Schweitzer Fachinformationen
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Die Bodenwelle hatte Erwin Döllinger nicht gesehen. Verdammte Scheiße! Er kannte den aus Betonplatten zusammengesetzten Weg durch die Weinberge im Teufelspfad eigentlich wie seine Westentasche. Nach drei Schoppen würde er sogar behaupten, dass er ihn auch mit verbundenen Augen mit dem Traktor abfahren könnte, ohne größeren Schaden an den Rebzeilen anzurichten. Nach dem vierten Schoppen würde er in jede ausgestreckte Hand einschlagen und die Wette samt gebotenem Einsatz annehmen. Da ließ er sich nicht lumpen. Jetzt half ihm das aber nicht weiter. Er war mit den Gedanken schlicht woanders gewesen. Bei dem Durcheinander und dem Streit daheim, bei den Sorgen, die so viele Winzer kurz vor der Weinlese umtrieben, und dem schlicht unlösbar erscheinenden Problem, wie er die morgige Tour auf die Reihe bekommen sollte.
Jetzt trat er zwar auf das ausgeleierte Pedal seines alten Fendt Schmalspurschleppers, aber das blieb nur Kosmetik. Zu fest durfte er nicht bremsen, sonst erging es seiner Ladung noch schlechter. Kreischend rieben sich die Bremsbacken des alten Gefährts an ihrer kaum lösbaren Aufgabe. Für einen Moment übertönte das durchdringende Geräusch sogar den unerträglichen Krach, der ihn begleitete: tiefe, wummernde Bässe und heulende Töne, die wie die schlecht gewarteten Sirenen auf der alten Feuerwache im Nachbardorf klangen. Im nach hinten offenen Führerhaus seines betagten Gefährts kam es ihm so vor, als wäre er auf der Flucht vor der lärmenden Schallwelle einer aufgebrachten Horde Wilder, die ihn verfolgte. Eine sinnlose Flucht auf einem mickrigen Traktor, der die Horde hinter sich herzog. Erwins Finger krallten sich fester um das Lenkrad.
Die wulstige Unebenheit, die zwei vor ihm liegende beschädigte Betonplatten wieder miteinander verbinden sollte, erreichte er in diesem Moment mit kaum reduzierter Geschwindigkeit. Zwei mäßig talentierte Mitarbeiter der Straßenbaufirma waren vor anderthalb Jahren mit einer Ladung Asphalt zur Ausbesserung angereist und hatten anscheinend den Auftrag gehabt, keinesfalls mit Restmaterial zurückzukehren. Die Lücke zwischen den Platten war nun zwar geschlossen. Sie mutete aber wie eine Barriere an, die der Werkstatt für Landmaschinen ein gut gefülltes Auftragsbuch in Form von Achsbrüchen sichern sollte.
Die Hinterräder des Fendts nahmen die Aufgabe sportlich. Ächzende Geräusche müden Materials drangen in seine Ohren. Wuchtig katapultierte es ihn aus dem Sitz in die Höhe. Seine Schädeldecke donnerte gegen die Schaumstoffauskleidung des Verdecks. Der darin eingelagerte Staub und Dreck dreier Jahrzehnte feierte die neu gewonnene Freiheit und folgte ihm mit etwas zeitlicher Verzögerung nach unten in den ausgesessenen Schalensitz. Für einen Augenblick sah er im Dämmerlicht dieses Tages bereits die funkelnden Sterne. Sie umkreisten ihn, irre Laufbahnen beschreibend. Gleich darauf erloschen sie so abrupt, wie sie aufgetaucht waren.
Das Schlimmste stand noch bevor. Die ersten beiden Räder des zweiachsigen Anhängers waren dran. Er hatte ihn vor mehr als fünfzehn Jahren im Winter mit einer Überdachung, Sitzbänken an beiden Seiten und einem Tisch, der sich in der Mitte über die gesamte Länge zog, ausgestattet. Eine stimmungsvolle Beleuchtung mit mehreren, separat ansteuerbaren bunten LED-Lichterketten war später hinzugekommen. Eng gedrängt passten fünfundzwanzig Personen auf die Ladefläche, auch wenn der TÜV nur zwölf genehmigt hatte. In zwei Kühlboxen unter den Bänken fanden knapp einhundert Flaschen Wein und etwas Wasser Platz. Noch keine Gruppe hatte es geschafft, diesen Vorrat bis auf den letzten Tropfen leerzubekommen. Der Männergesangverein aus dem Saarland, den er wahrscheinlich gleich in die Erdumlaufbahn katapultierte, schien nahe dran zu sein. Zu den mehrstimmigen, teils kämpferischen, teils traurigen Arbeiterliedern, die sie bei der Abfahrt angestimmt hatten, waren als Erstes die Rieslinge restlos vernichtet worden.
An die von ihm angedachte Probenreihenfolge hatten sie sich von Beginn an nicht gehalten. Jeder Wein sollte eigentlich dort ausgeschenkt werden, wo er gewachsen war. Die Stimmen der Sänger mussten jedoch stets geschmiert bleiben, vor allem, nachdem sie zum Singen von Schlagern von Helene Fischer, Costa Cordalis und Roland Kaiser übergegangen waren. »Sieben Fässer Wein können uns nicht gefährlich sein!« Die Harmonien hatten arg unter den Grauen und Weißen Burgundern gelitten, jeder der Herren war mit Theo auf einem anderen Weg nach Lódz unterwegs gewesen. Einige hingen noch im endlosen Refrain des Griechischen Weines fest. Mit den Rotweinen hatten sie wenig später den Gesang eingestellt und stattdessen die mächtige Box in der Größe eines Bierfasses in Betrieb genommen. Seither beschallten sie die reifenden Trauben mit Bässen und Sirenengeheul.
Erwin Döllinger spürte jetzt den Ruck, den der Anhänger auf seinen Schlepper übertrug, und vernahm die durchdringenden Schreie der aus dem Dämmerzustand brutal aufgeweckten Sangesbrüder. Zum Glück gab es recht stilvoll anmutende Weingläser aus robustem Kunststoff. Auf jeder Fahrt stürzten drei bis vier Personen mit dem gefüllten Glas in der Hand über die eigenen Füße oder verhedderten sich in dem zwischen den Rebzeilen rankenden Klee. Gehässiges Grünzeug, das entlang seiner bevorzugten Strecke wuchs und sich darauf spezialisiert zu haben schien, angetrunkene Funzelfahrer zur Strecke zu bringen. Ob sie dort hinten nach dem Abheben wieder rechtzeitig auf den harten Bänken landeten, ehe die zweite Achse des Anhängers sie erneut in die Höhe und unter die straff gespannte Plane katapultierte?
Erwin Döllinger litt körperlich mit den Opfern seiner Unachtsamkeit. Ganz besonders fühlte er mit denen, deren kahle Schädel nun, beim zweiten Ruck, ungebremst auf die massiven Stahlrohrstreben trafen, die der Dachkonstruktion die nötige Stabilität gaben. Auf die nur noch vereinzelten, gedämpften Schreie während des zweiten Parabelflugs folgte eine fast gespenstische Stille. Die Box hatte sich verabschiedet. Was die abendliche Funzelfahrt auf ihren Kern reduzierte: Sein knatternder Fendt und der quietschende Anhänger, den er auf zunächst weiten, dann immer enger werdenden Kreisen durch seine besten Weinlagen im Selztal zog, beschallten auf einmal ganz allein die Dämmerung. Leise, wie ein geflüstertes Gebet, murmelte er die Lagennamen vor sich hin: Teufelspfad, Blume, Sauermilch, Nonne, Nagelschmidt und Hieberg.
Er traute sich noch immer nicht, den Kopf zu drehen. Hoffentlich hatte sich keiner ernsthaft verletzt. Döllinger spürte einen wachsenden Groll auf sich selbst, seine Unachtsamkeit und die Sorgen, die sie ihm daheim bereiteten. Die ständigen Kämpfe mit seinem Sohn Michael, mit dem zusammen er den Betrieb führte, zermürbten ihn. Für die große Ausfahrt am morgigen Freitag musste er sich noch einen zweiten Fahrer suchen. Sein feiner Sohn wollte nicht. Er wischte den Gedanken beiseite und blickte sich nun doch noch hastig um.
Fünfundzwanzig rot glühende Gesichter strahlten ihn mit weit aufgerissenen Augen erwartungsvoll an. Er hatte die Saarländer Chorknaben unterschätzt. Sie jubelten ihm zu und forderten lautstark eine Zugabe: »Einer geht noch!«
Das waren keine Anfänger! Sie hatten sich alle rechtzeitig untergehakt oder schlicht zufällig im richtigen Moment geschunkelt. Ihr Vorsänger stimmte den passenden Refrain an: »Tanze Samba mit mir, Samba, Samba die ganze Nacht.«
Döllinger warf einen schnellen Blick auf seine Armbanduhr. Es war erst kurz vor zehn. Eine halbe Stunde musste er sie noch durch die Weinberge kutschieren. So war es verabredet, dafür bezahlten sie. Zwei der drei weiteren geplanten Zwischenstopps konnte er sich schenken. Den Wein dafür verteilten sie gerade großzügig in den wieder eingesammelten Plastikweingläsern. In manchen waren sogar noch erkleckliche Pfützen des Weißweines, der nun mit seinem Spätburgunder aufgegossen wurde.
Er konnte es mittlerweile ertragen. Es schmeckte ihnen, und darauf kam es schließlich an. Sie würden nachher bestimmt ordentlich in seiner Vinothek einkaufen. Darauf konnte er sich verlassen. Er musste nur dafür sorgen, dass sie zufrieden und reichlich beschwingt vom Anhänger stiegen. Die richtige Dosis brachte das gute Geschäft.
Er hatte sich über die Jahre zum Fachmann entwickelt. Mehrere Touren wöchentlich, auch in den Wintermonaten, hatten ihn geschult und bildeten eine stabile Basis für ihren Absatz. Völlig besoffen durften sie nicht sein, dann konnten sie keine Entscheidungen mehr treffen. Ihr Reisebus stand in seinem Hof. Den Gepäckraum würde er nachher bis in den letzten Winkel vollräumen. Das war sein erklärtes Ziel, und daran bemaß sich, ob es eine erfolgreiche Funzelfahrt gewesen war oder nicht. Vor diesem Hintergrund war ihm völlig egal, ob sie später noch wussten, in welcher Reihenfolge sie welche Weine getrunken hatten.
Michael verstand das nicht. Er verachtete diese Ausflugsgesellschaften und zeigte das so deutlich, dass er selbst meist froh war, wenn sein Sohn nicht mitkam. Der vergraulte ihm sonst die Kundschaft.
Döllinger reckte sich zufrieden in die Höhe, nahm seine Kappe mit dem aufgestickten Logo ihres...
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