Schweitzer Fachinformationen
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Kronprinzenpalais am Boulevard Unter den Linden 5 Uhr früh
Die Standuhr tickte. Unbarmherzig und unvermeidlich tröpfelten die Sekunden, wuchsen zu Minuten an und verbanden sich zu Stunden, in denen nichts geschah. Die Wärterin Dorothea steckte sich ihre weiße Haube im Haar fest und versuchte, eine bessere Position auf dem unbequemen Stuhl zu finden. Ein sinnloses Unterfangen, denn nach Stunden der Warterei bohrten sich mindestens drei Metallfedern unangenehm in ihr Sitzfleisch. Das Problem schien ihre Vorgesetzte neben ihr nicht zu haben. Die Diakonisse Agatha atmete flach und regelmäßig, ein Speicheltropfen suchte sich seinen Weg zum Kinn. Schläfrig blickte Dorothea zu den Gaslampen an den Wänden, die gegen das erste Licht des Tages ankämpften und jeden Moment etwas mehr von ihrem Glanz verloren. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals in ihren 19 Jahren so müde gewesen zu sein. Die Augen fielen ihr wieder zu.
Die Tür flog auf und schlug mit einem lauten Krachen gegen die Wand. Ein junger Mann mit taufeuchtem Umhang eilte an ihnen vorbei und verschwand im angrenzenden Zimmer. Endlich! Das musste der lang erwartete Befund von Professor Rudolf Virchow aus der Charité sein! Dorothea rutschte mit ihrem Stuhl näher zur geschlossenen Tür und spitzte die Ohren.
»Das darf doch nicht wahr sein! Damit begehen wir den größten Fehler unserer medizinischen Laufbahn und riskieren, das gesamte Deutsche Reich in den kommenden Monaten ins Chaos zu stürzen.« Die tiefe, dröhnende Stimme des Chirurgen Ernst von Bergmann kippte und wurde schrill. »Dieser Befund kommt einer Kriegserklärung gleich, die Millionen von Menschen das Leben kosten kann!«
Beim Geräusch einer aufschlagenden Faust auf der Tischplatte fuhr Agatha aus dem Schlaf und blickte sich verwirrt um. Reflexartig beugte sich Dorothea noch näher zur geschlossenen Tür und lauschte mit angehaltenem Atem weiter.
»Ich halte an meiner Diagnose fest, auch wenn die mikroskopische Untersuchung des geschätzten Professors Virchow etwas anderes sagt.« Bergmanns volltönender Bass durchdrang mühelos das dicke Holz der Eichentür. »So helfe uns Gott, wenn ich recht habe und der Kronprinz doch an Kehlkopfkrebs leidet!«
Beim Wort »Kehlkopfkrebs« schnappten die beiden Frauen im Vorraum erschrocken nach Luft. Das also war der Grund für die hektische Betriebsamkeit im Kronprinzenpalais. Nicht auszudenken, wenn der Thronanwärter Friedrich Wilhelm an einem bösartigen Tumor erkrankt wäre. Der Zeitpunkt hätte kaum schlechter gewählt sein können, sofern es je einen günstigen Moment für so einen katastrophalen Befund gab.
Dorothea seufzte, als sie an die Menschen dachte, die durch den Kronprinzen ihre ganzen Hoffnungen auf ein liberales und soziales Deutsches Reich setzten. Schon seit Monaten war den Berlinern der tägliche Blick auf das Dach des Alten Palais zur festen Gewohnheit geworden, denn jeden Tag konnte die schwarze Fahne anzeigen, dass der 90-jährige Kaiser Wilhelm das Zeitliche gesegnet hatte und dadurch sein Sohn, den alle nur Fritz nannten, endlich den Thron besteigen konnte. Und jetzt das! Die Hoffnung des Landes fiel und stand mit der Kunst der Ärzte im Nebenzimmer. Wenn Fritz nicht der neue Kaiser wurde, würde sein ungestümer Sohn Wilhelm nachrücken, und den mochte keiner.
Das Bild des unbeliebten Kaiserenkels mit dem zu kurzen linken Arm hatte wahrscheinlich auch Dorotheas ältere Kollegin in diesem Moment vor Augen. Sie murmelte: »So helfe uns Gott!«
Das Stimmengewirr hinter der Eichentür wurde leiser, kein Wort war mehr zu verstehen. Dorotheas Gedanken schweiften zurück. Hätte ihr gestern jemand prophezeit, dass sie einmal in eine streng geheime Reichssache geraten würde, die die Geschicke des Deutschen Reiches und ganz Europas in eine neue, noch nicht abzusehende Richtung lenken konnte, hätte sie amüsiert den Kopf geschüttelt. Dafür war sie als Wärterin der Charité zu unwichtig.
Dabei hatte alles ganz unspektakulär begonnen. Wie üblich hatte die Oberin sie ohne nähere Informationen zu einem Patienten geschickt. Dass es sich bei einem Hausbesuch nur um eine bedeutende Persönlichkeit handeln konnte, war damit selbstverständlich, denn die normalen Bürger Berlins wurden ausschließlich innerhalb der roten Backsteinmauern der Charité medizinisch versorgt.
Keine 15 Stunden waren seitdem vergangen. Zeit ist eben keine rein mathematische Größe, sondern subjektiv erfahrbar, dachte sie. Sie lässt sich dehnen und stauchen, sie tröpfelt langsam oder galoppiert rasend schnell. Für sie hatte sich die Zeit gedehnt wie ein Gummiband, seit sie ehrfürchtig durch den Dienstboteneingang das eindrucksvolle Kronprinzenpalais Unter den Linden betreten hatte. Sie spürte immer noch, wie ihre Hände eiskalt geworden waren, als sie vor dem apathisch in einem Lehnstuhl sitzenden Mann gestanden und ihr langsam gedämmert hatte, dass der Kronprinz persönlich ihr Patient sein sollte. Zum Glück war ihr nicht viel Zeit zur Ehrfurcht geblieben, denn in diesem Moment hatten die berühmtesten Ärzte Berlins den Raum betreten. Eingeschüchtert war sie mit ihrer Kollegin zur Seite gewichen und hatte fasziniert den Koryphäen entgegengeschaut, die sie aus der Charité kannte und die so unterschiedlich in ihrem Auftreten waren wie die Teilbereiche der Medizin, die sie vertraten.
Als Erster war der Hausarzt der Kronprinzenfamilie, Doktor Alfred Wegner, mit ausladenden Schritten in das Zimmer gestürmt. Ein Allgemeinmediziner im Range eines Generalmajors, militärisch steif, mit klimpernden Orden an der Uniform und mit der Stimme eines Baritons, die sich bemühte, wie ein Bass zu klingen.
Darum musste sich der ihm folgende Mann keine Sorgen machen, denn seine tiefe Stimme drang mühelos in jeden Winkel des Raumes, selbst wenn er leise sprach. Die imposante Erscheinung des Chirurgen Ernst von Bergmann strahlte eine natürliche Autorität aus, von der sich alle einschüchtern ließen, die ihn nicht näher kannten.
Ganz im Gegensatz zu dem Internisten Professor Carl Gerhardt, der als Dritter auf leisen Sohlen das Zimmer betrat und bemüht schien, mit der blassen Tapete zu verschmelzen. Seinen wohlklingenden Tenor hätte Dorothea aus jedem Männerchor herausgehört, und er war der Einzige, der die Wärterin und die Diakonisse zur Kenntnis nahm und ihnen kurz zunickte.
Der Kehlkopfspezialist Professor Adelbert Tobold kam nach Carl Gerhardt in den Raum. Er lief jedoch an seinen Kollegen vorbei und sprach als Erster den Patienten an.
»Nun, wie fühlen Sie sich, Eure Majestät?« Tobolds Stimme wechselte unangenehm die Tonlage und ließ die Anspannung im Raum fühlbar werden.
Der Patient selbst blieb davon unberührt und sein teilnahmsloser Blick wanderte langsam vom karierten Muster seiner Decke auf den Knien zu den besorgten Gesichtern der Ärzte. Erst das Auftauchen eines weiteren Herrn brachte Bewegung in seinen ausgezehrten Körper, und er versuchte, sich mühsam aufzurichten. Die Herren Mediziner drehten sich gleichzeitig um und blickten in das glatt rasierte, hochmütige Gesicht eines kleinen hageren Mannes, der sie ignorierte und nur Augen für den Kronprinzen hatte. Dorothea konnte fühlen, wie die Stimmung der vier von Besorgnis in Feindseligkeit umschlug. Auch wenn die anwesenden Ärzte sonst fast nie einer Meinung waren, in ihrer Ablehnung gegen diesen Kollegen waren sie sich einig.
Dank der Schwatzhaftigkeit der Dienerschaft wusste sie inzwischen, wer da die Bühne betreten hatte: Bei dem Mann in feinem englischen Tuch mit einer Weste, deren Schnitt in Berlin nicht üblich war, handelte es sich um den Engländer Morell Mackenzie. Die Mägde munkelten, dass Kronprinzessin Vicky den deutschen Ärzten nicht über den Weg traue, weil sie eine Verschwörung ihres ältesten Sohnes Prinz Wilhelm wittere. Ihrer Ansicht nach wollte er verhindern, dass sein Vater demnächst als Deutscher Kaiser eine englandfreundliche Politik betrieb. Angeblich waren die Berliner Ärzte instruiert, aus der harmlosen Heiserkeit eine bösartige Krankheit zu machen, die nur durch eine sofortige Spaltung des Kehlkopfes behoben werden konnte. Falls ihr geliebter Fritz diese schmerzvolle und gefährliche Operation überleben sollte, wäre er auf alle Fälle seiner Stimme beraubt. Ein toter oder ein stummer Thronfolger! Beides würde verhindern, dass er Kaiser werden konnte. Vicky hatte interveniert und ihre Mutter, Queen Victoria, gebeten, den englischen Kehlkopfspezialisten Morell Mackenzie unverzüglich nach Berlin zu senden. Erst seinem Urteil würde sie sich beugen und der gefährlichen Operation zustimmen. Allen Verschwörungstheorien zum Trotz hatte sogar Reichskanzler Bismarck diesem Vorgehen zugestimmt. Natürlich waren die deutschen Ärzte brüskiert und in ihrer Eitelkeit verletzt. Die Argumente des Engländers, dass die Folgen eines so riskanten Eingriffs für den Patienten schlimmer sein könnten als die Krankheit selbst, hatte der ganze Hof allerdings nachvollziehen können.
Trotzdem mochte ihn niemand, und seit er ohne medizinische Ausrüstung aus England angereist und nach einem kurzen Blick in den Hals seines Patienten in den dunklen Straßen der Stadt verschwunden war, um sich erst einmal geeignete Instrumente zu kaufen, war der ganze Hof voller Hohn und Spott.
»Wie ein Frisör kam der, nur mit einem Kamm bewaffnet!«, hatten die Mägde gekichert und weiter das Parkett mit Karbolsäure desinfiziert.
Seitdem lag eine lange Nacht hinter ihnen. Stunden, in denen sich Dorothea gefragt hatte, welche Kräfte hier den Sieg erringen würden. Würde die Menschlichkeit siegen, die das Wohl eines Patienten höher bewertete als politische Intrigen? Dorothea hoffte es....
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