I Sinai, Ägypten, 1956 nach Christus Als ich vom Berg Sinai auf die Mauern des Katharinenklosters hinabblickte, musste ich unwillkürlich an einen überdimensionalen Sandkasten denken. Oder an eine Sandburg am Strand. Bei meinem ersten Blick aus der Ferne überkam mich ein tiefes Glücksgefühl. Hinter diesem quadratischen Festungsbau, dem ältesten Kloster der Christenheit, mit Dächern in den verschiedensten Brauntönen, verkroch sich die erste christliche Bibliothek der Welt. Und ich würde sie betreten dürfen. Sechstausend handgeschriebene Schriftstücke erwarteten mich, einige davon älter als das Kloster selbst. Seitdem ich am eigenen Leib erfahren hatte, mit welchen ungeheuren Kräften historische Schriften auf unsere Vergangenheit einwirken können, hegte ich den Wunsch, diese Klosterbibliothek zu besuchen. Man sagt, einzig und allein die Sammlung der Biblioteca Vaticana in Rom enthalte mehr Originalhandschriften aus dem Altertum. Hier, im Katharinenkloster am Fuße des Sinai, hatte der Theologe Konstantin von Tischendorf 1844 den Codex Sinaiticus entdeckt, die älteste handgeschriebene Bibel der Welt. Er erkannte, welchen ungeheuerlichen Fund er gemacht hatte und brachte das Manuskript über Kairo nach Moskau, von wo aus es 1933 in die British Museum Library in London gelangt war. * Ein mit schwarzem Talar bekleideter Mönch mit Bart und tiefschwarzer Kappe begleitete mich in einen Raum, dessen hohe Gewölbedecke von imposanten Rundbögen getragen wurde. Seinen Namen wollte er mir nicht verraten. An den Wänden reichten Holzregale bis zur Decke, vollgestopft mit Büchern und Schriftrollen bis oben hin. Nur ein Blick und schon spürte ich die Gewalt der vergangenen Jahrtausende auf mich einwirken. Ich erkannte gleich, dass da noch mehr sein musste. Es war eine seltsame Ahnung - als lauerte eine uralte Legende an irgendeinem Ort unter den Steinen der Bibliothek, im Verborgenen. Und dann sah ich es: Zwischen zwei Regalen blickte mir eine unscheinbare Tür, ein bisschen zu klein, um aufrecht hindurchzugehen, erwartungsvoll entgegen. Sofort war ich wie gebannt. Stille Vorfreude mischte sich mit dem fahlen Beigeschmack der Erinnerung an die Ereignisse vor 23 Jahren. Ich las, was in arabischen Schriftzeichen darauf geschrieben stand: ARCHIV. Die schwarze Pforte - zwar an einem anderen Ort und in einer anderen Zeit, aber mit derselben Intensität und Anziehungskraft. 'Was ist damit?' 'Ich weiß nicht', sagte der Mönch und sah sich hilfesuchend um. 'Man hat mir zugesichert, ich könne die Räume betreten - alle Räume', sagte ich mit Nachdruck. Der Mann brummelte etwas Unverständliches. 'Ist da offen?' Ich ging zielstrebig auf die Pforte zu. 'Ich weiß nicht ...' Sein Kopf drehte sich hin und her. 'Lassen Sie mich mal', sagte ich und drückte den Knauf. Die Tür öffnete sich. Und tatsächlich erwartete mich eine Treppe nach unten. Ich fühlte mich wie durch die Zeit geschleudert - 23 Jahre. Und die unfassbaren Ereignisse von damals, als ich noch in der British Museum Library arbeitete, überschwemmten meine Erinnerung und jagten mir einen Schauer über den Rücken. 'Ich weiß nicht, ob Sie das dürfen', jammerte der Mönch. Was dieser Mann wusste und sagte, war mir egal. Ebenso, was erlaubt und was verboten war. Die Tür zum Bibliotheksarchiv verschlang mich und ich folgte den Stufen hinab. Jeder Schritt abwärts war eine kleine Zeitreise. Noch ein Jahr. Und wieder eines. Und als ich unten angekommen war, spürte ich dasselbe Gefühl, das mich gepackt hatte, als ich vor beinahe einem Vierteljahrhundert das Archiv der British Museum Library zum ersten Mal betreten hatte.