KZ-Gedenkstätte Fuhlsbüttel
Hamburg, Bundesrepublik Deutschland
Sie war Deutsche und einen Kopf kleiner als ich. Sie weinte bitterlich und presste ihr Gesicht gegen meine Brust. Ihr Alter war schwer zu bestimmen, aber man sah ihr deutlich an, dass das Leben sie nicht geschont hatte. Ich schätzte sie auf sechzig bis siebzig. Der Geruch von altem Schweiß stieg mir in die Nase. Wir befanden uns in einem spärlich möblierten Raum mit Wänden und Fußboden aus Beton.
Es war ein schöner Frühlingstag, und ich hatte ihn damit eingeläutet, dass ich in einem Taxi von meinem Hotel an der Binnenalster zum »Tor zur Hölle« gefahren war, um die Gedenkstätte Kola-Fu zu besuchen. Kaum dass ich das Torhaus betreten hatte, war die Frau auf mich zugekommen. Sie sprach mich an und verwickelte mich in ein Gespräch, als würden wir uns kennen. Die Menschen um uns herum glaubten wahrscheinlich, sie wäre meine Mutter, dabei waren wir uns noch nie begegnet.
»Fünf Jahre«, seufzte sie verzweifelt.
Ich legte mein Kinn auf ihren Kopf und streichelte ihr unbeholfen über den Rücken. Von draußen hörte ich die Motorgeräusche eines startenden Flugzeugs. Da stand ich, knapp zwei Kilometer vom Flughafen Fuhlsbüttel entfernt, dem Flughafen, den ich nur allzu gut kannte, und versuchte, eine ältere, ungewaschene deutsche Frau zu trösten, was mir nicht besonders gut gelang. Mit ihren Tränen hatte sie auf meinem Hemd bereits einen Gesichtsabdruck hinterlassen. Wie sollte ich mich aus ihrer Umarmung befreien?
»Fünf Jahre«, wiederholte sie. »Ich durfte sie nicht treffen. Kinder unter sechs Jahren durften die Häftlinge nicht besuchen. Ich bin auf den Kastanienbaum geklettert . da . vor der Mauer.« Die Frau zeigte schluchzend nach draußen.
Ich versuchte mich aus ihrer Umarmung zu lösen, aber sie war stark.
»Und dann saß ich oben im Baum und dachte, ich könnte meiner Mutter zuwinken«, fuhr sie fort.
Wir schwiegen eine Weile und verharrten in dieser sonderbaren Umarmung. Die Frau, die auf einem Kastanienbaum gesessen und ihrer Mutter zugewinkt hatte, und ich, der Mann, der auf der Suche nach seinem Vater hierhergereist war. Mit einem Mal war Kola-Fu nichts Abstraktes mehr; die feuchten, muffigen Kellergänge, die sich unter unseren Füßen wie Gedärme durch die Erde wanden, der Schimmelgeruch der Steinwände in den Zellen, die harten Pritschen, der an der Wand befestigte Tisch, der dreibeinige hölzerne Hocker, der Blecheimer neben dem Klosett - das alles war nun absolut greifbar.
Ich hörte ihr zu und antwortete, so gut ich konnte. Draußen startete ein weiteres Flugzeug. Ich erkannte die charakteristischen Laute der mittelgroßen Propellerturbinen. Wäre ich draußen gewesen, hätte ich beobachten können, wie die Maschine über die Hausdächer durch die Lüfte glitt. Ich hätte die Vibrationen gespürt und das ohrenbetäubende Dröhnen gehört, das den Sommermorgen zerschmetterte, als brüllte der allmächtige Gott seinen Schmerz und Zorn heraus. Bilder schwirrten durch meinen Kopf. Aufsteigende Rauchschwaden, als sich ein Flugzeug in die Glasfassade eines der Zwillingstürme bohrt; die Propellermaschine hier draußen, die Kurs nimmt auf den sternförmigen Gebäudekomplex, sinkt und durch die Ziegelmauer hindurchfliegt, weiter durch das gedärmeartige Gewirr aus Fluren und bis in die dunkle, schmerzerfüllte Kellerzelle, die mein Kopf ist. Ich öffnete den Mund, und es kamen deutsche Wörter heraus. Ja, ich sprach tatsächlich Deutsch. Nicht fehlerfrei, aber die deutschen Wörter sprudelten einfach aus mir heraus. Es fühlte sich an, als würde ich mich übergeben.
Die anderen Menschen sammelten sich in einem Kreis um uns her und hörten uns zu. Es störte mich nicht. Ich hatte das Gefühl, ich wäre einer von ihnen, und in gewisser Weise war ich das auch. Gewiss hatten auch andere Besucher hier Angehörige, die von den Nazis in Kola-Fu eingesperrt worden waren. Ich atmete tief ein, erwiderte die Umarmung der weinenden Frau und brach selbst in Tränen aus, als ich ihr von den Briefen erzählte, die ich nicht lesen konnte, von meinem Vater, der genau hier, wo wir uns in diesem Moment befanden, fast zu Tode geprügelt worden war.
Die Frau und ich hielten einander fest, als hätten wir Angst zu fallen, wenn einer losließ. Ob ich sie tröstete oder sie mich, konnte ich nicht mehr sagen.
Vor mir stand ein kleines Mädchen mit zwei dicken Zöpfen und trotzig geschürzten Lippen. Sie trug ein kariertes Baumwollkleid - die Fünfjährige im Kastanienbaum. Sie hatte sich herausgeputzt, im Glauben, ihre Mutter zu treffen.
Ich erzählte ihr von einem anderen fünfjährigen Kind, einem Jungen, der im Sommer kurze Hosen trug und dessen Knie aufgeschürft waren. Er rannte den Kiesweg vor dem Haus in Björknäs hoch, mit Briefen aus Südamerika, aber er rannte nie schnell genug, um seinen Vater einzuholen, er erreichte ihn nie wirklich. Ein Junge, der schon damals verzweifelt nach der Geschichte seines Vaters, nach der eigenen Geschichte, gesucht hatte. Ich erzählte ihr alles auf Deutsch. Als wäre die Sprache die ganze Zeit irgendwo in mir drin gewesen. Wie ein Infekt, der im Körper lauert und langsam aber sicher sämtliche Organe befällt, bis die Krankheit irgendwann ausbricht. Woher sollte ich die Wörter sonst haben? Von der Universität? Dem Goethe-Institut in Rothenburg? Nein, ich hatte die Sprache von meinem Vater geerbt, obwohl wir sie nie miteinander gesprochen hatten. Wie so vieles, was ich von ihm geerbt habe, Dinge, von denen er mir nie erzählt hatte und von denen ich trotzdem weiß.
In der darauffolgenden Woche kam ein Brief mit blauem Portostempel statt Briefmarke. Deutsche Post - Hamburg. Ein Praktikant der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, die auch für die Kola-Fu-Gedenkstätte verantwortlich war, schrieb, er habe von meinem Besuch und den Briefen gehört, die Mitte der 1930er-Jahre in Kola-Fu abgeschickt worden seien. Die Historiker der Behörde hätten großes Interesse, sich die Briefe anzuschauen. Ob ich mir vorstellen könne, ihnen das Material zu überlassen?
Ich dachte darüber nach und sprach mit meiner Familie. Die Briefe, Walters Briefe, waren privat. Wollten wir sie Fremden anvertrauen? Wollten wir einen »wichtigen Beitrag zur Forschung leisten«, wie es in dem Brief hieß? Wir kamen zu dem Schluss, dass es die einzig richtige Entscheidung war. Die Historiker in Hamburg waren vermutlich unsere beste Chance, mehr über den Inhalt der Briefe zu erfahren.
Das war der Beginn einer intensiven Korrespondenz, die dazu führte, dass ich mit einer Auswahl der Briefe, die mein Vater hinterlassen hatte, nach Hamburg fuhr, die S-Bahn nach Bergedorf und von dort den Bus nach Neuengamme nahm, wo sich die KZ-Gedenkstätte Neuengamme befand.
Ich wartete auf einem schwarzen Kunstledersofa, bis ich von einer Mitarbeiterin empfangen wurde, mit der ich zuvor Mailkontakt gehabt hatte. Sie stellte mir ihre Kollegen vor, und ich breitete die Briefe auf einem Tisch aus. Alle trugen dünne weiße Baumwollhandschuhe und gingen sehr behutsam mit den Dokumenten um. Inzwischen hatten sich etwa zehn Personen um den Tisch versammelt und beugten sich über die Dokumente. Was sie sahen, schien sie zu faszinieren. Hoffnung keimte in mir auf.
»Dürfen wir Kopien machen«, fragte der Archivleiter.
»Sicher«, antwortete ich. Wenn er tatsächlich so interessiert an dem Material ist, kann er mir sicher helfen, es zu transkribieren, dachte ich.
Einer der Assistenten ging mit einer Handvoll Briefe zum Kopiergerät, und am Tisch entstanden lebhafte Diskussionen, denen ich nicht so recht folgen konnte. Nach einer Weile sagte der Archivar, ein Herr Diercks, es werde einige Zeit in Anspruch nehmen, sich eine Übersicht über das Material zu verschaffen. Er fragte, wie lange ich noch in Hamburg sei und ob er die Originale einen oder zwei Tage behalten und sie mir dann ins Hotel bringen lassen dürfe. Ich sagte, das gehe in Ordnung, und wir verabredeten einen Zeitpunkt für die Rückgabe.
Obwohl alle sehr freundlich und zuvorkommend waren, muss ich zugeben, dass ich - wie immer - ein gewisses Unbehagen verspürte, weil sie Deutsche waren. Dieses Gefühl zu überwinden hat lange gedauert. Es gehört zum Krankheitsbild der Second Generation Stress Disorder.
Mittlerweile befinde ich mich auf dem Weg der Besserung. Es ist jetzt viele Jahre her, dass ich in meinem E-Mail-Postfach einen separaten Ordner für Nachrichten aus Deutschland hatte. Es kostet mich Überwindung, darüber zu schreiben, aber früher, in der schlimmsten Krankheitsphase, bildete ich mir ein, der Ordner würde mir dabei helfen, mich nicht mit dem Deutschen zu infizieren.
Hotel Vier Jahreszeiten
Hamburg, Bundesrepublik Deutschland
Ebenfalls um mir die deutsche Sprache und das typisch Deutsche bestmöglich vom Leib zu halten, hatte ich mir ein Hotel mit internationalem Flair ausgesucht. Als ich die Lobby eine Viertelstunde nach der verabredeten Zeit betrat, wartete die wissenschaftliche Assistentin bereits auf mich. Ja, die fünfzehn Minuten Verspätung waren beabsichtigt - Second Generation Stress Disorder. Sie reichte mir die Mappe mit den Originaldokumenten und bedankte sich dafür. »Keine Ursache«, sagte ich und steuerte die sogenannte Wohnhalle des Hotels an. Anstandshalber hätte ich sie natürlich fragen müssen, ob ich ihr etwas anbieten dürfe, aber ich tat es nicht. Die nachmittägliche Teestunde hatte bereits begonnen, und da Afternoon Tea bei SGSD so wirksam ist wie Alkohol, setzte ich mich vor den Kamin und blätterte in dem Material, um sicherzugehen, dass nichts fehlte.
Am Flügel...