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1945 ging der zweite große Krieg des 20. Jahrhunderts zu Ende. Doch lag nach einer kurzen Phase der Erschöpfung recht unmittelbar in der Luft, dass es sich auch bei diesem Krieg wie schon bei dem 1914 bis 1918 vorausgegangenen nicht um the war to end all wars handelte. Absehbar war bald, dass sich die Siegermächte entlang ihrer unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen und außenpolitischen Ziele entzweiten. Frühe Fingerzeige gaben ideologisch wie geopolitisch die Konfrontation im Griechischen Bürgerkrieg zwischen Kommunisten auf der einen und Republikanern und Monarchisten auf der anderen Seite, die Frage um die Kontrolle von Bosporus und Dardanellen, die machtpolitische Krise um den Rückzug der Sowjets aus dem Norden des Iran, das Aufeinanderprallen von Mao Tse-tungs Kommunisten und Tschiang Kai-scheks Nationalchinesen im Chinesischen Bürgerkrieg sowie die Besetzung und Teilung der koreanischen Halbinsel.1
Was sich entwickelte, das beeinflusste, prägte und dominierte unter der Epochenbezeichnung Kalter Krieg in den nächsten vier Jahrzehnten die internationale Politik und die Gesellschaften aller Länder, die damit in Berührung kamen. Er wurde zwischen seinen großen Gegenspielern und deren Bündnissystemen - USA und NATO auf der einen, Sowjetunion und Warschauer Pakt auf der anderen Seite - in Europa und in Nordamerika, auf den Weltmeeren, im Luftraum und im All ausgetragen. Nie fand er jedoch in Form einer umfassenden militärischen Konfrontation an der unmittelbaren Nahstelle beider Blöcke entlang des sogenannten Eisernen Vorhangs mitten durch Europa statt. Wo er »heiß« wurde, geschah dies anderswo auf der Welt, in Stellvertreterkriegen und in Bürgerkriegen in Ost- und Südostasien sowie in Afrika. Denn ein direktes Aufeinandertreffen der Armeen beider Bündnisse hätte mehr bedeutet als nur eine Neuauflage großer Kriege der Vergangenheit. Mit der Atom- und der Wasserstoffbombe haben nach 1945 technische Innovationen in zuvor nicht gekannter Weise die Art eines möglichen nächsten Weltkrieges und damit den Spielraum der großen Mächte in der internationalen Politik strukturiert.
Wie aber ließ sich seitdem ein neuerlicher weltweiter Krieg überhaupt denken? Die Voraussetzungen hatten sich mit dem Abwurf der amerikanischen Atombomben über Hiroshima und Nagaski im August des letzten Kriegsjahres essenziell verschoben. Ganz am Anfang des damit eingeläuteten neuen Zeitalters stand eine beinahe metaphysische Überwältigung der Augenzeugen, die am 16. Juli 1945 in der Wüste von New Mexico der Explosion der allerersten Kernwaffe beiwohnten, als Generalprobe vor ihrem scharfen Einsatz. Die Berichte von der Helligkeit, dem Blitz, der Geräuschkulisse, der Wucht der Detonation, schließlich der aufsteigenden Wolke sprachen in religiös-pathetischer Weise von etwas nie Dagewesenem, einer »technologischen Gottheit«; oder von einem Neubeginn der Menschheitsgeschichte in Analogie zur Schöpfungsgeschichte: »Es werde Licht«.2 Die »Bilder der atomaren Apokalypse, Post- oder Fast-Apokalypse« - visualisiert im Atompilz, der im Schrecklichen zugleich eine ästhetische Qualität besitzt, ja »schön« ist - sind »seit Anfang der fünfziger Jahre fester Bestandteil des kollektiven Faszinationshaushaltes.«3 Es ist behauptet worden, dass - weil die Atombombe nach Hiroshima und Nagasaki eine stets nur angedrohte Waffe blieb - tatsächlich Kampfflugzeuge und Bomber seit dem Zweiten Weltkrieg die modernsten Waffen waren, weshalb nicht der Atompilz, sondern »eher das Bombergeschwader« bildhaft für die Realität der Kriege des 20. Jahrhunderts stünde.4 Tatsächlich verantwortet »das Bombergeschwader« durch seinen konkreten Einsatz vor und nach 1945 unzählige Kriegsopfer. Dagegen ist es die visuelle Kraft und Gewalt des Atompilzes, über die sich imaginäre Vorstellungen von einen kommenden großen Krieg nach 1945 in das Bewußtsein der Menschheit eingebrannt haben. Als erste Fotos von den Explosionen und der folgenden Mushroom Cloud veröffentlicht und erste Berichte publik wurden, sickerte schockartige Erkenntnis über das Wesen der neuen Waffe in das Bewusstsein der politisch und militärisch Verantwortlichen in der Weltpolitik ein.5
Die neue Atombombe überragte in ihrer politischen Bedeutung die schon früher bekannten biologischen und chemischen Waffen. Kernwaffen6 wurden in den folgenden Jahrzehnten zwar nur zu Probezwecken gezündet. Ihre bloße Existenz jedoch determinierte das Handeln in der Blockkonfrontation von NATO und Warschauer Pakt. Angesichts ihres überwältigenden Vernichtungspotenzials ging es im strategischen Denken über »die Bombe« gar nicht um die »tatsächliche Herbeiführung« der atomaren Apokalypse, es genügte allein die »suspendierte Möglichkeit« jener aus ihrem eventuellen Einsatz unvermeidlich folgenden Katastrophe.7 Idee und Wirklichkeit der Atomwaffe stehen sich bis heute insofern nicht gegenüber - sie sind ineinander verwoben: Bereits die Vorstellung, diese könnten eingesetzt werden, reicht(e) aus, um Angst zu produzieren. »Der Krieg ist dem Frieden als latente Möglichkeit eingesenkt, der Frieden - so das Denken des Kalten Krieges - nur durch den ständig drohenden Krieg garantiert.«8 Solche Vernichtungsangst hat die Mentalitäten der Menschen subkutan geprägt. Sie völlig zu verdrängen, war schlechterdings nicht möglich. Der immer wieder gedachte und auch simulierte Krieg hat ganze Gesellschaften nach innen »in ständiger Alarmbereitschaft« gehalten.9 Ein Ratgeber der britischen Armee zum Thema Zivilverteidigung fasste bereits wenige Jahre nach Kriegsende in Form eines szenischen Dialogs zusammen, was schon Schulkinder lernen sollten:
»Nanny (in yellow oilskin):
Johnnie, say your ABC
Johnnie:
'A' is atomic radioactivity
'B' biological bubonic proclivity
'C' is for chemical warfare - that's gas,
If a boy don't look out for these three he's an ass.«10
Obwohl Frieden auf dem Kontinent herrschte, blieb dem anhaltenden Ost-West-Konflikt stets die Möglichkeit des Einsatzes von Massenvernichtungswaffen eingeschrieben, eine dauerhafte Konstante im politischen und militärischen Handeln, in der medialen Wahrnehmung, in der gesellschaftlichen und in der wissenschaftlichen Debatte: »Nachdem Kolumbus Amerika entdeckt und der Welt von seiner Entdeckung berichtet hatte, ließ Amerika sich nicht wieder von der Landkarte streichen.«11 Seit 1945 gibt es aus dieser Einsicht kein Entkommen, obwohl Nuklearwaffen bis zu den Drohungen des Kremls im Ukrainekrieg seit 2022 »in einen Dornröschenschlaf verfallen« waren.12
Die Gründe für die Dauerhaftigkeit und ungebrochene Fortschreibung nuklearer Abschreckung liegen zwar auch in den technisch-phsikalischen Eigenschaften der neuen Waffe, aber vor allem beruhen sie auf dem Wesen des Politischen: Denn das verantwortliche Personal in der Politik (so wird zumindest unterstellt) denke Zukunft nur in Form einer Wahlperiode oder bestenfalls im Zeithorizont der eigenen Generation. Hinsichtlich der nuklearen Strategie bedeutet das, den Moment eines möglichen Atomwaffeneinsatzes hinter diese Zeitabschnitte zu verzögern. Das atomare Paradigma bestätigt sich derart ein um das andere Mal gleichsam selbst: »In expert as well as policy circles, no one actually speaks about >nuclear eternity< and many would probably reject the notion but its unspeakability may well be a condition of its continued reproduction.«13 Die angesprochene Unausweichlichkeit einer »nuklearen Ewigkeit« resultiert daraus, nichtnukleare Zukünfte angesichts der realen Existenz von Kernwaffen überhaupt in glaubhafter Form konzeptionalisieren zu können.
In der politikwissenschaftlichen Theorie von den Internationalen Beziehungen ist unter anderem argumentiert worden, dass es einen Kalten Krieg auch ohne die Atombombe gegeben hätte: Die geopolitische Rivalität hätte sich ihrer ungeachtet aufgebaut, und damit die Konkurrenz zwischen Kapitalismus und Kommunismus bzw. Demokratie und Totalitarismus. Ein wortmächtiger Politologe wie John Mueller geht sogar davon aus, dass die Prägekraft der Kernwaffen überbewertet worden sei, denn auch ohne sie hätten die beiden Supermächte ...
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