Was ist Achtsamkeit? Und was ist achtsamer Sex?

Alle Methoden eines tieferen, sinnlichen sowie sexuellen Empfindens basieren auf den Prinzipien der Achtsamkeit, egal ob man von Slow Sex, erfüllter Liebe, bewusster Sexualität, in die Tiefe gehenden Beziehungen oder von Tantra spricht (Tantra ist eine altindische Philosophie der Verwobenheit aller Dinge, die sich keineswegs nur auf die Sexualität bezieht). Das grundlegende Verständnis von Achtsamkeit ist wichtig, wenn Sie Ihre Sexualität auf eine neue Ebene führen und wieder mehr spüren wollen. Achtsamkeit ist Bewusstheit für das, was jetzt gerade ist. Und damit der zentrale Schlüssel für Beziehungen, die von Erfüllung, Sinnhaftigkeit, neu belebter Intimität und gegenseitigem Respekt geprägt sind. Das macht diese Beziehungen auf Dauer stabiler. All diese Punkte gelten keineswegs nur für die Sexualität, sondern für sämtliche Aspekte Ihres Zusammenlebens.

Achtsamkeit ist offene Wachheit

Diese Form der Achtsamkeit ist ganz auf den gegenwärtigen Moment ausgerichtet. Das Ziel dahinter: sich, die Umgebung, andere Menschen, das Leben, die Liebe und die Sexualität deutlich intensiver wahrzunehmen, als dies im unbewussten Zustand der Fall ist. Im Verlauf dieses Ratgebers werden Sie sehen, warum die Beziehungen nicht gut funktionieren, denen das achtsame und respektvolle Handeln fehlt. Den größten Teil unseres Alltags verbringen wir in der Regel mit Gedanken an die Vergangenheit (»Hätte ich bloß . «, »Warum hat er/sie das gemacht?«) oder an die Zukunft (»Werden wir dann noch zusammen sein?«, »Wäre ein 3-er nicht toll .?«). Was für eine Zeitverschwendung, statt den Augenblick zu genießen! Das Gestern können Sie nicht mehr beeinflussen, und Sie wissen auch nicht, ob es ein Morgen überhaupt geben wird. Also lohnt es sich, alle Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt zu richten.

Sexualität braucht Achtsamkeit

Das ist auch für die achtsame Sexualität von Bedeutung: Sie können sich und Ihren Partner/Ihre Partnerin nur dann voll spüren, wenn Sie nicht in längst vergangenen Zeiten festhängen (etwa dem Anfang Ihrer Beziehung) oder in einer ungewissen Fiktion (dem Wunschporno). Das mag für Sie vielleicht ungewohnt und fremd klingen. Lassen Sie sich jedoch einladen, einen Moment innezuhalten - jetzt und hier, um zu spüren, was Sie gerade empfinden. Ist es interessierte Neugier, ein inneres zustimmendes Nicken, gelangweiltes Augenrollen oder vielleicht Ungeduld, wann es endlich losgeht? Egal was Sie bei dieser kleinen Innenschau erleben: Sie sind bereits mittendrin im Feld der Achtsamkeitserfahrung.

Wenn wir nicht gerade nachgrübeln, dann verbringen wir viel Zeit damit, uns abzulenken, statt uns und andere zu sehen und zu fühlen. Etwa indem wir alle fünf Minuten zum Smartphone greifen, vermeintlich wichtigen Diskussionen in den sozialen Netzwerken folgen, oder indem wir plötzlich »ganz dringend« alltägliche Dinge erledigen »müssen«. Durch all das verlernen wir, den tatsächlichen Moment zu erleben. Auf die Sinneswahrnehmungen übertragen bedeutet dies, dass Sie immer weniger spüren. Es ist eine reine Frage der Übung und der Gewichtung von Aufmerksamkeit: Die Synapsen, die für das möglichst schnelle Wischen auf dem Tablet sorgen, trainieren wir. Gleichzeitig verkümmern die, die für das Spüren von nackten Füßen auf Gras zuständig sind. Oder für das von Haut auf Haut. Wie sollen daraus lustvolle Momente entstehen?

Achtsamkeit als Schlüssel zu Ihren Empfindungen

Achtsamkeit führt aus dem Dilemma heraus, nur in der Theorie zu leben. Sie ist gleichzeitig der Türöffner zu Ihren Empfindungen. Das Konzept stammt aus dem Buddhismus. In der achtsamen Praxis versucht man, bewusster zu leben - jeden Moment möglichst genau zu beobachten, zu fühlen und in sich aufzunehmen. Dabei geht es jedoch keineswegs nur um die Innenschau. Zu einer achtsamen Lebensweise gehört grundsätzlich eine wertschätzende und mitfühlende Haltung gegenüber Ihrem Partner, aber auch gegenüber allen anderen Menschen sowie der Natur. Diese Haltung entsteht jedoch fast automatisch und parallel zu Ihrer eigenen wachsenden Achtsamkeit, wenn Sie sich selbst liebevoll und mit viel Verständnis betrachten lernen. Dann können sich Ihr Mitgefühl und Ihr Verständnis auch auf die Personen in Ihrer Nähe ausweiten. Es ist wunderbar, wenn Sie als Paar ein Leben in gegenseitiger Liebe und Achtung verbringen. Insbesondere dann, wenn Sie diese Kraft auch darüber hinaus spürbar machen und wirken lassen. Etwa als Inspiration für andere Paare und Beziehungen.

Bewertungen schränken uns ein

Ein weiteres Grundprinzip der Achtsamkeit: Man bewertet die Gefühle und Empfindungen, die einem in jedem Moment begegnen, möglichst nicht. Denn mit der Bewertung sind wir im Kopf, nicht mehr im Spüren. Es ist sehr herausfordernd, etwas ohne Wertung zu akzeptieren, wie Sie schnell feststellen werden. Und doch lohnt es sich, gerade das zu üben, nur so können wir neue Erfahrungen machen. Durch Bewertungen teilen wir unser Leben in Attribute ein, die das Empfinden so einschränken, wie unser Wortschatz es tut. Die Begriffe, die wir uns in unserem Kopf zurechtlegen, geben der Erfahrung immer auch eine Richtung vor - eine Richtung hin zu Altbekanntem. Sie kennen sicherlich die Metapher vom Glas, das halb voll oder halb leer ist, je nach Betrachtungsweise. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen im Frühjahr in einem Straßencafé. Bei bewusster Beobachtung könnten Sie nun wahrnehmen, dass der Ort ganz schön belebt ist. Das Durcheinander geht Ihnen schnell auf die Nerven, wo kommen die ganzen Leute her, Sie hätten lieber Ihre Ruhe. Wenn Sie offener sind, nehmen Sie gleichzeitig oder stattdessen etwas anderes wahr: Wie entspannt die Gesichter all der Gäste sind, jetzt im Frühjahr, wo die Sonne wieder häufiger strahlt, und dass Sie sich davon anstecken lassen können. Es ist Ihre Entscheidung, jederzeit.

Offen sein und »durchfühlen«

In solchen Momenten - gerade auch in intimen Augenblicken - ist es zudem sehr hilfreich, auf eine Benennung des Gefühls und des Sinneseindrucks zu verzichten. Insbesondere, wenn wir etwas Ungewohntes, Neues empfinden. Machen Sie keine alte innere Schublade auf, um die neue Erfahrung darin verschwinden zu lassen. Sondern »durchfühlen« Sie das, was gerade passiert. Wir sind selbst beim Sex immer wieder verlockt, für jegliche Erlebnisse einen Namen zu finden, also eine Einordnung. Das jedoch bremst die Eindrücke aus, die mit nichts vergleichbar sind. Mehr hierzu beim Thema »Orgas-muss« in ? Kapitel 9. Achtsamkeit sich selbst gegenüber hat zusätzlich damit zu tun, die eigene Sprache zu beobachten, mit der wir unser Handeln tagein, tagaus beschreiben und gleichsam bewerten. Es macht einen Unterschied, ob Sie als Mann sagen »Ich habe Erektionsprobleme« oder gar »Ich bekomme keinen hoch«. Oder ob Sie es wie folgt formulieren: »Ich wünsche mir gerade etwas anderes.« Sprache kann Veränderung schaffen. Sie kann den Blick weg vom scheinbaren Mangel hin zu anderen Optionen lenken.

Schauen Sie auf das Hier und Jetzt

Auf Beziehungen übertragen bedeutet »nicht bewerten«: Nehmen Sie Ihre wiederkehrenden Paarkonflikte und -themen erst einmal aus dem Fokus. Richten Sie Ihren Blick stattdessen auf das, was aktuell da ist und geschieht. Wer immer nur verbissen auf sein Ziel starrt, der bremst die freie Entwicklung und wird blind für mögliche Alternativen. Vor allem dann, wenn mit diesem Ziel eine sehr hohe Erwartungshaltung einhergeht (etwa »Wir müssen mit besserem Sex unsere Beziehung retten«).

Mit diesen Übungen schulen Sie Ihre Achtsamkeit

Doch zurück zur praktischen Arbeit. Mit der Zeit steigert achtsames Handeln die Intensität, mit der Sie sich, Ihr Gegenüber und Ihre Umgebung wahrnehmen. Es gibt zahlreiche einfache Übungen, um die Achtsamkeit zu schärfen. Hier ein paar Beispiele:

Den Atem beobachten: Konzentrieren Sie sich dabei eine Weile etwa auf die Bewegungen Ihres Bauchs und/oder des Brustkorbs oder auf den Luftzug in Ihrer Nase. Wie genau nehmen Sie das Einatmen wahr, wie das Ausatmen? Diese Beobachtung ist ein wichtiges Element bei der Meditation, aber auch im Stress des Alltags, um in den Moment zurückzukehren - und zu sich selbst. Schaffen Sie es, die Konzentration auf Ihre Atmung zeitlich immer weiter auszudehnen, so wie man es etwa in der Meditation übt? Dann geraten Ihre Gedanken zunehmend in den Hintergrund. Eine prima Voraussetzung, nicht nur für ein möglichst entspanntes Liebesspiel.

Dableiben: Ihnen gelingt es nur kurz, sich auf den Atem zu fokussieren? Ihre Gedanken gehen nach wenigen Sekunden auf Wanderschaft? Ärgern Sie sich nicht, sondern seien Sie milde und geduldig mit sich. Nehmen Sie die Entdeckung, dass Sie in Ihre Gedanken abgedriftet sind, freundlich als Denken zur Kenntnis. Danach holen Sie sich und Ihre Aufmerksamkeit sanft zurück zum Atem. Wenn Sie mit sich sprechen, dann tun Sie dies mit einer sanften und mitfühlenden Unnachgiebigkeit. So als würden Sie mit einem imaginären (inneren) Hund das Kommando »Bleib!« üben. (Wenn Sie einen Hund haben, wissen Sie, wie viel Klarheit und Geduld das Beibringen dieses...