Schweitzer Fachinformationen
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Lazy
Elsie lacht, wenn ich sie aufs Ohr küsse. Bei anderen Küssen bleibt sie ernst. Fußsohle, Bauch, Nippel: ernst.
Wenn wir uns lieben, notiert sie das nachher in ihrem Moleskine-Buch: elsielazy mit einem Kreis drum.
»Elsie, ich liebe dich.« »Ich auch«, sagt sie. »Ich meine, ich liebe dich auch.« Sie ist genau.
Wir haben in der ersten Vorlesung nebeneinander gesessen, Zufall. Ein Bleistift fiel ihr runter und rollte in meine Richtung, Zufall. Wir bückten uns gleichzeitig. Unsere Köpfe berührten sich.
Erstes Mal berühren: Montag. Erstes Mal Arm um ihre Schulter legen: Dienstag. Erstes Mal küssen: Mittwoch. Erstes Mal das Ganze: Donnerstag.
So schnell ging das alles. Sie hatte schon mal, ich noch nie. Am liebsten denke ich an den Montag zurück, an das Berühren der Köpfe, Haar an Haar, geduckt unter der Tischplatte. Eine Ladung lautlose Erotik. Rotbraunes Elsie-Haar, buschig wie ein Eichhörnchenschwanz.
Der Titel der Vorlesung war »Die Schatten der Sklaverei im kolonialistischen Denken der Gründerzeit«. Gehört zum Basismodul 1. Wissenschaftliche Beschäftigung mit Quellen. Zu schreiben ist ein kurzes Referat. Zu schreiben ist eine Schilderung von Elsies Haut, die ist fein, kühl und fest. Herr Professor, stellen Sie sich vor, Sie fahren mit der Fingerspitze über einen frischen Champignon. So fühlt sich die Haut Ihrer Studentin Elsie Lichtenhahn an. Der Duft? Kein Duft. Außer ganz leicht nach Minze. Und übrigens ist sie zart hellbraun.
Wenn wir gehen, hüpft sie. Wenn wir laufen, springt sie. Wenn wir reden, saust sie. Sie sagt »Es ist zwölf, ich habe Hunger, gehen wir essen« in drei Sekunden. Ich brauche dafür fünf. Ich hab es gemessen. Was ich da mache, wollte sie wissen. »Ich messe deine Redegeschwindigkeit.« »Lazy, du bist crazy.« Dafür brauchte sie eineinhalb Sekunden. Sie hat eine Sprungfeder. Sie ist ein Eichhörnchen. Sie ist mein rotbraunes Glück.
Seit sie bei mir ist, bin ich nicht mehr bei mir, ich bin außer mir.
Ich kann es nicht fassen, dass es wahr sein soll.
Liebe.
Fünf Vorlesungen haben wir gemeinsam. Nebenbei schnuppert sie bei den Germanisten. So hat sie das gesagt, und gleich war ich eifersüchtig. Ich hab halb versteckt gewartet, bis die Germanisten aus dem Hörsaal kamen, und hab sie mir angesehen. Da sind durchaus ansehnliche Typen dabei, und zwei, drei sehen bestimmt besser aus als ich - eine gute Sprungzone für ein Eichhörnchen. »Du sollst nicht an den Germanisten schnuppern«, sag ich, »nur an mir.« Elsie lacht. Sie lacht viel. Sie lacht schön. Klingt wie ein leises Klimpern.
»Ich hab bereits geschnuppert«, sagt sie. »Sie riechen nach Muschg und Grass und deutschem Deo.«
»Und ich?«
»Nach Lazy Laval. Nach Lazy Laval Extra Spray.«
Sie will alles wissen. Über mich: Lazar Laval, genannt Lazy. Über Vater und Mutter. Über Geburtsort und Wohnort. Über Kindergarten und Internat. Ich erzähle und erzähle. Ich hab gar nicht gewusst, dass ich so viel über mich weiß. Wenn ich mit Erzählen ins Stocken komme, schubst sie mich wieder an wie einen Reifen, der schwankt, bevor er kippt. Mir fällt wieder ein, woran ich seit Jahren nicht mehr gedacht hab. Das Nachthemd meiner Mutter. Die gelben Finger des Mathelehrers. Der gemeine Sam im Haus Torstraße. Dann sind die Freundinnen dran. Rita. Carla. Elsie will wissen, was ich mit ihnen gemacht hab, wo ich sie getroffen, wo ich sie angefasst hab. Rita war nur in meinen Vorstellungen meine Freundin, ich war dauernd mit ihr im Bett. Mit Carla hab ich mich im Schwimmbad getroffen, einen Sommer lang. Als ich ihr ein Eis holte und es in den Sand fallen ließ, sagte sie »Arschloch«, da hatte ich genug von ihr. Elsie lacht.
Jetzt solle sie mal erzählen, sag ich, aber Elsie weicht aus und schubst mich wieder in meine Erinnerungen, und ich grabe irgendwelche Kleinigkeiten aus. Eine Papierkrone von der Drittklasslehrerin fürs beste Diktat. Ein angerissenes Ohr nach einer Schlägerei im Internat.
Elsie will kein Licht, wenn wir uns lieben. »Wo ist denn hier der Eingang«, sag ich und suche sie mit dem Mund ab und lande in der Kniekehle, sie lacht und sagt »Such weiter«, und wenn meine Zunge die Tür aufmacht, wird sie still.
Wer das war beim ersten Mal, will ich wissen, da weicht sie wieder aus.
Als Elsie zum ersten Mal in die Torstraße kommt, tritt gerade die Alte von oben, die Maier, aus der Haustür, sagt »Aha« und »Schönen Abend«. Im Treppenhaus ist es still, in der Wohnung noch stiller, Juan ist für vier Wochen weg. »Hast du Hunger«, sag ich, hat sie nicht, das ist gut, in der Küche gibt es nichts als Brot von vorgestern und Käse aus der Steinzeit. Elsie schaut sich erst Juans, dann mein Schlafzimmer an, sie findet meine alten CDs von Katie Melua, setzt sich bei »Nine million bicycles in Beijing« auf die Bettkante, ich setz mich neben sie, sie sagt mit Maiers Stimme »Aha«, ich leg den Arm um sie, sie sagt mit Maiers Stimme »Schönen Abend«. Dann kippen wir rückwärts.
Zum ersten Mal tut es gut, in der Torstraße zu wohnen, Elsie ist beeindruckt, als sie hört, die Wohnung gehöre mir und Juan sei mein Untermieter. Jedes Mal, wenn wir die Wohnungstür aufschließen, sagt sie »Aha« und »Schönen Abend«. Auch mitten am Tag oder mitten in der Nacht. Bevor sie sich auszieht, schließt sie die Läden und legt Musik auf. Manchmal schaue ich in den Spiegel und frage: Bin ich das, immer noch?
elsielazy mit einem Kreis drum, manchmal zweimal am Tag.
Zu ihr nach Hause fährt man mit dem Dreizehner bis Endstation. Wenn sie mich mitnimmt, ruft sie vorher an, dann wird ein Gedeck mehr aufgelegt. Die Mutter na ja. Der kleine Bruder erfreut. Der Vater korrekt. Das Haus leicht angebonzt. Lichtenhahns haben nichts gegen mich. Ich bin Elsies netter Begleiter. Sie stellen sich nicht vor, wie sich der Kopf des Begleiters zwischen Elsies Beine schiebt. Dass wir in den Semesterferien nach Marokko fliegen wollen, ist ihnen recht. Einfach aufpassen bei rohem Obst und Gemüse.
Es müsste ein besseres Wort für Liebe geben.
Dasphänomendasmichpermanentinfreudeundhoffnungversetztundallesrundumverändertsogardenbodenunddieluftdiemichberührenundmirdasgefühlgibtichseisowohleinesaiteamzerspringensowieeinstückbutteramzergehenundmireinenschleiervordieaugenlegthinterdemdieweltnurnocheinezweidimensionalekopiederrealitätistwieeinezeichnungindersturmundwindstillediegleichekrafthaben.
Etwa so, einfach kürzer.
Juan ist zurück von seiner Fortbildung in Lausanne, hat den Kühlschrank aufgefüllt, und er kocht. Es riecht wieder nach was in der Wohnung, getoastetem Brot, Zwiebeln, Pfefferschoten. Mit Elsie herzukommen ist nicht mehr so schön wie gehabt, als wir wie zwei Fromme mitten am Tag den leeren Dom betraten und hinter uns das Portal abschlossen. Nichts gegen Juan, benimmt sich herzlich, so wie er es lernt in der Hotelfachschule, Elsie hier, Elsie da. Zweimal hat er für uns gekocht, Risotto, Tortilla, und Elsie hat gesagt »himmlisch«.
»Nicht schlecht, deine Elsie«, sagt Juan, ich weiß nicht, soll mir das gefallen oder nicht, es klingt wie »nicht übel, deine Vespa«. Egal. Er sagt »deine Elsie«. Und das ist die Wahrheit.
Seit ich an einem Mittag am Limmatufer meinen Joghurt in ihren Schuh geleert und ausgelöffelt hab, bin ich Crazylazy. Hab ihr ein Schneckenhaus geschenkt, mit Kaugummi verschlossen und drin der Ring, den sie mal im Schaufenster bewundert hat. Crazylazy. Hab das T-Shirt, in dem ich nachts von ihr geträumt hab, zusammengerollt und vakuumverpacken lassen. Crazylazy. Hab ihr zum fünfzigsten Beischlaf eine Perle, echt, bitte sehr, in den Bauchnabel gesteckt. Crazylazy. Hab, weil sie verrückt ist nach Kirschen, im Internet nach Kirschenseife gesucht, aber keine gefunden. Hab ihre Schritte von Uni bis Torstraße gezählt, aber weiß jetzt nichts damit anzufangen. Hab gefragt, ob sie mich heiraten will, aber sie hat gelacht.
Crazylazy.
Zehn geschichtswissenschaftliche Titel sollen aus der Literaturliste ausgewählt werden. Elsie ist bereits am Lesen. Ich nicht. Man solle im ersten Semester damit anfangen, sagt sie, es stehe auf dem Merkblatt. Sie weiß immer, was auf den Merkblättern steht. Ich merke mir kaum was. Höchstens Elsies Tage. An den Vorlesungen interessiert mich vor allem, ob mir Elsie einen Platz freigehalten hat. Ich studiere Elsologie. Der Sommer ein warmer Wirbel und ich ein Taumeltier.
Man reist nicht nach Marokko im Juli, sondern zur Zeit der Mandelbaumblüte und so, aber Elsie will nun mal in den Antiatlas, auch bei vierzig Grad. Aber erst sind wir für zwei Tage in Essaouira am Atlantik. Nach einer Nacht in einem öden Hotelkasten, wo das Kissen nach Katzenpisse stank, hab ich das Blue Light gefunden, ein Gästehaus mit sechs Zimmern. Hab uns als Ehepaar eingetragen, und der Mann am Empfang hat gelacht. Der Fensterrahmen ist hellblau, auch die Decke und das einzige Tuch im Bad und der Himmel über den Dächern. Weil das schön ist, will sich Elsie erst mal hinlegen, um elf Uhr morgens, um zwei Uhr schreibt sie elsielazy mit Kreis drum in ihr Notizbuch, und dann ziehen wir los, zum Strand.
Elsie ölt sich ein wie ein Stück Braten. Elsie mit Riesenbrille schaut aus wie ein Insekt. Elsie kann mit einzelnen Zehen wackeln. Elsie verschränkt die Hände auf dem Bauch wie zum Gebet. Elsie ist so, dass Männerblicke an ihr hängen bleiben. Und das Meer ist auch schön.
Das ist - nach dem Schulausflug in die Bretagne - mein zweites Mal am Meer. New York und Amsterdam mit Vater zählen nicht, da hab ich kein Meerwasser angefasst. Elsie war schon elf Mal am Meer. Immer mit Familie. Sie...
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