Schweitzer Fachinformationen
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Medan, November 1970
VON WEIT WEG drangen Pfeiftöne in sein Unterbewusstsein. Während Max langsam zu sich kam, versuchte er, das Geräusch einzuordnen. War es ein Vogel? Da war es wieder. Pfiff. Pause. Pfiff. Er schlug die Augen auf. Die Umgebung war ihm fremd. Ein kleines, sonnendurchflutetes Zimmer. Dem Bett genau gegenüber an der Wand ein Regal aus Rattan. Vollgestopft mit Puppen, Plüschtieren und Stapeln bunt bedruckter Schachteln. Kinderspiele.
Sein Blick wanderte weiter und blieb am Fenster über dem schmalen Schreibtisch aus hellem Holz hängen. Das Licht blendete, er blinzelte. Die zwei Fensterflügel boten ihm getrennte Bilder eines tropischen Gartens: im linken Rahmen, auf und ab schwankend, mehrere Palmzweige. Die Ränder vom Wind zerfasert. Im rechten Ausschnitt ein leuchtend roter Fleck. Ein blühender Strauch. Max war erleichtert, als ihm nach kurzem Überlegen der Name des Gewächses einfiel: Bougainvillea. Er hatte die Büsche, die in allen erdenklichen Farben blühten, bei seinem Zwischenstopp in Singapur im Botanischen Garten bewundert. Der Aufenthalt war erst zwei Tage her, aber die Erinnerungen an diese aufregende Stadt lagen heute Morgen verschwommen wie Nebel in seinem schweren Kopf.
Der bunte Teppich auf dem Steinfußboden war aus einer natürlichen Faser geflochten. Braun, Gelb und Grün überwogen in dem längsgestreiften Muster. In der Verlängerung des Teppichs, links von Fenster und Schreibtisch, eine Tür. Er nahm an, dass sie in den Garten führte.
Während Max noch den Kleiderschrank direkt neben seinem Bett begutachtete, hörte er Geräusche im Flur.
»Warum pennt der Hauslehrer immer noch?« Die Stimme des Jungen klang ungeduldig und fordernd. »Ich gehe jetzt rein und wecke ihn auf!«
»Das machst du nicht, Alex! Lass ihn ausschlafen und in Ruhe hier in Medan ankommen.«
Max richtete sich auf. Annes Stimme! Es war spät geworden gestern Abend. Nach der Landung auf dem schmucklosen Flughafen hatten sie die zeitaufwendigen Einreiseformalitäten hinter sich gebracht. Vor dem schäbigen, mit Wellblech gedeckten Ankunftsgebäude wartete der Chauffeur von Robert Stoll neben dessen Auto, einem älteren, cremefarbenen Mercedes. Ein grün lackierter, zweitüriger Geländewagen mit Ladefläche und dem Logo von Stolls Firma auf den Türen - ein R, um das sich ein S schlang, darunter in weißen Buchstaben International Trading Pte Ltd Medan - stand für das Gepäck der Reisenden bereit. Nachdem Max den beiden indonesischen Fahrern vorgestellt worden war, ging es über schwach beleuchtete Straßen mit sehr geringem Verkehr zum Haus der Stolls. Dort erwartete sie trotz der späten Stunde die Haushälterin der Familie. Ayu war eine klein gewachsene, rundliche Person. Sie hatte einen geblümten Sarong um ihre kräftigen Hüften geschlungen. Darüber trug sie eine weiße Bluse. Zwei dunkle, warme Augen über den Pausbacken schauten Max neugierig an.
»Selamat datang, Tuan Max«, sagte sie freundlich und lief dann zu dem Geländewagen, um beim Abladen der Gepäckstücke zu helfen.
Wieder der Pfiff! In dem fremden Bett sitzend erinnerte sich Max jetzt an die Bemerkung von Lotte, als er gestern Abend in ihr Kinderzimmer geführt und ihm eröffnet worden war, dass dieser Raum für die nächsten elf Monate sein Domizil sei.
»Ich musste wegen dir hier ausziehen und muss mir jetzt ein Zimmer mit Alex teilen«, hatte Lotte klargestellt und sich umgeblickt wie eine Schlossherrin, die ihr Gemäuer nach verlorener Schlacht an den siegreichen Feind übergeben muss.
Der ernste Gesichtsausdruck der Achtjährigen hatte keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass sie dieses Arrangement mit ihrem Hauslehrer nicht nur als eine persönliche Zumutung, sondern auch als zutiefst ungerecht empfand.
»Und bring mir meine Puppen nicht durcheinander«, hatte sie noch mit besorgtem Besitzerblick auf das Rattanregal hinzugefügt. Angesichts des Chaos auf den Regalflächen ging von dieser Erwartung eher keine Gefahr für ihn aus.
»Mama, ist Max krank?« Das war jetzt Lottes Stimme vor der Tür.
»Nein. Er schläft heute einfach etwas länger«, hörte er ihre Mutter antworten. »Aber vielleicht sollten wir ihn jetzt wirklich wecken. Sicher will er sich seine neue Heimat bei Tageslicht .«
Max konnte den Rest des Satzes nicht mehr hören, denn in diesem Moment flog die Tür auf und die Geschwister stürmten herein.
»Hallo Hauslehrer, du bist eine Schlafmütze!« Alex stand sofort neben dem Bett und zog ihn am Arm. Seine wuscheligen braunen Haare standen in alle Richtungen vom Kopf ab. Lotte blieb etwas weiter weg im Zimmer stehen und beobachtete ihn mit großen Augen. Sie hatte ihre feinen dunkelblonden Haare heute zu einem schmalen Zopf geflochten.
»Hallo, ihr zwei! Schön, euch zu sehen«, sagte Max. »Ich kann es noch gar nicht glauben, dass ich jetzt bei euch bin. Und dein Zimmer ist richtig gemütlich, Lotte!« Er verschwieg, dass er die Matratze zu hart fand und das Bettgestell für ihn zu kurz war.
Er stand auf und folgte Alex und Lotte durch die Tür.
»Guten Morgen, Max. Herzlich willkommen in Medan«, begrüßte ihn Anne und nahm ihn in den Arm. Sie war barfuß, trug enge weiße Jeans und ein blaues Poloshirt, das perfekt zu ihren Augen passte.
»Ich freue mich so sehr, dass du hier bist. Ich hoffe, dass du eine wundervolle Zeit in Indonesien haben wirst. Robert und ich werden alles tun, damit du dich hier wohlfühlst.«
»Danke, Anne. Wo ist Robert eigentlich?«
Anne lachte kurz auf. »Der ist schon lange außer Haus. Er steht jeden Morgen um halb sechs auf, frühstückt eine Kleinigkeit und lässt sich dann vom Fahrer ins Büro bringen.« Sie musterte Max eine Weile gedankenverloren. »Er lässt dich grüßen«, sagte sie dann. »Ihr seht euch heute Abend. Ich organisiere uns jetzt erst mal ein schönes Frühstück. Und trödle nicht so lange im Badezimmer rum!«
Sie lachte, und Max fühlte sofort wieder die magische Anziehung, die von dieser Frau auf ihn ausging. Es war schön, ihr so nah zu sein. Aber zunehmend beschlichen ihn auch Sorgen. In den vorangegangenen sechs Jahren, in denen sie sich jeden Sommer während Annes Urlaub in Deutschland getroffen hatten, und in den letzten vier Wochen auf dem Schiff bis Singapur war er mit ihr und den Kindern allein gewesen. Hier in Medan würde er als Hauslehrer fast ein Jahr lang auch mit Annes Mann auf engstem Raum leben. Er konnte nur hoffen, dass diese neue Konstellation keine größeren Komplikationen erzeugte.
»Kommst du jetzt endlich?« Alex wurde ungeduldig.
Max folgte ihm und Lotte in das Badezimmer, das sie sich in Zukunft teilen würden. Waschbecken und Toilettenschüssel unterschieden sich in nichts von dem, was er aus Deutschland kannte. Eine Badewanne oder eine Dusche suchte er aber vergebens. Stattdessen sah er in einer Ecke einen hüfthoch gemauerten, bis zum Rand gefüllten Wassertrog, dessen Seiten gefliest waren. Auf seinem zwanzig Zentimeter breiten Rand stand eine Schöpfkelle mit einem hölzernen Griff.
»Wir haben hier keine Dusche, wie du das gewohnt bist, Hauslehrer. Wenn du duschen willst, stellst du dich hier neben den Trog und kippst dir mit dem Schöpfer Wasser über den Kopf. Dann einseifen, noch mal Wasser drüber und fertig.«
»Kaltes Wasser?«, fragte Max und schaute Alex ungläubig an.
»Mensch, Hauslehrer, du Frostbeule. Du bist in den Tropen! Das Wasser hier ist immer lauwarm.«
»Und wohin fließt es ab?«
»Na, hier hin!«
Jetzt erst fiel Max auf, dass der Fußboden betoniert war und nach allen Seiten leicht anstieg. Das Wasser lief zwangsläufig zur Mitte des Raums und in das mit einem Sieb abgedeckte Loch, auf das Alex zeigte.
Als Max wenig später in kurzer Hose, T-Shirt und mit nassen Haaren in seinem Zimmer vor dem frei geräumten Kleiderschrank stand und überlegte, ob er schon seine Koffer auspacken sollte, steckte Lotte ihren Kopf zur Tür herein.
»Frühstück ist fertig. Mama sagt, du sollst kommen.«
Max entschied sich, barfuß zu gehen. Der Steinfußboden fühlte sich angenehm warm an.
Er folgte Lotte den Flur entlang in einen großen, lichtdurchfluteten Raum mit freiem Blick in den Garten. Auf dem langen Esstisch an der linken Fensterfront stand eine kugelrunde Vase mit einem Strauß violetter Blüten. Rechter Hand gruppierten sich mehrere tiefe Rattansessel, die mit dicken Batikkissen belegt waren.
Die Sitzgarnitur erinnerte ihn sofort an das malaysische Gästehaus, in dem er vor knapp einer Woche mit Anne und den Kindern bei ihrem eintägigen Landausflug übernachtet hatte. Ihr Schiff, die Holsatia, hatte in dieser Zeit im Hafen von Port Swettenham gelegen und dort einen Teil der Fracht umgeschlagen.
Zwei raumhohe Türflügel standen weit offen und führten über mehrere breite Steinstufen hinweg in den gepflegten Garten mit kurz geschnittenem Rasen und einer lockeren Ansammlung von blühenden Stauden und...
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