Schweitzer Fachinformationen
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Margarete Wach
Zwei junge Frauen in bunten Kleidern und Schuhen auf Pfennigabsätzen, platziert in verspielter Pose auf einem Flussboot, das von einer starken Strömung umspült wird. Beide stützen sich mit ihren Ellbogen auf die Lehnen zweier sich gegenüberliegender Holzbänke, eine mit einer frisch gepflückten Möhre in der Hand, die andere in Rückenansicht. Ein symmetrisch aufgebautes Bild mit einem offenen Blickfeld in die Weite der Flussströmung, das aus SEDMIKRÁSKY (TAUSENDSCHÖNCHEN, 1966) stammt, dem bekanntesten und wohl wichtigsten Spielfilm von Vera Chytilová. Ein ikonisch unverbrauchtes Motiv, das die ausgelassen anarchische Stimmung dieses Vorzeigewerks eines subversiven Kunstkinos ebenso transportiert wie auf jene Komponenten verweist, die das Ouvre der tschechischen Regisseurin auszeichnen: konzipierte Farbspiele, Verzicht auf die herkömmliche Narration, typisierte bis skurrile Figuren, hier von Laiendarsteller*innen performt, experimentierfreudige Form, die auf Alinearität und Brecht'sche Verfremdungstechniken setzt, künstlerisch radikaler Zugang zur Realität, zu dessen Modi Improvisation, Grenzüberschreitung und Tabulosigkeit gehörten.
Jacques Rivettes Filmfantasie CÉLINE ET JULIE VONT EN BATEAU (CELINE UND JULIE FAHREN BOOT, 1974), eine Art Remake von TAUSENDSCHÖNCHEN, mit dem er Chytilovás Vorläufer Reverenz erwies, endet mit einer Bootsfahrt, die den beiden Protagonistinnen hilft, ein erlösendes Exerzitium zu absolvieren. Das in beiden Filmen vorkommende Bootsmotiv könnte als Referenz für einen transkulturellen Austausch dienen, der sich zwischen der Nova vlná, der tschechoslowakischen Neuen Welle, zu deren Galionsfiguren Chytilová gerechnet wird, und der französischen Nouvelle Vague vollzog. Die starken Verbindungen Vera Chytilovás zum französischen Kino sind unübersehbar. Beginnend mit ihrem Frühwerk, das der Inspiration durch das Cinéma vérité entscheidende Impulse verdankt, deren Spuren Andreas Rauscher in seinem Aufsatz »Durch die Decke des Cinéma vérité. Vera Chytilovás frühe Kurzfilme« folgt. In ihren beiden frühen Kurzfilmen, STROP (DIE DECKE, 1961) und PYTEL BLECH (EIN SACK VOLLER FLÖHE, 1962), spielen die neuen Impulse des zeitgenössischen Dokumentarfilms, die auf das experimentelle Porträt der französischen Gesellschaft in CHRONIQUE D'UN ÉTÉ (CHRONIK EINES SOMMERS, 1961) des Soziologen Edgar Morin und des Ethnologen und Filmemachers Jean Rouch zurückzuführen sind, eine zentrale Rolle. Technische Innovationen wie leichte Handkameras mit einer synchronen Tonaufnahme des On-Location-Sounds ermöglichten nicht nur einen völlig neuen, »unmittelbaren« Blick auf die Wirklichkeit in Abgrenzung zum dozierend-pädagogischen Dokumentarfilm vergangener Dekaden, dessen Off-Kommentare der Direktton verdrängt hat. Die so erreichte Spontanität der Außenaufnahmen sollte auch die »Authentizität des Gelebten« vermitteln, wie Morin es in seinem Manifest »Pour un nouveau cinéma-vérité« formulierte. Der daraus resultierende radikale Bruch mit den sterilen Konventionen des verstaubt wirkenden Studiofilms lieferte wesentliche Anregungen für die Nouvelle Vague, die gegen die Tradition des sogenannten Cinéma de qualité, also gegen kostspielige Literaturadaptionen mit geringem Bezug zum realen Leben der jüngeren Generation, aufbegehrte. Wie weit der Einfluss von Jean Rouch, dem Erfinder des Cinéma vérité und Vorläufer der Nouvelle Vague, ging, kann man an seinem Dokudrama MOI, UN NOIR (ICH, EIN SCHWARZER, 1958) ablesen, in dem er die Schnitttechnik des jump cut und den Einsatz nicht professioneller Schauspieler etabliert hat, zwei Praktiken, die Jean-Luc Godard später verwenden sollte, um seinen Film À BOUT DE SOUFFLE (AUSSER ATEM, 1960) zu gestalten, und die sein Markenzeichen wurden.
Zu dem Diskurs des Cinéma vérité gehören unzertrennlich die Begriffe Wahrheit und Authentizität, die auch in Chytilovás Werk eine zentrale Rolle spielen und Godard1 zu der enthusiastischen Einschätzung brachten, MOI, UN NOIR würde beispiellose Wahrheitsniveaus erreichen, die im Film festgehalten wurden. Für Rouch war das Cinéma vérité aber keine Wundertechnik, sondern eine Methode, kein Mittel, eine Wahrheit zu enthüllen (gesetzt, sie existiere überhaupt), sondern eine künstlerische Praxis, die auf einer wahrhaftigen Haltung gegenüber der Wirklichkeit basiert. Zwei weitere Texte in dem vorliegenden Film-Konzepte-Heft beschäftigen sich mit der konstituierenden Bedeutung der Begriffe Wahrheit und Authentizität für das Werk der als Moralistin verschrienen Filmemacherin. Nicole Kandioler analysiert in »Vom Anderen zum Eigentlichen. Vera Chytilovás Filme zwischen Experiment, O NECEM JINÉM (VON ETWAS ANDEREM, 1963), und Aktivismus, DEDICTVÍ (DAS ERBE, 1992)« zwei Filme aus unterschiedlichen Schaffensperioden (Frühwerk und Spätwerk), von denen der erste, Chytilovás Debüt VON ETWAS ANDEREM, mit dokumentarischen und fiktionalen Erzählstrategien im Geiste des Cinéma vérité experimentiert. Das Dokumentarische wird hier nicht lediglich als Effekt einer filmästhetischen Strategie eingesetzt, sondern als Methode, die dem Ziel dient, Unmittelbarkeit herzustellen, zum Eigentlichen vorzudringen, das auf eine Wahrheit verweist, die nicht vermittelbar sei. Die ironische Farce DAS ERBE, die um die unlauteren Privatisierungspraktiken der Nachwendezeit und die Konsumträume der einfachen Leute kreist, verbindet mit VON ETWAS ANDEREM der Einsatz von Laiendarsteller*innen und das soziologische Interesse der Regisseurin an der tschechischen Gesellschaft. Dokumentarische Unmittelbarkeit der Aufzeichnung und die gesellschaftliche Diagnostik der Fiktion zeigen sich als zwei Strategien im Zugang zu einem realen Leben.
Mit dem breiten Spektrum der Erzählstrategien im Werk von Chytilová korrespondiert die schier überbordende Vielfalt ihrer ästhetisch-visuellen Verfahren und stilistischen Mittel. Den auf den ersten Blick widersprüchlichen Zusammenhang zwischen der zum Teil extremen Stilisierung ihrer Filme und der diskursiven Suche darin nach einer Wahrheit, aus der Chytilová auch die Legitimation für ihre formalen Zumutungen und Herausforderungen gegenüber den Zuschauern ableitete, beleuchtet Katerina Svatonová in ihrem Essay »Vera Chytilovás Bewusstsein von den Zusammenhängen. Stilisierung als Möglichkeit der Annäherung an die Wahrheit«. Dabei konzentriert sich die Autorin auf zwei Hauptwerke aus der Periode der Neuen Welle, TAUSENDSCHÖNCHEN und OVOCE STROMU RAJSKÝCH JÍME (FRÜCHTE DES PARADIESES, 1969), an deren konzeptionell-ästhetischer Ausgestaltung der Kamera- und Ehemann von Chytilová, Jaroslav Kucera, einen erheblichen Anteil hatte. Auf sein Konto gehen die gewagten visuellen Kompositionen und der experimentelle Umgang mit Farbe und Lichtstärke in diesen exzeptionellen Werken, die die Entdeckung der Wahrheit mittels des Bildes befördern sollen. Beide Filme nehmen sich wie eine Leistungsschau modellhafter Darstellungspraktiken, Bilder, Schnittfolgen aus, die Chytilová auch in ihrem späteren Werk nicht aufgab - eine Art »Katalog« ihrer visuellen Rhetorik, die von beunruhigenden und hochsensitiven Bildkompositionen bestimmt wird und für die Svatonová die griffige und nur vordergründig paradoxe Formel eines authentischen Formalismus gefunden hat.
Dem augenfälligen Verhältnis von Chytilová und zwei führenden Vertretern der französischen Nouvelle Vague, Jacques Rivette und Jean-Luc Godard, gehe ich in meinem Beitrag »Wahrheit(en) und Eigensinn. Vera Chytilová und die Nouvelle Vague« nach. Diese Relationen hatten jeweils einen Doppelcharakter. Zum einen auf der Rezeptionsebene, in den öffentlichen Polemiken und Attacken Godards gegen Chytilovás Solitär TAUSENDSCHÖNCHEN sowie in der filmkritischen Begleitung ihrer Arbeit durch Rivette in Cahiers du cinéma. Zum anderen auf der Produktionsebene, hatte Godard doch in seinem Essayfilm PRAVDA (DIE WAHRHEIT, 1969) sogar unmittelbar Bezug auf Chytilová genommen und sie diffamierend abqualifiziert, während Rivette ihr mit CÉLINE ET JULIE VONT EN BATEAU Tribut zollte. Spannend erscheint aber auch, wie viele Schnittstellen und sogar Analogien sich zwischen den Arbeiten Chytilovás und jenen der beiden Franzosen finden bzw. ziehen lassen, eingedenk der Tatsache, dass Godards innovative Montagekünste für die Tschechin richtungsweisenden Vorbildcharakter hatten und ihr ebenso unkalkulierbarer wie unverwüstlicher Eigensinn sich ähnlich wie bei Godard nicht selten in Provokationen entlud.
Im zeitgeschichtlichen Kontext lässt sich das Werk Chytilovás in drei Perioden einteilen, die jeweils mit einschneidenden politischen Ereignissen und deren Folgen zu Ende gingen: das Frühwerk, bestehend aus ersten Kurzfilmen und Schlüsselwerken der Neuen Welle, bis zur Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 und Chytilovás Berufsverbot 1969; ab 1976 bis zur Samtenen Revolution 1989 das Schaffen in der Ära der »Normalisierung«, das abermals von Verboten ihrer gesellschaftskritischen Filme begleitet war; und zuletzt das nach der Wende entstandene Spätwerk, das ihr den Vorwurf des Verrats an eigenen Prinzipien oder der Abkehr von ästhetischen...
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