Schweitzer Fachinformationen
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Berman saß jetzt allein auf seinem Sofa. In den ersten ein, zwei Minuten empfand er die Stille als Erleichterung. Aber gleich wurde sie dunkel und drohend wie ein Gefäß, das sich mit einer fremdartigen Flüssigkeit füllt.
»Na ja«, sagte er. Seine Stimme erschreckte ihn, goss die Stille über ihm aus, sodass er hastig aufstehen und etwas anfassen musste.
Er berührte den Sofastoff, glättete das samtige Gewebe, sodass der Flor sich in die richtige Richtung legte. Das hat sie immer gestört, dachte er, wenn die Härchen auf dem Sofa falsch lagen.
Unvermittelt richtete er sich auf, als müsste er auf der Hut sein, weil jemand von hinten an ihn herantreten könnte. Natürlich war da niemand .
»Ich mach mir Tee . Tee.«
Er war ein großer, schwerer Mann, und die alten Dielen knarzten trotz des moosgrünen Teppichbodens unter seinem Gewicht. Die Gläser und antiken Mokkatässchen, die sie so gern gekauft, für die er sie so gern verspottet hatte (»So winzig, dass nicht mal ein Mundvoll Kaffee reinpasst«), klirrten zierlich in den kolonialen Eckschränken des Esszimmers. »Demi-tasses«, sagte er krächzend, als er fast furchtsam an ihnen vorbeieilte.
Die Küche war groß und quadratisch und sehr ordentlich gestrichen, in einer Farbe, die der Maler als »bießchen gebrochenes Weiß« bezeichnet hatte. Es wurde zu einem privaten Scherz zwischen ihnen. »Bießchen gebrochen, das Weiß«, sagte er, und sie winkte ab und lächelte über seine Albernheit.
Er trat ans Spülbecken und drehte den Hahn auf. Wie er dort stand, kitzelte die Pflanze, die auf einem der kleinen Regale für Krimskrams aller Art stand, mit einer leichten, femininen Berührung seine Nase. Er zuckte erschrocken zurück und starrte die schimmernden Blätter an. Seine Augen weiteten sich. Er nahm den kleinen Blumentopf in die Hand, der liebevoll mit der Vorstellung seiner Frau von Vergissmeinnicht bemalt war, hielt ihn einen Moment lang in wilder, wütender Ungewissheit und schmetterte ihn dann auf den Boden, wo er zerbrach und ein versprengtes Gemengsel aus Erde und Blättern auf dem dunkelroten Linoleum hinterließ.
Während er auf die Zerstörung starrte, begann das Telefon zu klingeln. Er torkelte darauf zu, verzweifelt, als würde er vernichtet, wenn es noch ein einziges Mal klingelte.
»Ja, ja«, schrie er in die Sprechmuschel.
»Daddy«, sagte seine Tochter in sein Ohr.
»Ja.« Als könnte sie ihn sehen, vollzog seine Miene eine listige Verschleierung.
»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte sie.
»Du bist doch erst vor zwanzig Minuten gefahren . was glaubst du denn?«
»Nein, ich meine, ich habe den ganzen Heimweg daran gedacht, wie du da ganz allein bist. Mir ist nicht wohl dabei.«
»Lass uns das nicht jetzt durchkauen«, sagte Berman. Er studierte das glatte Narbengewebe über seinem amputierten Zeigefinger. Er hatte so dicke Hände, Klempnerpranken.
»Nein, ich mein's ernst, Daddy. So bald, nachdem Mutter gegangen .« Ihre Stimme verschluckte sich an einer kleinen Blase der Trauer. »Es ist zu früh dafür, dass du jetzt so plötzlich ganz allein bleibst.«
»Du bist einen Monat hier gewesen. Es ist genug. Dein Mann und deine Kinder brauchen dich«, sagte er in seinem barschen Ton. Unerklärlicherweise fiel ihm auf einmal ein, wie seine Tochter mit neun ausgesehen hatte - dunkel, dünn, reizlos. Nie hätte er sich vorgestellt, dass einmal ein Mann den Wunsch haben könnte, sie zu heiraten, dass er sich nach ihr verzehren könnte, wie er, Berman, sich nach ihrer Mutter verzehrt hatte .
»Ja, aber du könntest ja bei uns wohnen, mit uns leben, statt ganz allein dort. Du weißt doch, wir haben wirklich genug Platz. Die Kinder würden sich so freuen, dich hier zu haben.«
»Schau, wir haben das x-mal besprochen.« Sein Tonfall war nicht freundlich, geschweige denn liebevoll. An seiner Stimme war niemals zu erkennen, wie sehr Berman liebte. »Ich sag's dir nochmal. Ich möchte es eine Zeitlang allein probieren, sagen wir mindestens sechs Monate, dann sehen wir .«
»Aber warum, Daddy, warum muss das sein?«
Ihre vom Telefon gedämpfte Stimme war wie eine Erinnerung in seinem Ohr. Er hatte noch nie gern telefoniert, hatte es immer für möglich gehalten, dass alles nur ein Scherz sei, die Stimme nicht echt. Von Angesicht zu Angesicht, das war seine Vorstellung von einem Gespräch.
»Schau, Er hat mir was Grausames angetan, Gott. Ich werde jetzt nichts weiter dazu sagen. Aber es hat mich so mittendrin erwischt . mit neunundfünfzig. Wäre ich zehn Jahre jünger, könnte ich vielleicht irgendwie nochmal neu anfangen. Und wenn ich zehn Jahre älter wäre, könnte ich mich dran gewöhnen, der alte Opa zu sein, bei meinen Kindern zu wohnen, unauffällig, nicht zu stören, ab und zu was zu helfen . Wie es halt ist, alte Leute eben. Aber ich bin mittendrin, verstehst du, nicht Fisch und nicht Fleisch. Ich muss selber dahinterkommen, wie es mit mir weitergehen soll.«
»Oh Daddy«, klagte sie, vorläufig bezwungen, in sein Ohr.
»Keine Sorge, keine Sorge, ich komm schon zurecht.« Dann legte er auf, wie immer ohne Abschied, weil er diese kleinen floskelhaften Höflichkeiten nicht ausstehen konnte.
Er stand auf und ging zum Besenschrank, um Kehrschaufel und Handbesen zu holen. Ihre Schürzen hingen darin und fühlten sich verwaschen und dünn und weich unter seinen verhornten Pranken an.
Sorgfältig fegte er die Scherben und Erdbröckchen auf die Kehrschaufel. Und leerte die Kehrschaufel in die Papiertüte im Abfalleimer. Dann hängte er Schaufel und Besen in den Schrank zurück, neben die Schürzen.
Er setzte Teewasser auf und ließ sich am Küchentisch nieder, um zu warten. Er wischte ein paar mikroskopische Krümel vom Wachstuch, befingerte misslaunig die ausgefranste Kante, bis er mit Schrecken die Geste als eine erkannte, die nicht seine war.
Er stand auf und schaute aus dem Fenster. Das Nachbarhaus stand recht nah, vier, höchstens fünf Meter. An der weißen Außenverkleidung haftete eine in gut fünf Jahren gewachsene Rußschicht. Links, hinter einer nachlässig aufgestellten Leiter (wie er es niemals gemacht hätte), blickte er in den langen, schmalen Garten des Nachbarn mit seinem einzelnen, zerfranst wirkenden Kirschbaum. Was für ein Narr, dachte er, jeden Abend draußen, Gärtnerkappe auf dem Kopf, um hinten das armselige, schüttere Gras zu sprengen und vorn die kleinen Vierecke Erde zu beackern, die sich beharrlich weigerten, auch nur Unkraut wachsen zu lassen. Nein, so ein Unsinn war nichts für ihn. Für ihn gab es nur Beton, eine sauber betonierte Fläche, 15 mal 30 Meter. Diese Bastler, diese Feierabendhandwerker. Hätten sie gearbeitet, wie er in seinem Leben gearbeitet hatte .
Und dann war der Tee fertig, und er konnte sein Glas vollschenken, den Zuckerwürfel darin versenken und trinken, mit einem leisen Anflug von Befriedigung, dass er ganze fünf Minuten gemeistert hatte.
Danach spülte er das Glas sehr gründlich ab und polierte es, bis es glänzte. Er stellte es zu den anderen Gläsern verschiedenster Form und Größe, von denen manche Marmeladengläser gewesen waren und andere das Wachs für die Jahrzeitkerzen enthalten hatten, die er und Mary, solange sie verheiratet gewesen waren, zu den jeweiligen Zeiten im Jahr für die Eltern angezündet hatten. Für seine Mutter im hebräischen Monat Cheschwan, ihre war im Tewet gestorben.
Er warf die Schranktür zu, erschrak über die brutale Lautstärke des Knalls und berührte leicht, fast entschuldigend, den Türknauf, der - für einen Metallknauf - sonderbar warm war, als hätte jemand die Hand daraufgelegt, ihm lange Zeit die eigene Körperwärme übertragen.
Aus der Mitte der großen, glänzenden Küche ermaß er die einschlagbaren Richtungen. Der Kühlschrank brummte in kühler Tüchtigkeit vor sich hin, und das Kontrolllämpchen am Herd war ein kleines blaues Auge in der ansteigenden Dämmerung. Er ging zum Wandschalter, der eine geblümte Abdeckplatte hatte, und schaltete das Licht ein. Und wie er dort stand zwischen all dem Chrom und Resopal und glänzendem Emaille, erschuf er sich einen Augenblick bösen Vergnügens.
»Knöpfe, Schalter - ich bin ein Zauberer.«
Er knipste das Licht wieder aus und ging den langen Flur entlang zum Bad.
Im Bad gab es einen lautlosen Schalter, der die Neonlichter aus der Dunkelheit springen ließ wie ein aus einer Wolke ausbrechendes künstliches Sonnenlicht. Hier drin war alles Fliese und Spiegel. Die Toilette war neuestes Design, länger und niedriger und elegant geschwungen. Sein Grinsen war grausam, als er zu urinieren begann, wurde brutaler, als er sein altes Feingefühl, das ihn den Strahl gegen die Seitenwände hatte richten lassen, wo er kein Geräusch machte, verwarf und ein vulgäres Platschen mitten im stehenden Wasser verursachte, und sein Lächeln wurde noch schlimmer, wurde zur Grimasse, als ihn der pulsierende Schmerz von seiner chirurgisch geschrumpften Blase ergriff. »Accchhhhh .«
Rechts und links von ihm war sein Gesicht. Der größere Spiegel über dem Doppelwaschbecken war rosa getönt. Sein Gesicht starrte ihn an wie durch wässriges Blut, großnasig, zerfurcht, bebrillt mit modischem Horngestell. Er war oben kahl und an den Schläfen grau. Sein grünes Sporthemd warf einen...
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