Warten auf das Jüngste Gericht
Kapitel 1: Johannes und das Chaos des Alltags
Johannes, ein bodenständiger Christ mittleren Alters, lebte in einer Welt, die ständig zwischen seinem tiefen Glauben und den unerbittlichen Anforderungen des modernen Lebens hin- und hergerissen war. Seine Tage waren geprägt von den gleichen gewohnten Pflichten, kleinen Freuden und nagenden Fragen über den Sinn des Lebens. Das Gewicht der Routine lastete schwer auf seinen Schultern, und manchmal fühlte er sich, als würde er in einem endlosen Kreislauf gefangen sein, in dem die Zeit unbarmherzig verging und der Alltag ihn mit einem monotonen Rhythmus umschloss.
Jeden Morgen um Punkt 6 Uhr riss ihn sein Wecker aus dem Schlaf. Das schrille Piepen durchbrach die Stille der Nacht und bohrte sich in seine Träume, in denen er oft über weitläufige Felder wanderte oder in einer kleinen, bescheidenen Kapelle saß, umgeben von warmem, flackerndem Kerzenlicht, das in der Dunkelheit tanzte. Mit einem müden Stöhnen streckte er die Hand aus, um den Wecker abzuschalten, und blieb noch einen Moment mit geschlossenen Augen liegen. Die kühle Morgenluft umhüllte ihn sanft, während das leise Summen der Stadt, die langsam erwachte, durch das geschlossene Fenster drang und sich mit dem Gesang der ersten Vögel des Tages vermischte. Der Tag hatte begonnen, und damit die tägliche Herausforderung, sich dem Chaos des Lebens zu stellen.
Bevor seine Gedanken ganz erwacht waren, fand er sich bereits in der kleinen Küche seiner bescheidenen Zwei-Zimmer-Wohnung wieder. Die Wände waren in einem sanften Gelbton gestrichen, der einen Hauch von Wärme verlieh, und an den Wänden hingen einige Familienfotos und alte Kunstwerke, die Erinnerungen an glücklichere Zeiten bewahrten. Johannes griff nach der Kaffeemaschine, die auf der Arbeitsplatte stand, und füllte sorgfältig Wasser und frisches Kaffeepulver ein. Das Aroma des frisch gemahlenen Kaffees stieg in die Luft, als er den Startknopf drückte. Während das Gerät leise vor sich hin blubberte, ließ er seinen Blick über den kleinen Esstisch schweifen. Dort lag seine abgegriffene Bibel, deren Seiten durch jahrelanges Umblättern gewellt und vergilbt waren. Der Leder-Einband war stark abgenutzt, die Ecken bröckelten, als hätten sie die Last der Jahre getragen, die sie durchlebt hatte.
Mit einer routinierten Bewegung klappte er die Bibel auf und ließ seinen Blick über die vertrauten Worte gleiten. Heute fiel sein Blick auf Matthäus 6,34: "Darum sorgt euch nicht um morgen, denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen." Ein leises Schnauben entglitt ihm. "Schön wär's", murmelte er und nahm hastig einen Schluck Kaffee - viel zu heiß. Die plötzliche Hitze brannte auf seiner Zunge, und er verzog schmerzhaft das Gesicht, stellte die Tasse hastig ab und murmelte ein unbewusstes Fluchen, das ihm sofort leidtat. "Herr, vergib mir", seufzte er leise und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als wollte er die Sorgen des bevorstehenden Tages abwischen. Der Blick aus dem Fenster zeigte die graue Stadt, in der der Regen leise gegen die Fensterscheiben prasselte und den Asphalt glitschig machte.
Sein Arbeitsplatz war nicht weit entfernt, aber der Weg dorthin war jedes Mal eine Geduldsprobe, die ihn an seine Grenzen brachte. Der Berufsverkehr war ein täglicher Test für seine christliche Gelassenheit. Autos drängelten sich auf den Straßen, Hupen ertönten laut und ungeduldige Menschen hetzten mit verkniffenen Mienen durch die belebten Straßen. Der Luftzug der vorbeifahrenden Fahrzeuge brachte den Geruch von Abgasen und frischem Brot von den Bäckereien mit sich. Die U-Bahn war überfüllt, ein schwüler Mix aus Parfum, Schweiß und zu laut geführten Telefongesprächen machte die Fahrt unangenehm. Johannes umklammerte die kalte Metallstange, an der er sich festhielt, und schloss für einen Moment die Augen. "Herr, gib mir die Kraft, den Tag zu überstehen", betete er in Gedanken, während sich die U-Bahn durch die Dunkelheit der Tunnel schlängelte. Er hörte das Rumpeln der Gleise und die abgehackten Ankündigungen der Haltestellen, die in der kargen Atmosphäre der Bahn wie ein schwaches Licht in der Dunkelheit klangen.
Im Büro warteten neue Herausforderungen auf ihn. Er war Steuerberater, und sein Job bestand oft darin, Kunden dabei zu helfen, Wege zu finden, weniger Steuern zu zahlen. Das Büro war eine Mischung aus hektischem Treiben und stickiger Luft, durchzogen von dem typischen Geruch nach Druckerpatronen und Kaffee. Manche Kunden fragten nach legalen Möglichkeiten, andere drängten auf moralisch fragwürdige Tricks. "Johannes, du hast doch ein gutes Herz - du kannst mir doch sicher helfen, ein Schlupfloch zu finden?" Solche Fragen hörte er täglich, und sie hinterließen einen bitteren Nachgeschmack. Er wollte ehrlich sein, Gerechtigkeit wahren, doch sein Chef erinnerte ihn immer wieder daran, dass Ehrlichkeit nicht das oberste Prinzip in der Welt der Finanzen war. "Wir sind hier nicht in der Sonntagsschule, Johannes. Die Kunden wollen Lösungen, keine Predigten", hatte sein Chef einmal spöttisch gesagt. Johannes fühlte sich oft gefangen zwischen seinem Wunsch nach Integrität und den Erwartungen, die an ihn gestellt wurden.
Die Mittagspause brachte keine Erleichterung. Während seine Kollegen lachten und über ihre Urlaubspläne sprachen, saß Johannes mit einem lieblosen Sandwich aus der Bäckerei an der Ecke in der Kantine. Der große, helle Raum war erfüllt von fröhlichem Geplapper, dem Klirren von Geschirr und dem Duft von frisch gebrühtem Kaffee, der den Geruch von industriell gefertigtem Essen überlagerte. Johannes scrollte durch seine Bibel-App, suchte Trost in den Psalmen, aber die Worte schienen ihm heute fern und unerreichbar. "Warum ist die Welt so ungerecht?", fragte er sich verzweifelt, fand jedoch keine Antwort, nur ein nagendes Gefühl der Frustration und Einsamkeit. Der Nachmittag zog sich zäh dahin, als ob die Zeit selbst gegen ihn arbeitete. Telefone klingelten unablässig, Tastaturen klapperten im monotonen Takt, Akten wurden hektisch durchblättert. Alles um ihn herum wirkte leer, bedeutungslos und drückend.
Nach Feierabend folgte der Gang zum Supermarkt, ein weiterer Bestandteil seiner eintönigen Routine, der sich wie ein ständiger Begleiter in seinem Alltag eingenistet hatte. Der kleine, nahgelegene Markt, den er regelmäßig besuchte, war zu dieser Uhrzeit stets überfüllt, ein pulsierendes Zentrum des Lebens, das sowohl seine Hektik als auch seine Trivialität in den Vordergrund rückte. Einkaufswagen ratterten laut über den glatten Boden, das Geräusch war wie das monotone Schlagzeug eines Alltags, der sich in immer gleichen Mustern wiederholte.
Die Luft war erfüllt von einer Mischung aus verschiedenen Gerüchen: dem verlockenden Duft frisch gebackenen Brotes, dem scharfen Aroma von Gewürzen aus der international angehauchten Lebensmittelabteilung und dem süßlichen Geruch von Obst, das in bunten Farben in den Regalen lag. Überall um ihn herum hörte er die Stimmen der Menschen, die sich angeregt über die neuesten Angebote unterhielten. "Hast du die Preise für die Äpfel gesehen? Die sind im Angebot!" oder "Ich kann nicht glauben, dass die Avocados schon wieder so teuer sind!", hörte er von zwei Frauen, die an einem Regal voller frischer Produkte standen. Diese banalen Gespräche prägten den Raum, während er durch die Gänge schob und sich in seinen Gedanken verlor.
Mit einem kurzen Moment der Entschlossenheit nahm er sich vor, gesund einzukaufen. Er wusste, dass es an der Zeit war, seine Essgewohnheiten zu ändern, um sich besser zu fühlen - sowohl körperlich als auch geistig. Doch während er die Gänge entlangschlenderte, gesellte sich eine leise Stimme in seinem Kopf hinzu, die ihn an seine bisherigen Entscheidungen erinnerte. So schob er den Wagen durch die Gänge, seine Augen schauten über die bunten Verpackungen, die mit vielversprechenden Bildern und verlockenden Schriftzügen um seine Aufmerksamkeit buhlten. Snacks, Fertiggerichte und zahlreiche Tiefkühlprodukte schienen ihn regelrecht anzuziehen, als ob sie ihm eine Flucht aus der Monotonie seines Alltags versprachen.
Sein Blick fiel auf die Regale mit frischem Gemüse und Obst - knackige Karotten, leuchtend rote Paprika und saftige Tomaten. Doch der Gedanke, sich einen großen Salat zuzubereiten, wurde schnell von einem anderen, verlockenderen Gedanken verdrängt. Die verpackten Tiefkühlpizzas strahlten aus der gegenüberliegenden Ecke des Marktes, mit ihren bunten Bildern und verlockenden Aufschriften, die sofort seine Aufmerksamkeit erregten. "Schalen Trost und Genuss für einen langen Tag" schienen sie ihm ins Ohr zu flüstern. Es war die Art von Trost, die er suchte, und obwohl er wusste, dass es keine Lösung für seine inneren Konflikte war, konnte er dem Drang, eine der Pizzen in seinen Korb zu legen, nicht widerstehen.
Mit einem inneren Seufzer und einem schwachen Gefühl der Enttäuschung über sich selbst fand er sich schließlich wieder an der Gefriertruhe, die die verführerischen Tiefkühlpizzas beherbergte. Er griff nach der gewohnten Marke, die er oft gekauft hatte, und legte sie in seinen Wagen. "Einmal darf ich mir das gönnen", redete er sich ein, während er den Wagen weiter durch die Gänge schob. Der Gedanke, dass dies nur eine vorübergehende Lösung war, schob er tief in sein Hinterkopf.
Seine Augen wanderten über die bunten Verpackungen, die fast hypnotisierend auf ihn wirkten, und ein weiteres Seufzen entglitt ihm, als er an die verschiedenen Möglichkeiten dachte, die er hätte wählen können. Aber das Vertraute hatte sich in diesem Moment als zu verlockend herausgestellt, und die Vorstellung, den Abend mit einer schnellen, unkomplizierten Mahlzeit ausklingen zu lassen,...