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Tag eins meiner Rückkehr
Wir glauben, was wir glauben wollen. Wir glauben, was wir glauben müssen. Möglicherweise gibt es keinen Unterschied zwischen wollen und müssen. Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass die Wahrheit sich uns entziehen kann, sie kann sich hinter unseren blinden Flecken verstecken, hinter unseren Vorurteilen, unseren hungrigen Herzen, die sich nach Ruhe sehnen. Doch sie ist immer da, wenn wir die Augen öffnen und versuchen, sie zu sehen. Wenn wir wirklich versuchen zu sehen.
Als meine Schwester und ich vor drei Jahren verschwanden, hielten alle die Augen geschlossen.
Man fand Emmas Auto am Strand. Auf dem Fahrersitz ihre Handtasche. In der Tasche ihre Schlüssel. In der Brandung ihre Schuhe. Manche Leute glaubten, sie wäre losgezogen, um eine Party zu suchen oder sich mit einem Freund zu treffen, der niemals auftauchte. Sie glaubten, sie sei schwimmen gegangen. Sie glaubten, sie sei ertrunken. Vielleicht war es ein Unfall gewesen. Vielleicht Selbstmord.
Jeder glaubte, Emma sei tot.
Was mich betrifft - das ist nicht so einfach.
Ich war fünfzehn, als ich verschwand. Emma hätte mich niemals mit zum Strand genommen, als ich fünfzehn war. Sie war in ihrem letzten Jahr auf der Highschool, und ich war eine Nervensäge. Meine Tasche lag in der Küche. Von mir wurde nichts am Strand gefunden. Nach Auskunft meiner Mutter fehlte nichts von meiner Kleidung aus dem Haus. Und Mütter wissen solche Dinge. Oder etwa nicht?
Aber sie fanden Haare von mir in Emmas Auto, und manche Leute klammerten sich an den Gedanken, dass ich ebenfalls tot sein musste, obwohl ich unzählige Male in ihrem Auto gesessen hatte. Sie klammerten sich daran, denn wenn ich nicht mit Emma zum Strand gefahren war, wenn ich nicht in jener Nacht im Ozean ertrunken war, vielleicht ins Meer gelaufen war, um sie zu retten - wo war ich dann? Manche Leute wollten glauben, ich sei tot, weil es zu unangenehm war, sich Fragen zu stellen.
Andere waren sich nicht so sicher. Sie waren offen genug, um einen bizarren Zufall in Betracht zu ziehen. Eine Schwester ertrank am Strand. Die andere lief davon oder wurde möglicherweise entführt. Andererseits . Ausreißer nehmen normalerweise eine Tasche mit. Sie muss entführt worden sein. Auf der anderen Seite . solche furchtbaren Dinge passieren doch nicht Leuten wie uns.
Es war keine ganz normale Nacht gewesen, und das befeuerte die Zufallstheorien. Meine Mutter erzählte die Geschichte auf eine Art und Weise, mit der sie das Publikum fesselte und genügend Mitgefühl weckte, um ihren Hunger nach Aufmerksamkeit zu stillen. Ich erkannte es an ihrem Blick, als ich sie in den Nachrichten und den Talkshows sah. Sie beschrieb den Streit zwischen Emma und mir, das Gekreische von Mädchen im Teenageralter. Dann die Stille. Das Auto, das zu später Stunde das Grundstück verließ. Sie hatte die Scheinwerfer von ihrem Schlafzimmerfenster aus gesehen. Tränen wurden vergossen, als sie die Geschichte erzählte, ein kollektives Seufzen erfasste das Studiopublikum.
Auf der Suche nach Antworten wurden unsere Leben auseinandergenommen. Die sozialen Medien, Freunde, SMS und Tagebücher. Alles wurde eingehend geprüft. Sie erzählte ihnen, wir hätten uns wegen einer Halskette gestritten. Ich hatte sie für Emma gekauft, zum Schulbeginn. Es war ihr letztes Jahr! Das ist eine ganz besondere Zeit. Cass war eifersüchtig. Sie war immer so eifersüchtig auf ihre Schwester.
Darauf folgten noch mehr Tränen.
Der Strand liegt direkt an der Meerenge des Long Island Sound. Es gibt dort keine starke Strömung. Bei Ebbe muss man lange laufen, bis das Wasser einem bis zu den Knien reicht. Bei Flut rollt das Wasser so sanft heran, dass man kaum den Sog an den Knöcheln spürt, und man versinkt auch nicht im Sand, wie an den Stränden weiter oben an der Küste, die direkt am Atlantik liegen. Es ist nicht einfach, an unserem Strand zu ertrinken.
Ich erinnere mich, wie ich meine Mutter im Fernsehen beobachtete. Worte kamen aus ihrem Mund, Tränen rannen aus ihren Augen. Für diesen Anlass hatte sie sich neu eingekleidet, ein maßgeschneidertes dunkelgraues Kostüm, dazu Schuhe eines italienischen Designers, der, wie sie uns erklärt hatte, der Beste sei und unsere Stellung in der Welt betonen würde. Ich erkannte es an der Form der Schuhspitze. Sie hat uns eine Menge über Schuhe beigebracht. Ich glaube nicht, dass es an den Schuhen lag, dass jeder ihr glauben wollte. Aber sie taten es. Ich konnte es förmlich durch den Fernseher spüren.
Vielleicht waren wir unter dem Druck auf unserer Privatschule zerbrochen. Es könnte eine Art Selbstmordpakt gewesen sein. Womöglich hatten wir unsere Taschen mit Steinen gefüllt und waren langsam in unser wässriges Grab gegangen, wie Virginia Woolf.
Aber wo waren dann unsere Leichen?
Sechs Wochen und vier Tage dauerte es, bis die Story in den Nachrichten nicht mehr an erster Stelle erwähnt wurde. Meine Promi-Mutter wurde wieder zu der gewöhnlichen, alten Judy Martin oder Mrs Jonathan Martin, wie sie es vorzog, genannt zu werden, ehemals Mrs Owen Tanner, ehemals Judith Luanne York. Es ist nicht so kompliziert, wie es klingt. York war ihr Mädchenname, bevor sie die Namen ihrer beiden Ehemänner annahm. Zwei Ehemänner sind heutzutage nicht viel.
Emma und ich stammen vom ersten - Owen Tanner. Emma wurde nach der Mutter meines Vaters benannt, die an einem schwachen Herzen starb, als er siebzehn war. Mein Name, Cassandra (Cass in der Kurzform) entstammt einem Buch mit Babynamen, das meine Mutter besaß. Sie sagte, er klinge wie der Name einer wichtigen Person. Jemand, den die Leute bewundern. Jemand, den sie beneiden. Dazu kann ich nichts sagen, aber ich erinnere mich daran, dass sie mir meine langen Haare vor ihrem Badezimmerspiegel bürstete und mich mit einem zufriedenen Lächeln betrachtete.
Sieh dich an, Cassandra! Du solltest immer einen Spiegel bei dir haben, damit du nie vergisst, wie schön du bist.
Zu Emma sagte unsere Mutter nie, dass sie schön sei. Sie sahen sich zu ähnlich, als dass Worte der Zuneigung zwischen ihnen gewechselt werden konnten. Jemanden zu loben, der genauso aussieht wie man selbst, der sich genauso verhält oder dieselben Kleider trägt, das ist, als würde man sich selbst loben, und doch fühlt es sich nicht so an. Es fühlt sich eher an wie ein Dämpfer, als würde die andere Person das Lob einheimsen, das einem selbst zusteht. Unsere Mutter hätte Emma nie erlaubt, ihr etwas so Wertvolles wie Lob und Anerkennung zu stehlen.
Aber zu mir sagte sie es. Sie sagte, ich hätte das Beste aus beiden Genpools. Sie war sehr bewandert in solchen Dingen - warum Kinder blaue oder braune Augen hatten oder besonders talentiert in Mathematik oder Musik waren.
Wenn du so weit bist, Kinder zu bekommen, Cassandra, wirst du dir fast jedes Merkmal aussuchen können! Kannst du dir das vorstellen? Ach, wie anders hätte mein Leben verlaufen können, wenn diese Wissenschaftler nur ein wenig schneller gewesen wären! Sie seufzte.
Damals wusste ich nicht, was sie damit meinte. Ich war erst sieben. Aber wenn sie mir die Haare bürstete, wenn sie mir ihre geheimen Gedanken anvertraute, hörte ich mit großem Interesse zu, weil es mich von den Zehenspitzen bis zum Scheitel mit Freude erfüllte und ich wünschte, es würde niemals enden.
Aber das tat es immer. Unsere Mutter wusste, wie sie unseren Hunger nach ihr am Leben erhalten konnte.
Als wir klein waren, fragte sie uns, ob sie hübsch sei, das hübscheste Mädchen, das wir je gesehen hätten, und ob sie klug sei, die klügste Frau, die wir kannten, und dann natürlich .
Bin ich eine gute Mutter? Die beste Mutter, die ihr euch wünschen könnt?
Dabei lächelte sie stets und sah uns mit großen Augen an. Damals antworteten Emma und ich mit ernster Stimme ja. Dann schnappte sie nach Luft, schüttelte den Kopf und drückte uns so fest, als sei die Aufregung darüber, so wunderbar zu sein, mehr, als sie ertragen konnte, als müsste sie diese Erregung unter Aufbietung körperlicher Kraft aus ihrem Leib herauspressen. Nach dem Drücken folgte ein langer Seufzer, um die Anspannung, die ihr in den Knochen gesessen hatte, zu lösen. Die Erregung verließ ihren Körper in heißen Atemstößen und erfüllte den ganzen Raum. Sie selbst wurde vollkommen ruhig und zufrieden.
Zu anderen Zeiten, wenn sie traurig oder wütend war, weil die Welt so grausam zu ihr war, weil niemand sah, wie außergewöhnlich sie war, waren wir diejenigen, die diese Worte sagten, in dem Wissen, dass es sie aus ihrer Düsternis herausreißen würde.
Du bist die beste Mutter auf der ganzen großen Welt.
Und wir glaubten es, Emma und ich, damals, als wir so jung waren.
Ich erinnere mich nur bruchstückhaft an diese Momente, und die Bruchstücke passten irgendwann nicht mehr zusammen, wie verwitterte Glasscherben, deren Ränder abgeschliffen waren. Starke Arme, die kräftig zudrückten. Der Geruch ihrer Haut. Sie benutzte Chanel No°5, das, wie sie uns erklärte, sehr teuer sei. Wir durften die Flasche nicht berühren, aber manchmal hielt sie uns den Flakon hin, und wir inhalierten den Duft, der noch am Zerstäuber haftete.
Andere Erinnerungsfragmente enthalten den Klang ihrer Stimme, wenn sie schrie und sich in ihrem Bett hin und her warf, während ihre Tränen das Bettzeug benetzten. Wie ich mich hinter Emma verstecke. Emma, die ruhig hinsieht, sie mustert und Berechnungen anstellt. Wie wir aufwachen und ihre Euphorie sehen. Wie wir aufwachen...
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