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Helen betastet eine Nike-Statue
«Nur noch eine winzige Kleinigkeit, und dann bist du fertig.» Sanft zupfte Mrs. Hopkins ihr ein letztes Löckchen zurecht und trat einen Schritt zurück, um ihr Werk mit kritischen Augen zu betrachten, dann nickte sie zufrieden. «Mr. Anagnos hat recht - du siehst wirklich genauso aus wie Miss Frances Fulsom!»
Annie warf einen kurzen Blick in den Spiegel über Mrs. Hopkins' Kommode, und ein freudiger Schauer lief ihr über den Rücken. Es erschien ihr immer noch wie ein Wunder, dass sie, die die ersten sechzehn Jahre ihres Lebens so gut wie blind gewesen war, sich tatsächlich selbst im Spiegel sehen konnte! Ja, sie konnte selber sehen, dass sie Frances Fulsom ähnelte, dem Mädchen, das die Braut von Präsident Cleveland war! Mrs.Hopkins hatte Annies dunkles Haar hoch aufgetürmt über dem Kopf festgesteckt, ihr über der Stirn mit ihrem eigenen Brenneisen Löckchen gelegt, und in ihrem hübschen Musselinkleid mit den halblangen Ärmeln und den drei mit Spitzen besetzten Rüschen hätte man Annie tatsächlich für eine Braut halten können. Flüchtig überlegte sie, ob die Braut im Weißen Haus wohl noch aufgeregter war als Annie Sullivan in diesem Augenblick.
«Nun», sagte Mrs. Hopkins und wandte sich einer geheimnisvollen Schachtel zu, die auf dem Bett lag. Annie stockte der Atem, als aus den vielen Lagen von Seidenpapier eine breite Schärpe aus glänzendem rosa Satin hervorkam. Die Finger der älteren Frau streichelten darüber hin, ehe sie Annie anblickte. «Sie gehörte Florence», sagte sie ruhig. «Sie trug die Schärpe zu ihrer Examensfeier. Ich möchte, dass du sie heute trägst.»
Das war wie ein Ritterschlag, denn Annie wusste, wie hoch in Ehren Mrs. Hopkins alles hielt, was ihrer Tochter gehört hatte, deren Leben so kurz gewesen war.
«Und nun habe ich wieder ein Mädchen, das seinen Abschluss feiert!» Mrs. Hopkins strich noch ein letztes Mal über die Schärpe und nickte zufrieden. «Du siehst reizend aus! Nun geh! Mr. Anagnos würde es sicher nicht gefallen, wenn die Festrednerin zu spät käme.»
Das Gefühl der Unwirklichkeit, das Annie den ganzen Tag über empfunden hatte, verstärkte sich, als sie Tremont Temple erreichte, wo die Abschlussfeiern des Perkins-Institutes, der Blindenschule von Massachusetts, abgehalten wurden. War das wirklich wahr, dass sie, Annie Sullivan, tatsächlich die Festrede für die Examensklasse des Jahrgangs 1886 halten sollte? Vor den Stufen zum Podium lächelte ihre Lieblingslehrerin, Miss Mary Moore, sie an, als sie ihr ein Bukett rosafarbener Rosen am Gürtel festmachte, deren Duft sie sanft betäubte. Dann ergriff Mr. Anagnos, der Direktor von Perkins, ihre Hand und führte sie zu ihrem Platz; er flüsterte ihr ein paar ermutigende Worte zu, die sie vor lauter Aufregung kaum vernahm. Wieder schauderte sie, aber diesmal nicht vor Freude!
Das Publikum! Wie konnte sie dem nur gegenübertreten! So viele Menschen! Und dann noch so berühmte wie Mrs. Julia Ward Howe, die Verfasserin von Battle Hymn of the Republic, und Mrs. Livermore, eine begeisterte Frauenrechtlerin, sowie der Gouverneur von Massachusetts. Wie im Traum hörte sie die Musik, die Ansprachen - sie fühlte, wie ihr eiskalte Schauer den Rücken herunterrieselten, ihre Kehle sich von Minute zu Minute mehr zusammenschnürte, und plötzlich war sie an der Reihe. Mit einer freundlichen Bewegung wandte sich der Gouverneur ihr zu und kündigte an: «Die Festrede - von Miss Annie Mansfield Sullivan!» Es gelang Annie, sich zu erheben, aber ihre Knie zitterten derart, dass sie das Gefühl hatte, sie würden unter ihr nachgeben! Sie zögerte so lange, bis der Gouverneur ihren Namen noch einmal rief. Und dann nahm sie all ihren Mut zusammen und schritt zur Mitte des Podiums. Der gütige Mann begann höflich Beifall zu klatschen, und nach einem leisen «Meine Damen und Herren -» bemerkte Annie erstaunt und erleichtert, wie ihre Stimme ihr gehorchte und sie klar und deutlich die kleine Ansprache vortrug, die sie niedergeschrieben und so oft geprobt hatte. Die Umgebung nahm wieder die gewohnten Umrisse an, und sie vermochte die freundlichen, interessierten Blicke der Zuhörer vertrauensvoll zu erwidern. Von freudiger Erregung ergriffen, kam sie zum Schluss und verbeugte sich dankend, als wiederum geklatscht wurde - ganz spontan diesmal und nicht aus bloßer Höflichkeit. Wie herrlich aufregend!
Was sich nach der Beendigung des Programms abspielte, davon blieben ihr nur wirre und flüchtige Eindrücke. Sie konnte sich erinnern, dass Dr. Samuel Eliot, einer der Treuhänder von Perkins, ihre Ansprache lobte und dass Mr. Anagnos abwechselnd strahlte und sich die Nase putzte. «Du hast Perkins Ehre gemacht, meine liebe Annie, große Ehre. Und wenn ich daran denke, wie du vor sechs Jahren zu uns kamst.»
Miss Moore konnte ihr nur einen flüchtigen Kuss geben, während Mrs. Hopkins in dem Gedränge nicht einmal das gelang. Aber ihre Klassenkameradinnen und andere Perkins-Schülerinnen scharten sich um sie, gratulierten ihr und wollten sie «sehen». Mit dem Verständnis, das aus der Zeit ihrer eigenen Blindheit herrührte, ließ sie ihnen genügend Zeit, ihre forschenden Finger über ihr Kleid und ihre modische Frisur gleiten zu lassen, während sie lachend auf ihre Bemerkungen und ihr Lob einging. Selbst Laura Bridgman, die berühmte taubstumme und blinde ehemalige Schülerin des Instituts, war anwesend, wie immer bei bedeutenden Veranstaltungen von Perkins.
Und dann war endlich alles vorbei, und sie befand sich wieder in ihrem kleinen Zimmer in der Schule. Leise schloss sie die Tür hinter sich. Die anderen Mädchen schwelgten noch in Erinnerungen an die aufregenden Ereignisse der Feier, aber sie musste erst einmal allein sein, um das Wunder und die Herrlichkeit dieses unglaublichen Tages noch einmal voll auskosten zu können.
Ganz langsam löste sie die Rosen aus ihrem Gürtel und stellte sie in ein Glas mit Wasser. Zögernd nahm sie die Schärpe ab, legte sie auf das Bett und strich mit liebevollen Fingern darüber hin: Ob sie sie wohl jemals wieder tragen würde? Aber wenigstens das Kleid gehörte ihr. Wie gut doch Mrs. Hopkins gewesen war, es für sie zu nähen, obgleich sie mit ihren Pflichten als Hausmutter von Annies Gruppe so viel zu tun hatte! Sie saß auf der Kante ihres Bettes, streichelte die winzigen Knöpfe, als seien es echte Perlen, und liebkoste die Rüschen und die Spitze. Und um die weißen Seidenschuhe auszuziehen, brauchte sie ihre ganze Willenskraft - sie, Annie Sullivan, hatte weiße Seidenschuhe! Plötzlich verdunkelten sich ihre Augen. Sie dachte an die Annie Sullivan, die vor sechs Jahren ins Perkins-Institut gekommen war, vierzehn Jahre alt und nahezu blind. Sie war wohl das am meisten verwahrloste, ungebildetste und widerspenstigste Geschöpf gewesen, das Perkins je aufgenommen hatte. Die einzige Kleidung, die sie besaß, waren zwei groben Hemden und zwei Baumwollkleider.
«Annie!» Ungeduldig riefen die Mädchen nach ihr. «Annie!» Annie tat so, als ob sie nichts hörte. Diesen Augenblick konnte sie mit niemandem teilen.
Sie ließ ihre Erinnerungen weiterwandern. Wie bitter war ihr erster Tag in der Schule gewesen! Die Lehrerin, der sie zuerst begegnete, fragte sie nach ihrem Namen und Alter. Das konnte sie gerade noch beantworten, aber als die Lehrerin sie aufforderte, ein Wort zu buchstabieren, vermochte sie nur zu murmeln: «Ich kann nicht, ich kann überhaupt nicht buchstabieren!»
«Vierzehn Jahre alt - und kann nicht buchstabieren!» So etwas war der Lehrerin noch nie vorgekommen. Das sprach sie auch aus, und Annie spürte ihre Verachtung. Doch es sollte noch schlimmer kommen. Die blinden Mädchen scharten sich um die Neue, tasteten nach ihren Habseligkeiten und fragten erstaunt:
«Wo sind denn deine Kleider und deine übrigen Sachen?»
Annie musste den Kopf schütteln und voller Scham zugeben, dass sie sonst nichts besaß. Die Mädchen der Gruppe, in die sie eingewiesen war, waren noch nie jemandem begegnet, der keinen Mantel hatte, keinen Hut, kein zweites Paar Schuhe, nicht einmal eine Zahnbürste. Das sagten sie auch und lachten sie aus. Und Annie hatte sie alle gehasst.
«Warum hat dir denn deine Mutter nicht ein paar Sachen genäht?»
«Meine Mutter ist tot», hatte Annie kurz geantwortet, «mein kleiner Bruder auch. Und das ist alles.»
Ja, das war alles, was sie über ihre Familie zu sagen bereit war. Sie hatte natürlich einen Vater. Sie hatte auch eine Schwester. Aber nichts und niemand würde sie je dazu bringen zuzugeben, dass ihr unzuverlässiger, hilfloser Vater seine Familie im Stich gelassen hatte, als die Mutter vor vier Jahren gestorben war. Eine Tante hatte das liebenswerte kleine Schwesterchen zu sich genommen, aber keiner der Verwandten war gewillt, sich mit einem...
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