Schweitzer Fachinformationen
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Kendziäke!"
Er zuckte auch diesmal wieder zusammen, obwohl er sich fest vorgenommen hatte, daran zu arbeiten. Das war sein Name und kein Befehl, auch wenn es aus dem Mund von Ludwig-Otto Erbes, dem Nieder-Olmer Bürgermeister, genau so klang. Kendziäke! Still gestanden! Er war selbst nie bei der Bundeswehr gewesen, aber mit der aus alten Kriegsfilmen gespeisten Fantasie, entstanden farbige Bilder in seinem Kopf, in denen ein kleiner, gedrungener Feldwebel knappe Befehle brüllte, um dann mit kritischem Blick die aufgereihten, stramm stehenden und zitternden Rekruten zu mustern. Soweit lag er bei Erbes nicht daneben. In launiger Runde, nach einigen Gläsern Riesling bei der Weihnachtsfeier oder dem alljährlichen Betriebsausflug, wenn die Gezwungenheit der weinseligen Ausgelassenheit wich, gab sein Chef nicht selten angestaubte Kasernenerinnerungen zum Besten. Hauptmann der Reserve. Mit uns wäre kein Krieg zu gewinnen gewesen. Heute eine schwer vorstellbare Situation. Sein Chef in einer knappen Uniform, die über dem Bauch spannte. Er reichte ihm kaum bis ans Kinn. Ein auf die Größe eines Hobbits gedrückter Kommunalpolitiker, der die Angewohnheit besaß, durch ständiges nervöses Wippen auf den Zehenspitzen ein klein wenig mehr an Körpergröße herauszuschinden. Die sich in den letzten Jahren stetig erweiternde lichte Fläche auf seinem Kopf versuchte er durch eine mutig quer gelegte Haarsträhne notdürftig zu kaschieren. Ein Unterfangen, das spätestens seit diesem Frühjahr kaum mehr gelang, da sich auch die ehemals voluminöse Locke langsam verzehrte. Übrig waren noch ein paar lange Flusen, die oft in Erbes Wippstakkato mit auf- und niederschwangen, um danach wirr in alle Richtungen zu stehen.
"Kendziäke, es ist gut, dass Sie schon so früh hier sind. Bei den Temperaturen, die sie für heute angekündigt haben, müsste man sich an den Spaniern orientieren. Siesta von zwölf bis vier und dann eine Spätschicht, wenn es langsam abkühlt." Erbes hatte ihn jetzt erreicht. Beide standen sie sich kurz vor Kendzierskis Büro gegenüber. Der Chef wippte nur langsam und kaum merklich in die Höhe. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass nichts Ernsthaftes anstand. Ein sich langsam ausdünnendes Rathaus, weil die ersten Urlaub hatten, noch zwei Wochen bis die große Flucht mit den Schulferien einsetzte. Dann begann Kendzierskis liebste Zeit hier. Ruhe und Stille, kaum Bewegung in den langen dunklen Fluren. Hatte Erbes eigentlich schon angedeutet, wann er mit seiner Frau weg wollte? Zum Wandern in die Berge. Beide im gleichen Outdoor-Outfit mit klappernden Stöcken bewaffnet. So war ihm der Chef mal im nahen Ober-Olmer Wald über den Weg gelaufen. Beide in identischen Trainingsanzügen. Erbes gequält lächelnd und mit einem Stirnband der Krankenkasse geschmückt, das seine luftige Haarpracht zusammenhielt.
"Ich hoffe, Ihre Kleine leidet nicht zu sehr unter der Hitze." Erbes sah ihn fragend an.
"Allzu viel Ruhe hat sie ihrer Mutter noch nie gegönnt." Kendzierski seufzte. "Außer der einen Nachtflasche, die sie immer zur gleichen Zeit kurz vor Mitternacht bekommt, hat sie keinen wirklichen Rhythmus. Damit hält sie Klara und mich ganz schön auf Trapp. Und sie verfügt jetzt schon über einen ausgeprägten Willen, dem wir uns unterzuordnen haben."
"Ja, das erste Jahr geht schon an die Substanz." Erbes schwieg und setzte für einen kurzen Moment auch das Wippen aus. Ein entrückter Blick über Kendzierskis rechte Schulter in die Tiefe des Rathausflures und in seine eigene Jungvaterzeit. "Aber dafür sind die heutigen jüngeren Väter ihren Frauen eine ganz andere Hilfe." Erbes Augen blieben an Kendzierskis Schulter hängen. Der Chef schmunzelte. Kendzierski fiel der schmale, krustig eingetrocknete Spuckstreifen ein, der sein dunkles Polohemd von der Schulter bis zur Brust zierte. Toll. "Ihre Frau kann sich glücklich schätzen." Erbes wippte jetzt wieder. "Sie haben aber auch mit Ihrer Klara eine sehr gute Partie gemacht. Ich freue mich mit Ihnen beiden." Mit zwei, drei schnellen Bewegungen unterstrich Erbes sein knappes Lob und beendete die kurze außerdienstliche Unterredung mit einem scharfen "So!", noch bevor sich in Kendzierski ein schwaches schlechtes Gewissen rühren konnte. Die vorgeschobenen Abendtermine, um zumindest ab und an ein wenig zur Ruhe zu kommen. Er hatte schon mehrmals auch seinen Chef als Grund dafür bei Klara angegeben.
"Ich habe vorhin einen Anruf aus der Mainzer Uniklinik bekommen." Erbes beschleunigte seine Wippfrequenz. "Der Arzt der dortigen Notaufnahme." Er hielt abrupt auf den Zehenspitzen inne. Der Chef reichte ihm in diesem Moment bis zur Oberlippe und sah ihn aus großen Augen an.
Erst jetzt fiel Kendzierski auf, wie sich der Bürgermeister heute gekleidet hatte. Es würde außerordentlich schwer werden, die nächsten Minuten ohne ein lautes Losbrüllen zu überstehen. Erbes' Kleiderordnung war eigentlich eine recht übersichtliche: Anzug plus Krawatte, vollkommen losgelöst von allen Jahreszeiten und Wetterbedingungen. Gefürchtet waren die sich daraus ergebenden Kombinationsmöglichkeiten. Der Chef variierte stets bunt und brachte Muster und Farben zusammen, von denen die Modewelt und selbst der Geschmack normaler Menschen Abstand nahmen. Kendzierski versuchte durch einen schmerzhaften Biss in seine Zunge, das sich andeutende breite Grinsen im Keim zu ersticken. Erbes hatte sich heute in einen Zweiteiler gezwängt, dessen zwei dunkle Grautöne so gar nicht zusammenpassen wollten. Die Hose glänzte dazu noch fast silbern. Das war aber alles nur Dekoration für den eigentlichen Höhepunkt, der sich später wie ein Lauffeuer durch das gesamte Gebäude verbreiten würde: Erbes hatte ein neues Hemd. Er trug unter grauem Sakko und gelber Krawatte ein farbenfrohes Hemd in Rot, Grün und Blau, dessen wildes Blumenmuster Kendzierski an ein Hawaii-Hemd erinnerte. Die leuchtend gelbe Krawatte darüber kam ihm bekannt vor. Sie könnte aus dem Kleiderschrank von Rainer Brüderle stammen. Kendzierski spürte, wie ihm die Hitze in den Schädel schoss. Bloß nicht loslachen, nicht jetzt direkt vor ihm. Jürgen von der Lippe oder Norbert Blüm beim rheinischen Karneval.
Erbes, heftiger wippend, gedachte jetzt, in seiner scheibchenweisen Darreichung der brandaktuellen Neuigkeiten fortzufahren. "Die Hitze." Er hielt auf den Zehenspitzen inne.
Kendzierski nickte verständnisvoll.
"Die Alten trinken zu wenig. Darauf muss man mehr achten."
Kendzierski nickte noch einige Male weiter, obwohl er nicht recht verstand, worauf Erbes hinaus wollte. Er hatte von den Alten gesprochen. Natürlich oder doch nicht? Restlos sicher war er sich in diesem Moment nicht mehr. Der Chef würde nie so von seiner Frau reden. Die Alte trinkt zu wenig. Er schüttelte den Kopf. Die vollkommen falsche Reaktion.
"Ich konnte das auch nicht recht glauben. In den Zeitungen hatten sie es ja schon davon. Die Hitze nimmt die Menschen über achtzig ganz besonders mit."
Kendzierski schnaufte hörbar aus.
"Es sterben viele und der Oberarzt aus der Notaufnahme wollte mich davon in Kenntnis setzen, dass es gerade hier bei uns und in den Dörfern drum herum sehr auffällig ist." Erbes schüttelte ungläubig den Kopf. "Er hat auch keine wirkliche Erklärung dafür. Wir sollen ein Auge darauf haben und unsere Möglichkeiten zur Aufklärung nutzen. Das stellt der sich so einfach vor. Wir können doch nicht bei allen alten Menschen über achtzig täglich mehrmals anklingeln und sie ans Trinken erinnern." Erbes stand auf den Zehenspitzen und starrte ihn fragend an. Sein Chef im Hawaiihemd und grauem Anzug. Die Reaktion der kommunalen Verwaltung auf den Klimawandel.
"Vielleicht gibt es in den Dörfern einfach nur sehr viele allein lebende ältere Menschen. Gerade in den alten Ortskernen, den alten Bauerngehöften, da wohnt oft nur noch eine Person. Die Menschen trauen sich bei der Hitze kaum vor die Tür. Es fällt also gar nicht auf, wenn man den Nachbarn ein paar Tage nicht zu Gesicht bekommt. Aber ob das als Erklärung ausreicht? Vielleicht ist es einfach auch nur ein Zufall."
Kendzierski merkte, dass er eben auch gewippt hatte. Das steckte an. Erbes schien es aber nicht aufgefallen zu sein. Der hielt sich eisern auf den Zehenspitzen. "Wir könnten es über die Ortsbürgermeister weiterleiten. Hier am Rathaus und in den Gemeinden ein Aushang. Das sollte reichen. Mehr können wir selber nicht tun." Kendzierski zuckte mit den Schultern.
"Das dachte ich mir auch so. Aber unter uns, einen wirklichen Effekt wird das nicht haben. Und ich will mir über den Sommer nicht den Ruf verdienen, dass in meiner Verbandsgemeinde die alten Menschen verdursten. Zumal ein Ende der Hitzeperiode nicht absehbar ist." Erbes wippte jetzt wieder schnell. "Nach dem Sommer...
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