Schweitzer Fachinformationen
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Der letzte Tag vor den Sommerferien begann nicht anders als die vorangegangenen Sommertage. Rainer stand wie gewohnt als Erster auf und machte seine Runde durch die drei Hauptgebäude der Berufsschule, um mit seinem imposanten Hausmeisterschlüsselbund alle Türen aufzuschließen, die Uhr zu stellen, die Klingelanlage einzuschalten und sehr gewissenhaft eine passende Glühbirne für ihr Schlafzimmer auszusuchen. Dass er auf diese Weise einer Fortsetzung des Verhörs vom Vorabend erst einmal aus dem Weg gehen konnte, empfand er als ausgesprochen angenehm. Danach, wenn er zum gemeinsamen Frühstück wieder in die Wohnung zurückginge, wäre für eine solche Auseinandersetzung keine Gelegenheit und die üblichen Pflichten seiner Frau füllten den Rest ihres Tages aus, wie seine Arbeit seinen Tag ausfüllte. Die Schulkinder würden ihre Zeugnisse mit nach Hause bringen, was reichlich anderen Gesprächsstoff liefern dürfte, und wer weiß, was noch alles passierte? Ach ja, er sollte nach dem Frühstück den Schulhof mal wieder nach Bierflaschen absuchen. Die Maurerlehrlinge ließen ihre Flaschen zwischen den Übungs-Mauern stehen, wenn die Pausenklingel sie wieder zum Unterricht rief. Maurer und Bier, das gehörte zwar schon seit jeher zusammen, aber in der Berufsschule, davon war Rainer überzeugt, durfte eigentlich kein Bier getrunken werden. Die Lehrlinge tranken also mehr oder weniger geheim, und die Instruktoren drückten beide Augen zu. Rainer hatte aber sogar schon Instruktoren mit den Lehrlingen zusammen Bier trinken sehen. Das störte Rainer nicht. Die Wenigsten machten sich aber die Mühe, die leeren oder, schlimmer, fast leeren Flaschen nach der Schule einzusammeln. Dann lagen schon mal Scherben zwischen den Mäuerchen herum, wo die Kinder gerne Verstecken spielten. Ob die Kleinen beim Spielen in die Scherben griffen oder die Flaschen selbst zerdepperten und sich dabei verletzten, war ziemlich egal, sie kamen jedenfalls immer mal wieder heulend und mit blutenden Fingern oder Füßen angerannt, und das musste ja nicht sein. Die Bierflaschen zogen außerdem im Sommer viele Wespen an, und auch die hielten nicht nur die Kinder auf Trab. Für einen Schulhausmeister gab es eben immer irgendetwas zu tun. Davon, dass einige seiner Kinder von den nicht ganz geleerten Bierflaschen auch noch Gebrauch machten, hatte er keinen Schimmer. Als Rainer nach seiner Runde die Wohnung betrat, war diese, wie gewohnt, schon erfüllt von den vielen Stimmen und den Tagesvorbereitungen der Großfamilie Fisch. Wenn alles glattging, würde er schon wieder bei seiner Arbeit sein, bevor Erika die Gelegenheit ergreifen konnte, ihn zur Rede zu stellen.
"Franz, kriegt ihr heute noch mal Milch mit?", rief Erika in den Wohnraum, während sie in der Küche von einem großen Graubrot mit einem gewaltigen Brotmesser Scheiben abschnitt. Franz verteilte gerade die Frühstücksbrettchen auf dem Esstisch, an dem sich immer mehr Kinder einfanden oder ebenfalls Verpflegung und Besteck aus der Küche zum Tisch schafften. Erikas Frage bezog sich auf eines der kleinen Privilegien der Schüler an Jugendsportschulen - sie bekamen, meist täglich, Extra-Milchrationen. Da Milch jedoch in der Regel immer ausreichend verfügbar und außerdem billig war, hatten viele Familien für diese Extramilch gar keine Verwendung. Wäre Milch eine kostbare Mangelware gewesen, hätte man sie in den betreffenden Schulen auch nicht frei ausgegeben, sondern nur den absoluten Leistungsträgern auf höchster Ebene spendiert. Die Fischs, die zu neunt vom schmalen Hausmeistergehalt Rainers lebten und ohne nennenswerte staatliche Unterstützung zurechtkommen mussten, denn Kindergeld gab es noch nicht, konnten aber jeden Liter gebrauchen. Daher gehörte auch die nachfolgende Ermahnung Erikas, "Dann vergiss die Kanne nachher nicht, ja?", zum familiären Morgenritual.
"Alles klar", bestätigte Franz wie gewohnt. Er sammelte in dieser ziemlich großen Milchkanne die Rationen all jener Klassenkameraden, die ihre Milch nicht brauchten. Die schwere Kanne nach der Schule allerdings nach Hause zu schaffen, war selbst für einen athletischen Jugendlichen wie Franz recht mühsam, egal ob per Tram, Fahrrad oder zu Fuß. An so einem heißen Tag wie heute würde sich Franz nach der Schule besonders beeilen müssen, die Milch zu seiner Mutter zu bringen. Die würde sie sicherlich gleich zum Kuchenbacken verwenden und fürs Abendessen einen großen Topf süßer Mehlsuppe damit zubereiten.
"Warum kriegt der Franz immer Milch in der Schule?" Offenbar hatte Norbert heute seinen wissensdurstigen Tag.
"Weil er in der Sportlerschule ist", antwortete Erika, während sie ihm das Körbchen mit den Brotscheiben in die Hand drückte. Drinnen im Wohnzimmer nahm Rainer mit frisch gewaschenen Händen am Tisch Platz. Maren empfing den Brotträger Norbert im Wohnzimmer mit hochgezogenen Augenbrauen und sehr wichtiger Miene: "Ich bin auch auf der Sportlerschule!"
Aber Norbert beachtete sie überhaupt nicht. Er war noch damit beschäftigt, den Zusammenhang zwischen Schulbesuch und Milch zu verstehen. Die Schüler der Berufsschule bekamen jedenfalls keine Milch, sondern Bier. Er fragte sich, was er wohl bekommen würde, wenn er endlich auch zur Schule ginge. Carla kletterte auf die Sitzbank hinter dem Esstisch und stützte ihr Kinn traurig auf ihre Unterarme.
"Heute kriegen wir Ferien", seufzte das strohblonde Mädchen.
"Freust du dich nicht auf die Ferien?", fragte Rainer, der schon seine dritte Stulle verschlang und nicht vorhatte, länger als unbedingt nötig beim Frühstück zu verweilen.
"Nö", antwortete Carla.
"Du kannst doch die Frau Eck nich leiden!", rief Maren, erfreut über die Ablenkung von ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit. Frau Eck war Carlas Klassenlehrerin und die Inkarnation einer humorlosen, sozialistischen Prinzipienreiterin.
"Die will immer lernen, die Carla!", dröhnte Norbert so laut herum, dass sein Bruder Siegfried, der verschlafen aus dem Badezimmer kam und gerade seine kurze Lederhose hochzog, sie vor Schreck wieder losließ, sodass die schwere Hose herunterrutschte und Siegfried krachend hinknallte.
"Mama, Norbert will auch lernen!", rief Norbert.
"Dann hörst du vielleicht mal auf, die Hühner zu jagen." Einen kleinen Schuss vor den Bug hatte sein lauter Bruder verdient, fand Siegfried, als er sich wieder hochgerappelt hatte.
"Ja, der Bemme jagt immer die armen, armen Hühner!", rief Carla entrüstet. Vielleicht war das ja die Chance, ihre liebe Hempel zu retten. Rainer ließ sich von diesem unerhörten Skandal nicht aus der Ruhe bringen.
"Lass doch die Hühner in Frieden, Junge!", lachte er.
"Ich bringe auch Milch mit aus der Schule!", konstatierte Maren in einem letzten, verzweifelten Versuch, von ihrem kleinen Bruder Norbert wahrgenommen zu werden. Sie hielt sich in respektvollem Abstand zu Manuela, die diesmal von Markus gefüttert wurde. In diesem Moment erschien Erika mit einer großen und einer kleinen Milchkanne im Zimmer, stellte die beiden klappernden Behälter in der Nähe der Wohnungstür ab, damit sie auch nicht vergessen würden, und ging zu ihrem Platz, um mit ihrer Familie zu frühstücken. Sie hatte sich kaum niedergelassen, als Rainer sich von seinem Stuhl erhob und "Ich mach dann mal weiter" sagte. Der Blick, den er von seiner Frau empfing, als er es doch riskierte, sie anzusehen, zeigte ihm, dass er keine Sekunde zu spät floh, aber auch, dass er den Wind, den er gesät hatte, irgendwann würde ernten müssen.
Etwa zur selben Zeit klopfte jemand an die Tür der kleinen Wohnung des Gärtnereiklempners Otto Schimmelpfennig, der gerade dabei war, seine Kaffeetasse, die er mit warmem Seifenwasser gespült hatte, abzutrocknen, um sie wieder zu seiner zweiten Tasse auf das kleine Bord zu stellen und anschließend zur Arbeit zu gehen. Otto frühstückte nie und aß generell wenig, und es gab nicht wenige in seinem Bekanntenkreis, die immer wieder meinten, das sähe man ihm auch an. Denn obwohl er gerade eben durch eine normal hohe Tür passte, wog er nicht mehr als sein bester Freund Rainer, und der war gut einen Kopf kleiner als Otto und hatte nicht einmal einen Bauchansatz. Die große Gärtnerei lag ganz in der Nähe von Ottos Wohnung. So konnte er in der Mittagspause immer nach Hause gehen und sich eine Suppe aufwärmen oder eine Wurst braten. Das reichte bis zum Abendbrot. Ottos Genügsamkeit lag so tief in seinem Charakter verwurzelt, dass niemand ihn je dazu hatte bringen können, einmal "ordentlich zuzulangen" oder mehr zu trinken als ein Glas oder eine kleine Flasche Bier. Trotzdem ging er Familienfeiern oder anderen Gelegenheiten, bei denen für gewöhnlich ordentlich zugelangt wurde, nicht aus dem Weg. Er nahm teil, ohne aufzufallen, blieb eher im Hintergrund, ohne sich zu verstecken, sang mit, wenn alle sangen, aber man hörte ihn nie heraus....
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