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Sie war genau siebzig Jahre lang auf der Welt, 1920 bis 1990. Die Lebenszeit meiner Mutter deckt sich mit dem »kurzen zwanzigsten Jahrhundert« der totalitären Ideologien und Regimes. Es war kein bedeutendes Leben, aber doch, wie mir im Lauf meines Nachdenkens über sie immer mehr einleuchtete, beispielhaft für die Möglichkeiten, die das zwanzigste Jahrhundert den Frauen in Europa und Amerika eröffnet - und zugleich vorenthalten hat. Als ich vor mehr als zehn Jahren damit begann, mich mit der Geschichte meiner Familie schriftstellerisch zu befassen, war die Biographie meiner Mutter in den Hintergrund meiner Aufmerksamkeit gedrängt durch die eindrucksvoll-problematische Gestalt meines Großvaters und durch die ausgleichende, sozusagen historisch richtigstellende Familienrolle seines ältesten Sohns, meines Vaters (deren Geschichten anderswo erzählt worden sind). Inzwischen aber ist mir klargeworden, dass sich im Leben meiner Mutter - sozusagen unter der Hand - Vorausahnungen und Kristallisationskerne einer Zukunft jenseits der kommunistischen und faschistischen Weltrevolutionen des letzten Jahrhunderts verwirklicht haben, während wir Familienmänner auf unterschiedliche Weise in diese zerstörerischen Umwälzungen verwickelt gewesen sind. Und ich weiß, dass dieses lang nur Geträumte und Zukünftig-Potentielle jetzt, im einundzwanzigsten Jahrhundert, gesellschaftlich in den Vordergrund tritt.
Das letzte Jahrhundert war, wenn auch auf überwiegend pathologische Weise, männlich. Dagegen ist mir die Gegenwart des Jahres 2014, und eben nicht nur meine, inzwischen lesbar geworden als Entfaltung spezifisch weiblicher Lebens- und Denkmotive, die sich als autobiographische Spuren noch in den goldenen Notizbüchern vom Sterben meiner Mutter finden. In den letzten Echos ihrer Lebensmusik treten diese Zukunftsmotive sogar ganz besonders deutlich umrissen hervor: Kunst, Mode, Familie, Kinder, Innenarchitektur, der Körper, die Psyche, das Spazierengehen, Briefeschreiben, Tagebücher, das Wetter, die Landschaft, die Träume, die Bemühung um Weisheit und Lebensfreude, die Arbeit am eigenen Bild und dem der Welt. Statt der heroischen, öffentlichen und blutigen Männeranstrengungen des zwanzigsten Jahrhunderts, die Welt ein für alle Mal und unwiderruflich zu ändern (Anstrengungen, deren Scheitern im Jahr ihres Todes endgültig zutage trat), verwirklichte das Leben meiner Mutter einen privaten, »kleinen« Heroismus, dessen Spielregeln sie denen der Kunst abgeschaut hatte. Denn dieses Heldentum verwirklichte sich in kreativer Umdeutung der Welt und des eigenen Lebens. Es war ein Heroismus des Anders-Hinsehens, Lebenskunst. Ich habe in vielerlei Lagen bewundert und tröstlich gefunden, wie es meiner Mutter oft (und auch in denkbar schlechten Zeiten) gelang, die Realität und das schwer Erträgliche aus einem Blickwinkel zu betrachten, der dann auf einmal eine überraschende Möglichkeit freigab, sich trotz allem - und wenn auch vielleicht nur einen Moment lang - zu freuen. Plötzlich schönes Wetter. Gu fährt St. zum Bhf. Hall. Gedacht: ganz gleich, was kommt: die Zeit, wo ich noch normal leben kann, die will ich auch so nutzen u. nicht die Krankenrolle spielen. Nachm. bei F.s der Kleinen das Jäckle gebracht. Sie ist ganz wonnig. Dann kommt D. mit Erd- und Himbeeren aus dem Garten. Anruf von M.
Solche Lebenskunst ist abseits der »großen« (meist mehr oder weniger katastrophalen) Geschichte im privaten Alltag vieler Menschen seit unvordenklichen Zeiten geübt worden. Aber das historisch Neue des späten zwanzigsten und vollends des einundzwanzigsten Jahrhunderts schien mir beim Durchsehen der Hinterlassenschaften meiner Mutter darin zu bestehen, dass der Heroismus des Privatlebens heute öffentlich wirksam geworden ist. Er hat gesellschaftliche Relevanz gewonnen in den vielfältigen Geschichten der Selbstbefreiung und des Sich-Emanzipierens, deren Errungenschaften wir heute, im Zeitalter einer »Überwindung der Schwere« (Peter Sloterdijk), genießen können. Zumindest wir Bürgerinnen und Bürger der reichen, entwickelten, transatlantischen Gesellschaften genießen sie, die wir heute auf der ganzen Welt um Bundesgenossen werben und Beitrittsgebiete assoziieren. Besitz, Bildung, Kontakte, günstige Zufälle und Mut sind auch im freien Westen ungleich verteilt. Und doch haben sich die Glückschancen in unserem Teil der Welt für so viele Menschen so vielfältig vermehrt, dass es meiner Mutter noch um 1960 herum märchenhaft vorgekommen wäre, wenn sie in die Zukunft hätte sehen können.
Im letzten Jahrhundert hat Heldentum generationenlang darin bestanden, im Interesse zweier Chimären - der »Klasse« oder der »Rasse« - das Leben hinzugeben. Heute ist Heldentum, wenn überhaupt noch die Rede von ihm ist, ein Heroismus individueller Selbstverwirklichung und eines eigenen Lebens. Das Heldentum des einundzwanzigsten Jahrhunderts verwirklicht sich nicht in der Aufopferung für irgendeinen Endsieg, sondern in den kleinen Triumphen des Weiterlebens. Die »Überwindung der Schwere« ist ein alltägliches Geschäft. Und das in den reichen und freien Ländern inzwischen angebrochene Zeitalter des Genderfeminismus, der Psychoanalyse, der Schwulenbewegung, der Toleranz, der Selbstverwirklichung, der cosmetic surgery als Massenphänomen, der creative industries, der ökologisch korrekten Ernährung, der selbstgebastelten Religion (oder vielmehr »Spiritualität«), der political correctness, der allgegenwärtigen Kunst und der emphatischen Anerkennung alles Fremden - das Zeitalter des Lebenskonstruktivismus - hat seinen Ursprung in den vergessenen Kontinenten des Privatlebens. Im Haus, im Alltag, in der Familie. Weswegen das einundzwanzigste Jahrhundert, wie mir im Fortgang meiner Mutterforschungen mehr als einmal vorgekommen ist, im Privaten (das dann in bestimmten geschichtlichen Augenblicken offenbar tatsächlich politisch wird) am genauesten studiert werden kann.
Als ich klein war, in den fünfziger Jahren, gab es in Spielzeugläden und Schreibwarengeschäften sogenannte »Wundermuscheln« zu kaufen, die mich sehr faszinierten und die auch meine Mutter liebte. Im Innern einer großen Muschel, die mit einem Papierstreifen verschlossen wurde, waren an einem Faden Blumen aus Seidenpapier befestigt, die sich, wenn man die Wundermuschel am Abend in ein Glas Wasser legte, bis zum Morgen (tatsächlich wie durch einen Zauber) entfalteten und dann als kleiner Strauß für einen Tag oder zwei im klaren Wasser standen. Vielleicht könnte man sagen, dass die Hoffnungen, Träume und Talente ganzer Frauengenerationen in den demokratischen Gesellschaften der Jetztzeit so entfaltet worden sind, wie die unscheinbaren Papierschnitzel im Innern jener Kindheitswundermuscheln sich entrollten, in die Höhe stiegen und scheinhaft aufblühten. Ich glaubte angesichts der Papiere meiner Mutter zu verstehen, welches Erbe wir alle aus dem letzten Jahrhundert in unser heutiges und künftiges Leben mitgenommen haben und mitnehmen dürfen. Lang mit mein Stephan telefoniert. Er sagt, er würde mir so viel verdanken an Anregungen, Schöpferischem u. Märchenwelten. Man müßte das mal sagen. Sehr gefreut.
Denn tatsächlich war meine Mutter, wie es alle Eltern für ihre Kinder sind, auch meine Lehrerin, im Guten wie im Bösen. Ihre Notizen und Zeichnungen sind mir während dieser Recherche als ein Lehrbuch des zwanzigsten Jahrhunderts vorgekommen. Als Manuale und Schaubilder allerdings seiner geheimen alternativen Möglichkeiten. Ich hatte über den Hinterlassenschaften meiner Mutter oft das Gefühl, ins unterirdische Labyrinth einer klandestinen Vorgeschichte des einundzwanzigsten Jahrhunderts einzusteigen. Nicht die ideologisierten Haupt- und Staatsaktionen der letzten hundert Jahre sind ihr Lebensthema gewesen. Eine Lehrerin war meine Mutter auch nicht in den männlichen Handwerken des Theoretisierens, der Politik, der Geschichtsschreibung und der Literatur (wie mein Großvater, mein Vater, meine Professoren und Mentoren es zeitweilig gewesen sind). Dafür hatte sie keine Begabung, und für diese Handwerke war sie nicht ausgebildet. Eine Lehrerin ist sie vielmehr in den »kleinen« Handwerken des Lebens gewesen - und im Handwerk der Kunst, das mit dem des Lebens eng verwandt ist. Der mexikanische Historiker Luis Gonzales y Gonzales - er gehörte zu den Ersten, die den Begriff »Mikrohistorie« genauer ausarbeiteten - hat diesen in einer seiner Schriften versuchsweise durch »matria historia« ersetzt und damit postuliert und festgehalten, dass die Erforschung des historisch scheinbar Abgelegenen befasst ist mit »der kleinen, schwachen, sentimentalen, weiblichen Welt der Mutter«.
Und weil alle Eltern und Lehrer in ihren Kindern und Schülern insgeheim ihre Befreier (ihre Erlöser) sehen, hat meine Mutter die Lebensrolle ihres Sohnes als Interpret und Fortsetzer ihrer eigenen Möglichkeiten gesehen - auch der zu ihrer Zeit und von ihr selbst nicht verwirklichten Möglichkeiten, auch derjenigen, vor denen sie versagt hatte. So etwa in einem Traum zu Beginn ihrer Krankheit, in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 1989, von dem sie mir damals gleich erzählte und dessen Protokoll ich nach ihrem Tod in einem Schreibheft ihres Nachlasses gefunden habe. Dieser Traum begleitet mich bis heute. Ich habe das Gefühl, ihn inzwischen in vielen Einzelheiten zu verstehen. Jenes von meiner Mutter geträumte bäuerliche Paar, das sein Leben versäumt und verschläft, ist mir...
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