücken mit irgendeinem Halbwissen zu füllen, oder - wie es einige moderne Yogalehrende getan haben - einfach Ideen zu erfinden, die auf der Grundlage individueller Erfahrungen gut klingen. Auch hier möchte ich nicht behaupten, dass eine traditionelle Denkweise oder Technik für dich als Individuum unbedingt effektiver ist als eine neue. Aber wahr ist, dass nur die Zeit zeigen wird, ob eine neue Technik oder Lehre ausreichend wirksam ist, um dauerhafter Bestandteil einer lebendigen spirituellen Tradition zu werden.
Die Geschichte der Tantrik-Traditionen ist faszinierend. Sie besteht nicht nur aus historischen Fakten, sondern es finden sich hier inspirierende und kraftvolle Ideen - darunter einige der originellsten, die jemals in Bezug auf das menschliche Potenzial entwickelt wurden.
Historisch gesehen waren diese Ideen untrennbar mit transformativen spirituellen Übungen verbunden. Einige Praktiken, die ihren Ursprung im Tantra haben, wurden zwar bis in die Gegenwart überliefert, haben sich aber von ihren ursprünglichen philosophischen und spirituellen Grundaussagen gelöst. So ist die Tradition des Ha?ha, die Grundlage des modernen Yoga, ursprünglich aus dem Saiva-Tantra hervorgegangen. Die Tantrik-Meister entwickelten ihre Lehren und Techniken als ein zusammenhängendes Ganzes, als eine gut ausgearbeitete, alles mit allem verbindende Matrix. Ein ausgeklügeltes Gesamtsystem, das darauf ausgerichtet ist, uns dauerhaft von Unwissenheit und Leiden zu befreien. Wenn du also die tiefgründige Sicht auf die Realität verstehst, die ursprünglich in Verbindung mit diesen yogischen Praktiken gelehrt wurde, stärkt dieses Wissen deine Praxis, inspiriert dich auf deinem Weg und gibt dir große Klarheit und Fokussierung.
In der heutigen Yoga-Welt gibt es ein großes Missverständnis über die historischen Fakten der Entwicklung yogischer und tantrischer Traditionen. Das Wissen über historische Fakten - soweit es dem aktuellen Stand der Forschung entspricht - hilft uns, unsere Fantasien darüber, wie die Dinge sind (und waren), durch eine präzisere Annäherung an die wirkliche Realität zu ersetzen. Dies ist ein Prozess, der uns auf mindestens drei wichtige Arten herausfordert. Er fordert von uns, die Welt so zu akzeptieren, wie sie ist, und nicht so, wie wir sie gerne hätten. Er erdet uns im Bewusstsein der überaus menschlichen Schwierigkeiten, die mit dem Erlernen, Leben und Lehren eines spirituellen Weges verbunden sind, und hilft uns so, Mitgefühl für andere und Geduld mit uns selbst zu entwickeln. Schließlich hindert er uns daran, fadenscheinige oder schlichtweg falsche historische Behauptungen zu benutzen, um zu rechtfertigen, was wir für den besten Weg oder die korrekte Form der Yoga-Praxis halten.
Die Kenntnis der historischen Hintergründe kann uns vor einigen Fehlern bewahren. Auf einer soliden Wissensgrundlage können wir unsere eigene Erfahrung besser einordnen und sie anderen gegenüber auch darstellen.
Nun folgt ein kurzer Überblick über die Geschichte des Tantra. Eine ausführliche Beschreibung sowie eine weitergehende Erläuterung von neun Traditionsschulen (sampradayas) findest du unter...
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