Schweitzer Fachinformationen
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Wie jeden Abend ging die Gruppe der Ärzte die Patienten auf der Intensivstation der Reihe nach ab. Prof. Dr. Theo Semmeling, der Chefarzt, ließ sich von den diensthabenden Ärzten alles genau erklären. Semmeling gehörte nicht zu den körperlichen Riesen, war ein bisschen untersetzt und schaute immer ziemlich streng - auch wenn das nicht allzu viel zu bedeuten hatte. Mit seinem runden Gesicht und der dicken schwarzen Brille sah er immer aus wie der typische Oberlehrer, und in der Sache war der Professor das auch. Im Schlepptau hatte er bei dieser Abendrunde die Oberärzte Dr. Hermann Baumann und Dr. Carsten Weinrich sowie zwei weitere Ärzte. Einer von ihnen war Dr. Frank Martens. Der junge Mann mit den pechschwarzen Haaren sah ein bisschen südländisch aus.
Dr. Martens ging ein paar Schritte voraus, als sich die Gruppe Bett Nummer vier näherte, und warf noch einen letzten Blick auf die Monitore, bevor er Bericht erstatten musste. In diesem Bett lag Herr Klausen, ein 76-jähriger Mann, der eine recht komplexe Herzoperation hinter sich und bereits beim Abgang von der Herz-Lungen-Maschine erhebliche Probleme gehabt hatte. Die Gruppe um Prof. Semmeling stellte sich um das Bett von Herrn Klausen. Jeder von ihnen warf abwechselnd einen Blick auf die Apparate. "Hat sich der Zustand verändert?", fragte der Chefarzt. "Leider nein!", antwortete Dr. Martens. "Die Ventrikelfunktion hat sich noch immer nicht erholt." "Nierenwerte?" "Sehen Sie selbst, Herr Professor!", meinte Dr. Martens und zeigte seinem Chef die Labordaten im Computer. Der Chefarzt wandte sich dem Monitor zu und studierte die Werte. Erst schaute er den Patienten an. Dann wandte er sich dem Herzchirurgen Dr. Kalchrod zu, der den Patienten operiert hatte. "Was meinen Sie, Herr Kollege?" Der groß gewachsene schlanke Chirurg studierte ebenfalls die Daten auf dem Monitor und schüttelte nur den Kopf. "Ich glaube nicht, dass das noch was wird! Die Ausgangssituation war bereits mehr als bescheiden und am Ende der OP pumpte das Herz nur noch wie ein schlaffer Sack!" In der Ärzterunde herrschte für einige Sekunden Schweigen. Hier am Bett dominierte das Piepsen und rhythmische Zischen der Beatmungsmaschine die Geräuschkulisse.
"Ich stimme Ihnen zu, Herr Kollege Kalchrod!", meldete sich Dr. Carsten Weinrich dann zu Wort. Er war der diensthabende Oberarzt dieser Station. Ein gut aussehender Mann Mitte fünfzig, der mit seinen nach hinten frisierten dunklen Haaren aalglatt wirkte. "Das wird wohl nichts mehr!" "Neben der Niere macht die Leber durch den Volumenrückstau nun auch langsam Probleme", sagte der zweite Oberarzt, Dr. Baumann. "Haben sich die Werte stark verändert?", wollte der Chefarzt wissen. "Ja, leider", antwortete Dr. Martens ein bisschen geknickt. Die Tatsache, dass seine Chefs den Herrn Klausen so gut wie aufgegeben hatten, traf ihn. Denn irgendwie mochte er den Mann, der da hilflos und auf das Können der behandelnden Ärzte angewiesen im Koma lag. Der es lediglich den Apparaten zu verdanken hatte, dass er in diesem Augenblick überhaupt noch lebte. Vielleicht beruhte die Sympathie für den Patienten ja auch darauf, dass seine Frau jeden Nachmittag zur Besuchszeit hierherkam und am Bett ihres Mannes verweilte. Der schmächtigen Frau, die einfach, ja fast sogar ein bisschen ärmlich aussah, fielen die Besuche nicht leicht. Das konnte jeder hier sehen. Von einer Pflegerin hatte Martens erfahren, dass sie keinen Führerschein hatte und jeden Tag die sechzig Kilometer mit Bus und Bahn zurücklegte. Zu den Ärzten und dem Pflegepersonal war Frau Klausen immer sehr freundlich und gab sich alle Mühe, gefasst zu wirken. Natürlich gelang ihr das nicht. An den Tagen, als sie früh abends kam, hatte Dr. Martens Dienst und damit die Aufgabe, Frau Klausen bezüglich des Zustands ihres Mannes Rede und Antwort zu stehen. Für den jungen Intensivarzt war es ein herzzerreißender Anblick, wenn die Frau am Bett ihres Mannes saß und ihm unermüdlich von daheim erzählte. Von ihren beiden Katzen und der Tochter, die im Ausland studierte. "Meinen Sie, er kann mich hören, Herr Doktor?", fragte die schmächtige Frau Dr. Martens immer wieder. "Reden Sie ruhig mit ihm!", antwortete Martens dann. Langsam und rhythmisch hob und senkte sich der Brustkorb des Mannes. Wie gerne hätte er als Arzt mehr geholfen, als er konnte. Wie gerne hätte er das scheinbar Unmögliche einfach möglich gemacht. Wie gerne hätte er irgendetwas getan, das dem Ruf des 'Halbgottes in Weiß' gerecht würde.
"Ich sehe hier keine Perspektive mehr", sagte Dr. Baumann in einem sehr bestimmenden Ton. "Wir sollten mit den Angehörigen reden. Ihn hier leiden lassen und dabei für Wochen das Intensivbett zu blockieren, damit er bestenfalls noch ins Pflegeheim kommt und dann dort nach ein paar Tagen verstirbt, ist ja auch keine Lösung!" Das klang endgültig, überzeugt und überzeugend. Die anderen Ärzte schauten sich gegenseitig nickend an. Auch der Chefarzt kratzte sich nachdenklich am Kinn und nickte dann nur. Die Sache schien besiegelt. "Herr Professor!", ließ sich da Dr. Martens vernehmen. Der Chefarzt wandte sich ihm zu und sah Dr. Martens fragend an. "Bitte geben Sie mir wenigstens noch bis morgen Zeit. Ich glaube, es gibt noch Möglichkeiten, dass der Patient die Kurve kriegt." Prof. Semmeling wandte sich seinen Oberärzten zu. Die sagten zwar nichts, aber in ihren Blicken konnte man erkennen, dass sie von diesem Vorschlag überhaupt nichts hielten. Dann schaute der Chefarzt für eine Weile den Patienten an und schließlich wandte er sich wieder Dr. Martens zu. "Nun gut, Martens .", entschied der Chefarzt. "Ich stimme den Herren Oberärzten zwar zu, aber Sie kriegen Ihre Chance. Warten wir bis morgen ab, und dann treffen wir eine finale Entscheidung."
Dr. Frank Martens stand eine ziemlich lange Nacht bevor. Er hatte mit einem anderen Kollegen zusammen Nachtdienst. Nach etwa anderthalb Stunden hatte Dr. Martens mit den Pflegekräften die Routinearbeiten abgeschlossen. Er ging hinaus ins Ärztezimmer, um sich einen Kaffee zu genehmigen. "Na, wie sieht es hinten aus?", fragte Dr. Martens die ältere Schwester, die gerade die Patienten im hinteren Teil der Station versorgt hatte. "Sehr gut, Herr Frank!", antwortete sie in einem zwar guten, aber doch leicht gebrochenen Deutsch. Die Pflegerin stammte aus Italien. Und sie siezte Martens immer, obwohl er ihr schon zigmal das Du angeboten hatte. Aber zumindest nannte sie ihn Frank. Das war ja schon mal was. "Die Chefs haben mit die Herr Klausen keine große Hoffnung mehr, nicht wahr?" Martens schüttelte den Kopf. "Nein, die haben den schon aufgegeben." "Ist sehr schade und sehr traurig", meinte die Pflegerin. "Meine ich mit die Frau von Herr Klausen. Die ist so nett. Ist schade, wenn ihr Mann jetzt stirbt." Der junge Arzt schaute erstaunt auf. Er stellte den Plastikbecher mit dem Kaffee vor sich hin und schaute die Pflegerin an. Dann zeigte er mit dem Zeigefinger auf sie, wedelte mit diesem leicht in der Luft herum und sagte: "Es ist erst vorbei, wenn es vorbei ist!" Martens griff nach seinem Becher, trank den Kaffee in einem Zug aus und stand auf. "Wenn was ist, Sie finden mich am Bett bei Herrn Klausen!"
Dr. Martens setzte sich auf einen dieser Drehstühle ohne Lehne direkt an das Bett des Patienten und starrte abwechselnd auf die Monitore und auf den frisch operierten Herrn Klausen. Im vorgegebenen Rhythmus verrichtete die Beatmungsmaschine ihren Dienst. Aber der Kreislauf war alles andere als stabil. "Gut sieht anders aus", dachte Dr. Martens und kratzte sich nachdenklich am Kinn. Es gab eine ganze Menge an kleinen Stellschrauben, an denen er drehen konnte. Martens erinnerte sich zurück an einen älteren, sehr erfahrenen Arzt, unter dem er in seinem ersten Praxisjahr Dienst hatte. Als ob es gestern gewesen wäre, sah Martens den alten Arzt vor sich. Cool und besonnen kam er damals ans Bett eines ähnlichen Patienten, schaute sich nur die Werte an und meinte: "Dann mal ran ans Werk! Der Mensch ist ein komplexes Wesen, das betüdelt werden will. Lassen Sie uns mal vorsichtig an den Stellschrauben drehen . Rhythmus, Vorlast, Nachlast, Beatmung. Alles will wohl ausbalanciert sein, damit das Uhrwerk wieder richtig tickt!" Dr. Martens stand von seinem Drehstuhl auf und schaute sich die Daten auf dem Monitor an. "Also gut", dachte er sich, "dann mal los!" Er optimierte die Atmung und veränderte die Katecholamine Stück für Stück in winzigen Schritten. "So, und jetzt schauen wir mal, wie Sie das verdauen!", sagte Dr. Martens zu dem Patienten, der ihn wohl nicht hören konnte. Oder doch? Für einen kurzen Moment war ihm, als ob Herr Klausen zu einem zustimmenden Lächeln angesetzt hatte. Natürlich konnte das nicht sein. In...
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