Gilgamesch und die Seherin III ... Blumen, Lehmziegelbauten und Palmenhainen. Ein Arm des Euphrat floss mitten durch die Stadt, vorbei an verzierten Tempelbauten und begrünten Palastanlagen. Ein dichtes Kanalsystem verteilte das plätschernde Nass überall in der Großstadt, wo es zur Bewässerung, aber auch als Wasserstraße für den Schiffsverkehr genutzt wurde. Der tiefste Kanal umrundete Uruk dort, wo heute die gewaltige Stadtmauer steht, denn die gab es damals noch nicht. Die Stadt Uruk war eine grüne Oase mitten in Mesopotamien. An diesem Ort hatten sich die Menschen ihr Paradies auf Erden geschaffen, dachte ich mir. 40.000 Bewohner drängelten sich auf den kiesbedeckten Straßen: Töpfer, Händler, Lagerverwalter, Wasserwächter; Ziegen und Rinder mit Körben, die bis oben hin gefüllt waren mit Maulbeeren, Quitten, Feigen, Aprikosen, Äpfeln, Trauben und allem, was das fruchtbare Schwemmland zwischen Euphrat und Tigris hergab. Von weitem erkannte man schon den legendären Tempelturm im Herzen der Stadt, die Heimstätte der Götter, und daneben die eindrucksvollen Palastanlagen des Königs Gilgamesch. Bald wohnte ich im Inneren des Herrschaftssitzes. Als Geschichtenerzählerin konnte ich mich frei zwischen den Palastmauern bewegen. Man schätzte mich für meinen Einfallsreichtum und fragte sich, woher ich junges Ding die Ideen für die reichhaltigen, phantastischen und spannenden Erzählungen nahm. Die Antwort blieb mein Geheimnis. * Am ersten Tag, der mir in den Sinn kommt, wenn ich an den König denke, huschte ich durch das weitläufige System aus Säulen, Räumen und Korridoren, vorbei an mannshohen Statuen und gestickten Wandteppichen. An diesem Tag waren die Böden prachtvoll geschmückt mit einem Meer aus Blumen. Farbenfrohe Seidentücher wehten mir bei jedem Schritt hinterher. Die Heirat des wohlhabenden Händlers Fernes stand ins Haus und so wurden alle Wege dekoriert, vom Portal bis zum Tanzsaal. Es dämmerte schon und der Duft des Abendmahls lag in der Luft. Ich wollte nicht, dass man mich bemerkte und hastete leise durch den großen Korridor. Vor mir sah ich das Licht der Abendsonne hereinscheinen. Ich fragte mich, was sich die Wachen wohl dachten, wenn ich zu dieser späten Stunde den Palast verließ. Da packte eine Hand grob meine Schulter und riss mich zurück. »Wer es abends so eilig hat, führt beileibe etwas im Schilde«, hörte ich eine kräftige Stimme sagen. Neben mir stand König Gilgamesch. Das pechschwarze, glänzende Haar fiel strähnig in sein Gesicht und bedeckte den Oberkörper bis zu den Brustwarzen. Die wilden Augen funkelten mich an, während seine Pranke einschüchternd auf meiner Schulter ruhte. Zwei Männer der Stadtwache bauten sich neben uns auf. Der Herr über Leben und Tod, schoss es mir durch den Kopf, denn so nannte man ihn. Auf eine eigentümliche Art schämte ich mich - grundlos. Ich spielte nicht mit offenen Karten, ja. Aber ich war ein freies Individuum, konnte tun und lassen, was ich wollte. Der König sah das anders. Gewiss erkannte er meine Scheu. »Ich wollte ...«, stammelte ich und tat mir damit keinen Gefallen. »Ich fühle mich nicht so gut. Frische Luft schnappen wollte ich, mein König.« Menschen wie er können das Unbehagen riechen. Solche Persönlichkeiten stürzen sich auf jeden Funken Unsicherheit mit der hemmungslosen Energie eines Geparden auf der Jagd. Sein Daumen strich sanft über meinen Nacken. Der Herr über Leben und Tod. »Ich denke, dass du, Geschichtenweib, mir schon sehr lange deine Ergebenheit bewiesen hast«, sagte er und ich wusste, was er damit ausdrücken wollte: Ich sollte mich nicht in Sicherheit wiegen, nur weil ich schon so lange im Palast lebte.