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Kapitel 2
Einige Monate nach der Hochzeit meiner Eltern war ich geboren worden. Doch ich kam nicht allein, denn mein Zwillingsbruder Jamal erblickte nur wenige Minuten vor mir das Licht der Welt. Gemeinsam wuchsen wir im Haus meines Opas auf.
Als wir vier Jahre alt wurden, ließen sich unsere Eltern scheiden, denn sie stritten sehr viel. Sie waren einfach zu unterschiedlich und hatten sich vor der Hochzeit nicht gut gekannt. Meine Mutter hatte sich dazu entschieden, kein Kopftuch mehr zu tragen, womit mein Vater nicht einverstanden war und was ihn gegen sie aufbrachte. Er schämte sich vor der arabischen Gesellschaft zutiefst wegen der "Verwestlichung" seiner eigenen Ehefrau.
Die ersten drei Jahre nach der Trennung waren wir jedes zweite Wochenende bei meinem Vater. Später hatte ich nicht mehr in dieser Regelmäßigkeit Kontakt zu ihm. Ich fand Gründe, nicht mehr jedes Mal mit meinem Bruder zusammen zu ihm zu fahren, denn ich wollte lieber bei meiner Mutter bleiben und ihr damit gefallen. Es war für mich ein Akt der Solidarität ihr gegenüber, obwohl ich das Haus meines Opas mit seinen Bewohnern vermisste.
Meine Mutter hingegen, bei der wir unter der Woche lebten, war mit der Situation überfordert. Sie schrie herum, beleidigte uns und immer wieder schlug sie uns aus nichtigen Gründen. Mal war das Zimmer zu unordentlich und wir bekamen eine Ohrfeige oder wir waren zu laut und erhielten Schläge mit dem Gürtel. Wir durften nie ein Wort über meinen Vater verlieren, es sei denn, wir sagten etwas, das ihren Hass gegen ihn bestätigte und damit weiter schürte. Alles, was ihn betraf, nahm sie persönlich und versuchte stets, uns gegen ihn aufzuhetzen. Und sie drohte mit uns Dinge zu tun, die uns demütigen sollten, wenn wir nicht das täten, was sie von uns erwartete. Sie würde uns "rausschmeißen" aus dem, wie sie sagte, "gesegnetem Leben" mit ihr. Da sie uns das Leben geschenkt habe, hätte sie auch das Recht, darüber zu bestimmen. Obwohl ich mich an all das gewöhnt hatte, war mir eine Drohung sehr unangenehm in Erinnerung. Sie wollte uns, wenn wir nicht so funktionierten, wie sie wollte, nackt ins Treppenhaus setzen. Nicht nur dass es kalt sein würde - der Gedanke daran, dass andere Menschen mich so sehen würden, ging mir als Kind sehr nahe.
Eines Tages lernte meine Mutter einen neuen Mann bei einer Freundin kennen, die eine verheiratete Muslima war. Deren Ehemann hatte an demselben Abend, an dem auch meine Mutter zu Besuch war, einen Freund eingeladen. Meine Mutter und der Freund des Mannes unterhielten sich die ganze Nacht. Zum Ende hin fragte er sie, ob sie ihn heiraten würde. Sie willigte dem Fremden ein und kein Jahr später gebar sie meine Halbschwester.
Unser Vater nahm meinen Bruder und mich zu sich, damit unsere Mutter die Geburt und die ersten Tage im Krankenhaus verbringen konnte. Doch leider hatte er auch anderes im Sinn. Mein Vater fuhr mit uns in seinem Auto durch Hamburg und stellte sehr geschickt Fragen, die uns dazu brachten, schlechte Dinge über unsere Mutter zu erzählen, nämlich dass sie uns beschimpfte und schlug. Es entsprach zwar der Wahrheit, doch wir wussten nicht, dass er unsere Stimmen während der Fahrt auf Tonband aufnahm. Mit den Aufnahmen ging mein Vater anschließend zum Jugendamt. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie er uns kurz darauf ebenfalls dorthin brachte und wollte, dass wir dem Sozialarbeiter alles erzählten. Ich war damals gerade erst neun Jahre alt geworden. Der Mann vom Jugendamt war ein älterer Herr mit weißem Schnurrbart. Mein Bruder und ich saßen an einem großen Tisch und ich sah, wie er entsetzt alles aufschrieb. Ich hatte das Gefühl, dass er hoffte, dass wir alles wieder verneinen würden. Er sagte sogar: "Dass eine Hand mal ausrutscht, passiert halt. Seid ihr euch sicher, dass es so schlimm ist, wie ihr es schildert?" Mein Bruder und ich schauten zu unserem Vater, der uns freundlich anblickte, und bejahten unsere Schilderung. So wie wir es erzählt hatten, war es ja auch! Ich hatte keine Ahnung, was das für Konsequenzen für uns haben sollte. Ich kann mich noch gut an dieses Gefühl erinnern, den Sozialarbeiter zu sehen und nicht zu verstehen, warum er hoffte, dass wir alles zurücknehmen würden. Er ahnte nämlich, was folgen sollte. Ein Teil in mir warnte mich, jedoch war ich zu jung und zu naiv, um auf diese Stimme zu hören. Es kam, wie es kommen musste: Wir wurden meiner Mutter weggenommen. Auch wenn wir bei ihr Gewalt erfuhren, war es keinesfalls meine Absicht gewesen, von ihr getrennt zu werden.
Nach dem Besuch beim Jugendamt waren alle im Haus meines Opas besonders nett zu meinem Bruder und mir. Am nächsten Tag fuhr mein Vater uns beide zur Schule. Dass er uns brachte, freute mich sehr. Ich drückte die Hand meines Bruders, der neben mir saß, denn es kam eine Erinnerung in mir hoch. In dem Jahr, in dem ich eingeschult worden war, war meine Mutter umgezogen. Die Umschulung sollte aber erst zum nächsten Schuljahresanfang stattfinden. Meine Mutter erwartete, dass wir mit dem Bus allein durch einen Teil der Stadt Hamburg fuhren, um zur Schule und wieder nach Hause zu kommen. Ich konnte mich noch gut erinnern, wie mein Bruder und ich mit unseren sieben Jahren das erste Mal mit dem Bus nach Hause fahren sollten. Wir hatten uns nach dem Schulschluss nicht gefunden, denn als Zwillinge waren wir unterschiedlichen Klassen zugewiesen worden. Daher waren wir beide getrennt gefahren. Glücklicherweise hatte ich den Weg nach Hause gefunden. Mein Bruder dagegen hatte sich verfahren. Der Busfahrer konnte über unsere Schule die Telefonnummer meiner Mutter erfahren und hatte sie zur Endstation gebeten. Dort angekommen, beleidigte sie ihren Sohn sofort aufs Niedrigste, weil er es mit seinen sieben Jahren nicht geschafft hatte, allein nach Hause zu finden. Sie war so wütend und ungehalten darüber, dass er ihr solche Umstände machte und sie ihn abholen musste.
Bei der Familie meines Vaters hingegen fühlten wir uns einfach wohl. Meine Großeltern verwöhnten uns und gaben uns das Gefühl, wichtig und geliebt zu sein. Nachdem uns mein Vater vor der Schule abgesetzt hatte, betraten mein Bruder und ich das Schulgebäude. Sofort fühlte ich eine Erleichterung. Der gewohnte Ablauf eines Schultages, dieselben Gesichter meiner Klassenkameraden und Lehrer - dies gab mir das Gefühl, dass alles wie immer war. Als die ersten beiden Schulstunden um waren, hatten wir eine große Pause. Ich traf mich mit meinem Bruder, denn auch hier waren wir in getrennten Klassen untergebracht, und gemeinsam gingen wir auf den Schulhof. Als sich die Pause dem Ende neigte, liefen wir die Treppen des Schulhauses hoch. Ich weiß noch, wie ich mich mit einer Klassenkameradin und meinem Bruder unterhielt, als ich das Schreien einer Frau hörte. Diese Stimme kannte ich und zuckte fürchterlich zusammen. Es war unsere Mutter, die bitterlich vor dem Lehrerzimmer weinte. Als ich sie so sah, wurde mir klar, was ich angerichtet hatte. Sie rannte zu mir und sagte, dass mein Vater uns ihr weggenommen hätte. Er sei zu ihr gefahren und habe das Band abgespielt, das er dem Jugendamt vorgelegt hatte. Der Schulleiter kam und nahm meine Mutter mit in sein Büro. Mit der ganzen Situation, den Blicken und dem Getuschel der Schüler und Lehrer waren wir total überfordert. Meine Klassenlehrerin beendete diese schreckliche Situation schließlich und brachte meinen Bruder und mich in unsere Klassenzimmer. Dort angekommen, fing auch ich fürchterlich an zu weinen. Ich konnte mich kaum beruhigen. Ich war so traurig über den Verlust meiner Mutter, hatte Angst vor dem, was noch kommen würde, und fühlte Scham darüber, dass wir das Gesprächsthema der Schule waren. Meinem Bruder ging es genauso.
Unsere Lehrer hatten sich mit dem Jugendamt in Verbindung gesetzt und veranlasst, dass auch meiner Mutter Gehör verschafft wurde. Sie hatte ausgesagt, dass mein Vater sie in ihrer Ehe geschlagen hätte und uns nach wie vor schlagen würde. Darauf folgte einer der schrecklichsten Tage meines Lebens: Mein Bruder und ich saßen betrübt auf einer Holzbank, die in einem riesigen Flur eines Gerichtes stand, und klammerten uns aneinander, um uns gegenseitig Trost zu spenden. Unsere Eltern saßen mit einem Richter in einem Raum, dessen Tür direkt vor uns war. Wir schauten den Gang hinunter und blickten auf all unsere Lehrer, die uns unterrichteten. Abgesehen von einer kurzen Begrüßung ignorierten sie uns. Es fühlte sich wie eine Strafe an. Denn es beschämte mich zugleich, dass sie unseretwegen da waren und, was noch viel schlimmer war, sie anscheinend mehr wussten als wir. Nacheinander wurde jede beteiligte Person hereingebeten und machte eine Aussage. Der Richter hatte meiner Mutter anscheinend jedes Wort geglaubt. Er wäre wohl nie auf die Idee gekommen, dass es auch andersherum hätte sein können.
Zum Schluss wurden mein Bruder und ich dem Richter vorgeführt. Ja, dieses Wort spiegelt genau mein damaliges Gefühl wider. Wir saßen mit ihm an einem großen, runden Tisch. Ohne irgendwelche einleitenden Worte, die uns ein bisschen auf alles vorbereitetet hätten, fragte er uns, wo wir leben wollten: bei unserer Mutter oder unserem Vater. Wir hatten beide solche Angst. Ich sagte sofort "Bei meiner Mutter", obwohl ich wusste, dass ich es bei meinem Vater besser haben würde. Doch es ging einfach alles zu schnell, weil wir uns sofort entscheiden mussten und keinerlei Bedenkzeit hatten. Mein Bruder wollte zwar mit mir zusammenbleiben, hatte jedoch auch Mitleid mit meinem Vater, weil er ihn nicht allein lassen wollte. "Zu meinem Vater", kam es deswegen prompt aus seinem Mund. Somit wurden wir auseinandergerissen. Mein Bruder und ich waren bis dahin unzertrennlich gewesen. Wir gaben uns Halt und waren eine eingeschworene Gemeinschaft....
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