Schweitzer Fachinformationen
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Die Liebenden von Allerheiligen
He pictured, in hers, his own redemption.
BERNARD MALAMUD
The Magic Barrel
An dem Nachmittag kam Michelle mit auf die Jagd. Pierre, der Treiber, traf nach dem Essen ein. Er trug seinen alten Federhut und einen grünen Mantel. Hinter dem Rücken hing links unsichtbar das Gewehr. Er war ungeduldig, zu beiden Seiten seiner Gummistiefel wippten die gelben Schnürbänder. Im Esszimmer fegte Michelle gerade die Brotkrumen mit einem kleinen Plastikbesen zusammen, die Bluse rutschte ihr von der Schulter, und der Träger ihres Büstenhalters kam zum Vorschein.
»Michelle kommt mit«, sagte ich zu Pierre.
»Ach, ich dachte, es macht ihr keinen Spaß.«
»Eben«, sagte sie. »Ich gehe nirgendwohin.«
Sie hatte es beiläufig gesagt, aber Pierre merkte, dass etwas nicht stimmte. Aus Höflichkeit erhob er Einspruch. Michelle wollte sich wieder weigern, aber ich wandte Pierre den Rücken zu, nahm sie bei den Händen und bat sie, uns zu begleiten. Sie senkte den Kopf, und ihr rotes Haar fiel in Kaskaden auf ihre Schultern. Beim Sprechen pochte eine Ader an ihrem nackten Hals.
»Ich möchte, dass wir hierbleiben. Du wolltest mir etwas sagen.«
»Das kann ich dir später sagen.«
»Ich wollte dir etwas sagen.«
»Es tut uns gut, wenn wir rauskommen, Liebes. An die frische Luft. Es tut uns gut, wenn wir alles ein Weilchen vergessen.«
»Alles vergessen«, wiederholte Michelle.
Ich sagte, dass ich sie liebte. Wir würden zurückkommen und weiterreden. Schau dir den Nachmittag an, sagte ich. Die Sonne blendet nicht, aber es ist so schön hell, ich möchte, dass du mitkommst.
Michelle gab schließlich nach, und während wir uns auf den Garagenstufen die dicken Wollsocken überzogen, sagte sie, dass sie zuversichtlich sei. Einen Augenblick lang schien sie tatsächlich daran zu glauben. Als sie Licht in der Rumpelkammer machte, flog eine Motte auf. Sie nahm zwei Paar Stiefel und holte unsere Jacken, während ich die Browning und die Munition vorbereitete. Auf dem gepflasterten Hof spielte Pierre mit den Hunden. Das Gewehr baumelte jetzt an seiner Schulter.
»Es ist nicht leicht«, sagte Michelle. »Wird wohl immer so sein, oder? So etwas darf nicht leicht sein.«
»Wir wollen es versuchen«, sagte ich.
»Ich weiß, das will ich ja gerade. Aber ich bin mir nicht sicher, ob da noch etwas zu machen ist. Sei ehrlich, du glaubst nicht ein Wort von dem, was wir besprochen haben.«
Sie hatte recht. So oft hatte ich mir den Augenblick der Trennung ausgemalt, dass ich bereits mit den verschiedensten Umständen und Schauplätzen jonglieren konnte, als schriebe ich an einem Drehbuch. Manchmal geschah es nachts nach einem heftigen Streit, manchmal schlich ich mich vor Tagesanbruch davon wie ein Feigling oder Dieb, da ich wusste, dass ich Michelles Traurigkeit, die Bürde ihrer Tränen nicht würde ertragen können. Jetzt überfiel mich die Gewissheit, dass all das noch viel früher eintreten würde. Jeden Moment konnten wir uns in die Augen schauen und begreifen, dass alles umsonst war. Genau darauf wartete ich: auf einen Schlag, kurz und schmerzlos. Dann könnte, so schwer dieser Moment auch wäre, jeder von neuem anfangen. Zweifellos das Beste für uns beide.
Der Weg war mit frischem Schlamm bedeckt. Ich verspürte die gleiche Freude wie immer, die Freude, auf demselben Weg vom freien Gelände mit Blick auf Modaves Steinhäuser nach und nach in den Raps vorzudringen, in die Felder mit ihren hohen Stängeln und gelben Blumen, in denen ich mich als Kind immer verirrt hatte. Nachmittags war das Jagen anders. Morgens gab es immer große Gruppen altgedienter Jäger, unvermeidliche Rituale, Feierlichkeit. Nicht am Nachmittag. Man ging auf die Jagd, um Bergluft zu atmen und die Stille, die Einsamkeit, die Kühle unter den Bäumen zu genießen.
Pierre ging voran. Die Hunde liefen einige Meter voraus, hielten an und warteten, eilten weiter. Michelle sah schön aus. Über dem Kordkragen der Jacke nahm ihr Haar eine andere Farbe an. Der Himmel war eine einzige rauchfarbene Wolke, glatt und ebenmäßig. Hinter Michelle bildete der Raps auf dem Feld am Wegesrand eine geschlossene Mauer auf Schulterhöhe. Ein Schwarm schwarzer Enten flog vorüber, doch allzu hoch.
»Welches hast du mitgenommen?«, fragte Pierre.
Ich zeigte ihm meinen Gewehrlauf. Die Enten waren unerreichbar.
»Macht nichts. Das wird ein guter Tag«, sagte Pierre. »Wenn's schon hier so viele gibt, dann im Wald erst recht?«
Pierre war abergläubisch. Er zog immer dieselben Socken an, wenn er jagen ging, und war überzeugt, dass der Auftakt der Jagd alles Kommende entschied. Die Hunde liebten ihn. Sie trotteten an seiner Seite, nicht an meiner. Ich wies Michelle darauf hin, und sie lächelte.
Zehn Minuten lang gingen wir schweigend. Die Landschaft veränderte sich, und als wir das Gut der Morés hinter uns gelassen hatten, überquerten wir das Feld in Richtung Wald. Pierre trennte sich von uns.
»Wohin geht er?«, fragte Michelle.
»Um den Wald herum. Er geht weiter hinten hinein und scheucht die Tiere auf.«
»In unsere Richtung?«
»In unsere Richtung.«
»Lass uns reden«, sagte Michelle.
»Dann aber gleich«, sagte ich im Scherz. »Sobald wir im Wald sind, müssen wir still sein.«
»Ich fühle mich komisch. Mir ist kalt.«
»Im Wald ist es wärmer, du wirst sehen. Da geht kein Wind.«
»Trennen wir uns?«
Ich antwortete nicht. Die Furchen im Schlamm verlangten Aufmerksamkeit. Ein Jäger konnte sich den Knöchel brechen, wenn er nicht aufpasste, wohin er trat.
»Besser wäre es, keine Frage«, sagte Michelle. »Wir tun einander weh, keine Frage. Aber ich möchte wissen, was du denkst. Ich weiß nicht, was du denkst, und möchte es gern von dir hören.«
Zum Glück erreichten wir in dem Moment den Wald, ich legte einen Finger an die Lippen und gebot Michelle zu schweigen. Ich kam ihrem Gesicht so nah, dass ihr rotes Haar mich an den Lippen kitzelte, und wisperte ihr zu: Von jetzt an absolutes Schweigen. Kein Wort, kein Stolpern, atme flüsternd. Ein Wildschwein kann uns auf etliche Meter Entfernung hören. Wenn es Hirsche gibt, verscheucht sie ein knackender Ast.
Moos wuchs zwischen den Schienen der alten Bahnlinie, und sie glänzten unter einer Glasur frischen Regens. Ein Teppich aus welkem Laub bedeckte das Gras, die Blätter waren feucht, weich, dunkel und golden, und Michelle setzte gern den Fuß darauf. Ich nahm sie bei der Hand, und wir gingen zwischen den Schienen weiter. Die Eichen und Buchen schützten uns vor dem Wind. Kein Lärm drang zu uns durch. Die Welt war grün, grau und braun, hatte keine Schatten, nichts regte sich. Mir schien, Michelle war zufrieden.
Ich deutete auf den Ort, an dem wir lauern würden, die Stelle, wo der Hügel sich zum offenen Feld hinabschwingt. Von dort aus überblickten wir, auf der feuchten Erde hockend, die wir kühl an den Knien spürten, das Gelände, das die Beute durchqueren würde, die Pierre am anderen Ende des Waldes aufscheuchte. Ich lud mein Gewehr. Das hatte Michelle mich noch nie tun sehen. Ich riss ein Stückchen Eichenrinde ab und gab es ihr zum Riechen, Michelle sog den Duft ein, und etwas Erde blieb an ihrer Wange haften. Sie spürte es nicht, denn die kalte Luft hatte ihre Haut betäubt, und ich wischte sie mit einem Finger fort, eine Geste, die einer Liebkosung glich. Ich machte ihr ein Zeichen, dass sie sich vor mich knien sollte, damit sie besser den Hang und die umgestürzten Baumstämme überblicken konnte, die das Gestrüpp daran hinderte, auf die Lichtung zu rollen. Der Vorschlag gefiel ihr, sie krabbelte über die Erde, und es war ihr einerlei, dass ihre Hände schmutzig wurden. Das machte mich irgendwie traurig. Weil sie so begeistert von den Formen und Farben war, die auch mich begeisterten, große Augen machte wie ein kleines Mädchen, das gleich ein Geschenk bekommt, und mir tat leid, was noch nicht geschehen war. Wann bloß waren wir gescheitert? Welche Worte würde wer gebrauchen, um jede Chance zunichte zu machen? Ich dachte an die Zeit zurück, als ich mich in Michelle verliebt hatte. Als ich sie kennengelernt hatte, war sie eine zerstreute Frau gewesen, ein wenig schroff, die an der Universität von Lüttich englische Philologie unterrichtete, deren einziges Interesse jedoch darin bestand, verschnörkelte Initialen zu zeichnen, die Bücher wie Le Morte Darthur oder Lancelot du Lac schmückten. Diese Widersprüchlichkeit war bezeichnend für ihr ganzes Leben. Sie trug T-Shirts mit Karikaturen, die sich bei Kälte unter dem Druck der Brustwarzen zum Rand hin wölbten. Oft bat sie mich, Modell zu sitzen, und zeichnete mich als verzerrte Figur, meine Wangenknochen wurden zu roten Paprikaschoten und mein schwarzes Haar hatte dunkelblaue Streifen wie Mandra, der Zauberer in den Comics. Damals liebte ich sie, und alles war einfach und durchsichtig, so augenfällig wie diese unliebsame Wirklichkeit, an deren Ende die Einsamkeit stand, eine notwendige Einsamkeit, die jedoch ein Opfer erforderte, ein Gespenst, das zwischen uns schlief wie ein kleines Kind. Als mir bewusst wurde, dass alles verkommen und vergehen muss, hielt ich das Alleinleben auf einmal für weniger schwierig. In diesem Gemütszustand befand ich mich, halb traurig, halb resigniert, als Pierres drei Schreie ertönten. Ich schaute auf die Uhr. Seit einer halben Stunde knieten wir auf Erde und Moos.
Michelle drehte sich um und sah mich mit ihren großen Augen an, fragte wortlos, was...
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