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Paul Kendzierski war gerade damit beschäftigt, sein Büro einzuräumen. Es war Freitag kurz vor zehn und er war neu hier. Neu in dieser Stadt, neu in diesem Job. Es war der Erste des Monats und sein Dienst begann heute. Er hätte die Stelle sicher auch erst am Montag antreten können, wenn er das gewollt hätte. Aber er hatte sich vorgenommen, seine neue Heimat über das Wochenende kennen zu lernen. In seiner alten hatte ihn nichts mehr gehalten.
Einrichten konnte man das, was er gerade machte, kaum nennen. In dem kleinen Raum der Verbandsgemeindeverwaltung Nieder-Olm, Blick in den dunklen und verdreckten Hinterhof, fühlte er sich nicht wirklich wohl und hatte daher für sich beschlossen, nichts als das Allernotwendigste aufzustellen. Da der Computer auf dem schräg zum Fenster stehenden Schreibtisch bereits lief und einige gebrauchte leere Ordner schon vor seinem Eintreffen ihren Weg in das Wandregal gefunden hatten, wollte er es eigentlich dabei belassen.
Die mit Schwung aufgestoßene Tür ließ ihn zusammenzucken. Er hatte das Klopfen sicher überhört. So tief war er in seine Gedanken versunken gewesen.
"Lieber Kendzierski, ich darf Sie recht herzlich hier bei uns in Rheinhessen begrüßen. Wir als kleine Verbandsgemeinde, die acht Kommunen betreut, sind natürlich sehr erfreut, dass wir mit Ihnen einen so erfahrenen Mann gewinnen konnten. Auch wenn Ihre neue Aufgabe kaum mit Ihren bisherigen Tätigkeiten vergleichbar sein dürfte, so kann ich mir doch lebhaft vorstellen, dass Sie gerade im Neuen eine echte Herausforderung erkennen können. Lieber Kendzierski, ich darf Ihnen noch einmal, auch im Namen aller Mitarbeiter - wir sind über hundert - ein herzliches Willkommen aussprechen." Kurzes Schweigen. Der andere kam noch einen Schritt näher und nickte ihm wohlwollend zu. "Mein lieber Mann, wenn alle Ihre Arbeitsdisziplin hätten. Mein Lob, dass Sie schon heute hier sind. Nutzen Sie das Wochenende. Schauen Sie sich um in unseren Landgemeinden. Es gibt hier so viel zu entdecken. Jedes Dorf hat seinen ganz eigenen Charme. Wir sind sehr stolz auf unsere Heimat."
Danach herrschte Schweigen. Vor Kendzierski, der mit seinen gut 1,80 nicht wirklich groß war, stand ein knapp zwei Köpfe kleinerer Mittfünfziger und schaute milde lächelnd und erwartungsvoll zu ihm hoch. Er war mit seinem beigefarbenen Anzug richtig ordentlich gekleidet. Die Krawatte leuchtete in hellem Rosa. Kendzierski hätte so etwas nie angezogen. Mit seinen kurzen dunkelblonden Haaren würde er dann sicher wie ein Schweinchen aussehen.
Er liebte seine Jeans. In zwei Farbvarianten: die blauen für Tage wie den heutigen, Schwarz für besondere Anlässe. Den Anzug nur für den äußersten Notfall. Dazu trug er eigentlich immer ein Hemd, das für die notwendige Abwechslung zu sorgen hatte. Heute in dunklem Blau. An kühlen Tagen kam darüber einer seiner zwei dunklen Wollpullover mit V-Ausschnitt. Die hatte er gerne, da sie seinen leichten Bauchansatz fast vollständig verschwinden ließen. An ihm und den ersten lichten Stellen auf seinem Kopf merkte er, dass es nicht mehr weit war bis zur 40. Irgendwann musste er mit seinem Vorsatz brechen, ein sportfreies Leben zu führen, um zumindest das eine Problem im Zaum zu halten. Nur eine rosa Krawatte würde er nie anziehen. Ganz bestimmt nicht. An rosa Krawatten konnte man die Männer erkennen, deren tägliches Aussehen von den Einkäufen ihrer Ehefrauen bestimmt wurde. Eine rosa Krawatte würde kein Mann eigenhändig einkaufen. Da war er sich ganz sicher.
Der, auf den Kendzierski hinunterblickte, schien einer von dieser Gattung zu sein.
Am Klang der Stimme und am Dialekt, den er noch von den vielen Telefonaten in Erinnerung hatte, erkannte er den hauptamtlichen Bürgermeister Ludwig-Otto Erbes. Dieser hatte sich vor ihm aufgebaut und fuchtelnd seine kleine Begrüßungsansprache gehalten. Er war wohl schon länger hier in dieser Verwaltung, in diesem Gebäude, mit ihm ergraut. Das Hochdeutsch schien Erbes einige Mühe zu bereiten. So sprach er wohl sehr selten. Nur mit ihm, dem Neuen hier. Per Telefon hatten sie über seine Bewerbung auf die ausgeschriebene Stelle als Bezirkspolizeibeamter verhandelt und Kendzierski hatte sich danach amüsiert zurückgelehnt und genüsslich versucht, den breiten Dialekt nachzuahmen. Sein damaliger Bürokollege im Dortmunder Stadthaus hatte vor Lachen Tränen in den Augen gehabt, als Kendzierski Erbes spielte. Kendzierskis bester - "Liebä Kendsiäke, mir Roihässe sinn andäsdär" - hatte es innerhalb kürzester Zeit zum erfolgreichsten Flurwitz der letzten Jahre gebracht.
Darüber hatte Kendzierski zumindest gut lachen können.
Wenn er aber an die Art und Weise dachte, wie sein nicht ganz freiwilliger Wechsel von Dortmund in die rheinhessische Provinz zustande gekommen war, verfinsterte sich seine Miene in Sekundenschnelle. Sein Dortmunder Vorgesetzter, ein junger dynamischer Jurist, wie ihn nur die Verwaltung hervorbrachte, mit Parteibuch und reichlich Ehrgeiz für den Weg nach oben, hatte diesen systematisch vorbereitet. Ihr Verhältnis hatte sich seit dem Amtsantritt des Jungjuristen Schritt für Schritt verschlechtert, bis eines Morgens ein ganzes Bündel Stellenausschreibungen auf seinem Schreibtisch lag. Fein säuberlich hatte da einer für ihn gesammelt. Möglichst weit entfernt. In Bezirken, von denen er noch nie etwas gehört hatte. Seinen Widerstand gab Kendzierski dann schnell auf. "Kendzierski, Sie gehen freiwillig, das weiß ich ganz bestimmt. Ich habe die Rückendeckung des OB für alles Weitere. Aber das wollen wir doch beide nicht."
So war er nach Rheinhessen gegangen, in eine Stadt, die mit ihren knapp neuntausend Einwohnern kaum mehr Charme auf ihn ausstrahlte als das Nest im Sauerland, aus dem er vor zwanzig Jahren nach Dortmund gekommen war. Nach dem Abitur hatte er dort seine Ausbildung bei der Polizei begonnen und war der Stadt immer treu geblieben. Bis zu seinem 39. Lebensjahr. Naja, in einer Stadt war er jetzt zumindest wieder gelandet. Wenn auch nur in einer Stadt in Miniaturausführung. Kendzierski musste lächeln. Die Größe des Bürgermeisters passte dazu. Alles ist hier eben kleiner.
Unter den erwartungsvollen Blicken von Erbes hatte Kendzierski sich genötigt gefühlt, einige der Dinge, die sich in der braunen Umzugskiste befanden, auf seinen neuen Schreibtisch zu räumen. Er hatte keine Lust, sich mit ihm zu unterhalten und so zu tun, als sei Nieder-Olm schon immer der Traum für seine nächsten zwanzig Arbeitsjahre gewesen.
"Ja, danke." Mehr fiel ihm in dieser Situation nicht ein und offensichtlich war auch nicht viel mehr von ihm erwartet worden.
"Kommen Sie doch einfach später noch zu mir. Wenn Sie Ihr neues Büro fertig eingeräumt haben. Wir besprechen dann mit dem Dezernenten genau Ihre Einsatzgebiete. Sie sind für alle acht Kommunen zuständig. Das bringt Ihnen viel Abwechslung."
Die Tür war zu und Kendzierski konnte durchatmen. Ob es Erbes aufgefallen war, dass er bei den letzten Sätzen nur noch unter äußerster Kraftanstrengung beim Hochdeutsch geblieben war? "Komme Sie doch einfach spädä noch zu miä", sprach er halblaut vor sich hin und versuchte das hektische Armfuchteln Erbes auch noch zu imitieren. Es war zu verlockend. Diese Sprache, mit ihrer singenden Melodie. Er würde höllisch aufpassen müssen, um dem Bürgermeister nicht irgendwann einmal mit dem lang gezogenen "ä" zu antworten. "Abber sichä, gärne."
Er schüttelte den Kopf. Wie unwirklich war doch diese ganze Situation - seine Situation. Von Dortmund nach Nieder-Olm, von der Abteilung Verkehrsangelegenheiten einer Großstadt zur Leitung derselben in einem kleinen Städtchen und den umliegenden Dörfern, vom Kollegen zum Einzelkämpfer. Das war vielleicht der einzige Lichtblick, den man mit sehr viel gutem Willen erahnen konnte. Er würde sein eigener Herr sein, zumindest dann, wenn er draußen unterwegs war, Baustellen besuchte, geänderte Verkehrsführungen überwachte oder falsch parkende Fahrzeuge abschleppen ließ. Das war seine Aufgabe als Bezirksbeamter. Nicht wirklich spannende Aussichten. Aber er hoffte darauf, endlich seine Ruhe zu haben. Er unterstand dem Polizeipräsidenten in Mainz und war zur Verwaltung hier abgeordnet. Aus Mainz kamen seine Anweisungen, Erbes hatte ihm eigentlich nichts zu sagen. Das müsste ihm genügend Freiräume eröffnen.
"Kendzierski, Sie müssen sofort nach Essenheim hoch. Da soll ein Toter sein, im Weingut Bach. Bis die Mainzer Kollegen da sind, passen Sie dort auf, dass keiner etwas anrührt. Die machen den Rest dann schon. Dass die auch mit ihren gärenden Kellern nicht vorsichtig umgehen können! Wir haben hier sonst keinen, der das machen könnte. Es wird bestimmt nicht lange dauern, bis die Mainzer Kripo da ist. Sie können dann sofort wieder weg."
Erbes stand mit hochrotem Kopf vor ihm. Er schien die zwei Etagen zu ihm heraufgerannt zu...