Schweitzer Fachinformationen
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Ida hat nichts bei sich außer dem alten, verschrammten Hartschalenkoffer ihrer Mutter, ein paar Lieblingsklamotten und ihrem MacBook, als sie ihr Zuhause verlässt. Es ist wahrscheinlich ein Abschied für immer von der Kleinstadt, in der sie ihr ganzes Leben verbracht hat. Im Abschiednehmen ist Ida richtig schlecht; sie hat es vor zwei Monaten nicht einmal auf die Beerdigung ihrer Mutter geschafft. Am Bahnhof sucht sie sich den Zug aus, der am weitesten wegfährt und landet auf Rügen.
Ohne Plan, nur mit einem großen Klumpen aus Wut, Trauer und Schuld im Bauch, streift sie über die Ostseeinsel. Und trifft schließlich auf Knut, den örtlichen Kneipenbesitzer, und seine Frau Marianne, die Ida kurzerhand bei sich aufnehmen. Zu dritt frühstücken sie jeden Morgen Aufbackbrötchen, den Tag verbringt Ida dann mit Marianne, sie walken gemeinsam durch den Wald oder spielen SkipBo, abends arbeitet Ida mit Knut in der Robbe. Und sie lernt Leif kennen, der ähnlich versehrt ist wie sie, aber vielleicht tun sie einander ja ganz gut. Auf einmal ist alles ein bisschen leichter, wärmer, erträglicher in Idas Leben. Doch dann erfährt sie, dass Marianne schwer krank ist, und der Schmerz bricht sich wieder Bahn.
Nach ihrem gefeierten Debüt „22 Bahnen“ erzählt Caroline Wahl in ihrem unverwechselbaren Sound nun, wie Ida es mit dem Leben aufnimmt. Ein aufwühlender, intensiver und dabei ungemein tröstlicher Roman über Töchter, Schwestern und Mütter, über vermeintliche Schuld und das Verzeihen – sich selbst und den anderen.
„Caroline Wahl hat ein Buch für alle geschrieben, die das Gefühl kennen, dass ein Tropensturm in einem tobt.“Jana Felgenhauer, STERN„Caroline Wahl gelingt es, ihrer verzweifelten Romanheldin eine ganz eigene Stimme zu geben, knapp, sperrig, eigensinnig. Und dadurch sehr authentisch.“FREUNDIN„lässt sich [...] so wunderbar lesen.“Silvi Feist, EMOTION„'Windstärke 17' ist ein aufwühlender, intensiver Roman über Familie, Tod und Trauer. Und über das Weiterleben. Caroline Wahl erzählt diese Geschichte jedoch mit viel Wärme und Humor und in dem gleichen, coolen Sound, der schon ihr Debüt zum Erfolg machte.“Yasemin Ergin, NDR KULTUR - DAS JOURNAL„'Windstärke 17' ist ein vollkommen überzeugender Roman, der allein Zynikern nicht ans Herz gehen wird. Er wird die Nummer eins auf der Bestsellerliste werden, und das ist vollauf verdient.“Thomas Andre, HAMBURGER ABENDBLATT„'Windstärke 17' ist eine Liebes- und Verlustgeschichte im Sound ihrer Generation.“Lothar Schröder, RHEINISCHE POST„Sinnlich, einfühl- und unterhaltsam. Mit popkulturellen Anspielungen und trockenem, auch tiefschwarzem Humor.“Katja Kraft, MÜNCHENER MERKUR„Eine tiefgehende Geschichte, die Mut macht, sich selbst zu verzeihen und seine eigenen Ziele zu verfolgen. Sehr empfehlenswert!“Ingrid Mosblech-Kaltwasser, DER KULTURBLOG
TEIL 1
Mit meinem MacBook im Rucksack, meinen Lieblingsklamotten in Mamas marineblauem Hartschalenkoffer, AirPods in den Ohren und der gefalteten Kündigung in der Bauchtasche trete ich aus dem Haus in der Fröhlichstraße 37, das nicht mehr mein Zuhause ist. Der Koffer rollt nicht richtig, der Griff ist nicht ausziehbar, und ich habe das Gefühl, einen Plastikklotz hinter mir herzuschleifen. Tragen ist zu schwer und meine Schulter noch verletzt von der Sache mit dem Schrank. Eigentlich würde ich am liebsten rennen und bereue, dass ich nicht meine große Schwimmtasche genommen habe, die ich immer benutze, wenn ich unterwegs bin. Aber ich musste mich entscheiden, und ich bereue sowieso stets jede Entscheidung, die ich treffe. Ich frage mich, von welchen Reisen der Koffer so abgewetzt ist. Mama hat ihn nie benutzt, seit ich da bin. Tilda war mit Mama und ihrem Vater mal mit dem Auto in Südfrankreich, da war sie zehn oder so. Aber davon wäre er ja nicht so beschädigt. Ich ziehe mein Smartphone aus der Bauchtasche.
Ich: Dieser marineblaue Koffer
Ich: Hat Mama den damals mit nach Frankreich genommen?
Tilda: ?
Ich schicke ihr ein Foto.
Tilda: nein
Tilda: bist du unterwegs?
Tilda: wann kommst du an?
Tilda: ida, du kommst aber?
Tilda mit ihren tausend Fragen macht mich so wütend.
Ich bleibe stehen, bücke mich und schaue mir den Klotz noch einmal genauer an. Die rechte Rolle ist fast komplett abgenutzt. Viele bunte Kratzer auf der harten Schale. Mama hat mir nie von irgendwelchen Reisen erzählt. Ich habe sie auch nie gefragt. Einmal, als ich Schafskäse gebacken habe, wollte sie, wie so oft, nicht mitessen, weil sie keinen Hunger hatte und außerdem Schafszeugs hasste, seit sie mal Schafskopf gegessen hatte. Ich habe gefragt: Wo? Sie hat geantwortet: In Norwegen. Ich habe nicht gefragt: Wann?
Ich stelle mir vor, wie meine Mama, als sie noch keine Mama war, im Bahnhof von Bergen die Treppe heruntergerannt ist, zu einem Zug nach Oslo, vielleicht einem Bjorn oder Ragnar hinterher. Ihr Haar offen, braune Strähnen im Gesicht, ihre braunen Augen damals noch leuchtend voller Lebenslust. Ich stelle mir vor, wie sie »Stopp!« schreit, während sie den Koffer achtlos die Treppe hinunterzerrt, wie Ragnar sie gerade noch in den Zug hineinzieht, wie sie sich dann atemlos gegenüberstehen, an den Händen halten und Mama atemlos und laut lacht vor Glück. Wenn sie wüsste, was da noch auf sie zukommt. Aber sie weiß es nicht. Zum Glück. Ich frage mich, was aus Ragnar geworden ist. Wahrscheinlich hat er Enkelkinder und lebt mit seiner Frau Lagertha in so einem norwegischen roten Haus am See, wie sie auf den Covern von norwegischen Kriminalromanen stehen, vielleicht mit einer Hollywoodschaukel im Garten. Ob er sich an die Deutsche erinnern kann, mit der er einst einen Sommer verbracht hat? Ich frage mich, wie er reagieren würde, wenn ich ihm sagen würde, dass die achtzehnjährige Andrea nicht mehr lebt. Dass sie tot ist. Wahrscheinlich wäre es ihm egal, so wie einem das eben egal ist, wenn man sich ewig nicht gesehen hat. Egal, dass sie einfach nicht mehr da ist. Arschloch. Egal, dass Andreas Tochter Ida, die er gar nicht kennt und die ihm auch egal ist, aus der Wohnung flüchtet mit diesem alten, nicht richtig rollenden marineblauen Hartschalenkoffer, an den er sich nicht mehr erinnern kann und der ihm auch egal ist, und einfach alles zurücklässt.
Ich denke an die volle Wohnung, die ich zurücklasse, an die hässlichen Möbel, an meine Kiste mit Bildern, an meine Bücher, an Mamas Kleiderschrank, an ihre Klamotten in ihrem Kleiderschrank, an ihre Klamotten, die so lebendig nach ihr riechen, dass die Frau, der sie gehören, eigentlich nicht tot sein kann, nicht tot sein darf. Das süße Parfüm, die leichte Schweißnote, der Alkoholatem, das ist noch da, als würde sie sich im Schrank verstecken und das alles wäre nur ein großer Scherz. Es riecht so sehr nach Mama in ihrem Zimmer, dass ich alles zerschlagen könnte.
Bis zur Schlüsselübergabe muss ich das Zeug losbekommen. Drei Monate habe ich noch, und ich muss Tilda sagen, dass ich heute die Wohnung gekündigt habe.
Während ich die Fröhlichstraße entlanglaufe, google ich, was »Arschloch« auf Norwegisch heißt: Drittsekk. Dann google ich »Entrümpelung«, vor allem weil ich den Blicken in den Fenstern nicht begegnen möchte. Den Blicken der Drittsekker, die sich das Maul zerreißen über die Tochter der toten Alkoholikerin aus dem traurigen Haus, die viel zu leicht bekleidet, in einem kurzen Rock, einer pinken Lederjacke und mit einer großen schwarzen Sonnenbrille trotz des grauen Himmels, einen kaputten, alten marineblauen Koffer hinter sich herzerrt und auf ihrem Handy herumtippt, anstatt freundlich zu grüßen. Immer am Handy, diese Generation. Noch nicht mal bei der Beerdigung war die undankbare Göre. Als ich »Schonen Sie Ihre Nerven und sparen Sie sich Zeit und Geld. Professionelle Entrümpelung. Diskrete und schnelle Haushaltsauflösung« lese, stecke ich das Scheißteil zurück in meine Bauchtasche. Haushaltsauflösung. Auflösung. Dann löst sich alles auf, was noch von ihr da ist. Dann riecht nichts mehr nach ihr. Um die Entrümpelung können Tilda und Viktor sich kümmern. Die haben ja schon Übung darin. Ich blicke noch einmal zurück. Mein Fenster. Unsere hässliche Wohnung in dem hässlichen Haus. Und begreife: Ich werde da wahrscheinlich nie wieder reingehen.
An der Haltestelle schmeiße ich den Umschlag mit der Kündigung in den Briefkasten. Den Satz habe ich heute Morgen auf ein kariertes Blatt gekritzelt. Nach der Nacht war klar, dass ich da nicht bleiben kann. Dass ich sterbe, wenn ich bleibe. Und ich weiß nicht, ob ich sterben will.
Als ich in der Straßenbahn sitze und am Freibad vorbeifahre, schließe ich die Augen. Ich kann das nicht sehen. Es tut weh, weil es der zweite Abschied ist. Und als ich begreife, dass er endgültig ist, drehe ich mich doch noch einmal um, sehe den Eingang. Und es überschütten mich Eiswassereimer mit scharfen Eiswürfeln, die mir meinen Kopf und meine Schultern aufschneiden. Ich atme konzentriert ein und aus, 4-7-8, wie Viktor es mir erklärt hat, während ich Tilda vor mir sehe, der ich durchs Drehkreuz folge. Zuerst der Geruch nach Chlor und Regen und dann der Moment, in dem ich das Becken erblicke, das jedes Mal anders aussieht. Dampf, der aufsteigt, kleine Tropfen, die auf der Oberfläche tanzen, sie durchbrechen. Tilda spannt den Sonnenschirm über unserer Bank auf, wir legen unsere Rucksäcke und Kleidung ab, und ich durchbreche wie die Regentropfen die Wasseroberfläche.
Das Schönste ist eigentlich nicht das Tauchen und das Gefühl, schwerelos zu sein wie ein Fisch. Das Schönste am Tauchen ist Tilda. War Tilda. Tilda, die ich immer wieder im Augenwinkel gesehen habe, wie sie ihre Bahnen zog, wie sie danach auf der Bank saß. Wie sie einfach da war. Wie wir zusammen nach Hause gefahren sind, wie wir zusammen Abendbrot gegessen haben. Komisch, dass sich die Kindheit manchmal so schön anfühlt, obwohl sie auch richtig kacke ist. Ich fühle mich leer und voll.
Als Tilda dann nicht mehr da war, bin ich nur noch ins Hallenbad zum Training. Freibad ging nicht, weil zu schmerzhaft. Irgendwann mit 15 oder so habe ich dann wieder das Drehkreuz passiert, aber nur abends, wenn es regnete. Nicht weil ich immer noch so eine Schisserin wie damals war, sondern weil es dort einfach am schönsten ist, wenn es regnet. Ich bin ein paar Bahnen geschwommen, dazwischen immer längere Strecken getaucht - ohne Wettkampf im Kopf -, und wenn ich manchmal eine gute Schwimmerin im Augenwinkel gesehen habe, habe ich mir vorgestellt, dass es Tilda ist. Ich öffne die Augen, heute ist der Himmel grau, und es könnte jeden Moment anfangen zu regnen.
In dem Hartschalenkoffer sind nur Klamotten. Ich habe kein einziges Buch eingepackt, und jetzt sitze ich hier in der Straßenbahn und lasse, um nicht zu sehen, was am Fenster vorbeizieht, ein TikTok-Video nach dem anderen abspielen, ohne sie wirklich anzuschauen, bis die Meldung aufploppt, dass mein Datenvolumen fast leer ist. Ich stecke das Ding in die Bauchtasche und schließe meine Augen. Mir ist kalt und übel, mein Kopf pocht, und mein Bauch tut weh. Ich schließe die Augen noch fester, entspanne Arme und Beine und stelle mir vor zu schwimmen. Einen Wettkampf. Ich konzentriere mich auf meinen Körper, meine Muskeln, meine Arme und Beine, die schneller und stärker sein müssen, als sie es sind. Zieh durch, zieh durch. Das Wasser und ich eine Einheit. Das Rauschen im Ohr, das Ziel vor Augen. Dann: Rechts neben mir eine Schwimmerin, die ich abhängen muss. Eine schwarze Strähne, die aus ihrer roten Schwimmhaube rausschaut. Wer ist das? Das Haar kenne ich. Und den Geruch auch. Hypnotic Poison von Dior, immer ein bisschen zu viel, und eine Note Kreuzkümmel. Das muss Samara sein. Aber Samara schwimmt gar nicht. Samara hasst Schwimmen. Ich habe es ihr beigebracht, als sie zwölf war, im Hallenbad, und sie fand es schrecklich. Wasser sei einfach nicht ihr Element, hat sie gesagt.
Sie sei ein klassisches Erdzeichen, hat sie immer gesagt. »Sternzeichen sind so ein Scheiß«, habe ich immer gesagt.
Samara: Du bist auch ein Zwilling. Zwillinge glauben oft nicht an Sternzeichen.
Ich öffne die Augen und schaue aus dem Fenster, auf die Felder. An ihrer Wohnsiedlung sind wir schon längst vorbeigefahren. Samara wohnt mit ihrer Familie in einem hässlichen Wohnblock. In einer Dreizimmerwohnung. Ganz warm ist es dort. Die Wände sind orange und gelb gestrichen, das Herzstück der Wohnung, Wohn- und Esszimmer, ganz klein und irgendwie kuschlig. Das gemütliche braune...
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