Schweitzer Fachinformationen
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Ich weiß nicht, wie lange ich in diesem chaotischen Zimmer verbrachte, in dem die Luft kaum zirkulierte. Es war ein Arbeitszimmer ohne Fenster, offensichtlich Benavides' Terrain und ganz auf ihn zugeschnitten. Darin stand ein Lesesessel im Lichtstrahl einer großen Lampe, die Ähnlichkeit mit einer alten Trockenhaube aus dem Friseursalon hatte, und dorthin setzte ich mich, nachdem ich auf und ab gegangen war und keinen Platz gefunden hatte, der für einen Besucher bestimmt war: Das Arbeitszimmer des Doktors war nicht für Gäste gedacht. Auf einem kleinen Tisch neben dem Sessel türmten sich ein Dutzend Bücher, die ich musterte, aber nicht zum Blättern hochnahm, aus Angst, eine heimliche Ordnung zu verletzen. Ich sah eine Biografie von Jean Jaurès und Plutarchs Parallelbiografien, ebenso Arturo Alapes Buch über den Bogotazo und noch einen dünneren Band, dessen Autor ich nicht entziffern konnte, der Titel klang jedoch allzu sehr nach Pamphlet: Weshalb der politische Liberalismus in Kolumbien keine Sünde ist. An der Längswand stand ein Schreibtisch, die Oberfläche ein Rechteck aus grünem Leder, auf dem peinliche Ordnung herrschte: zwei säuberlich getrennte Stapel, einer mit geschlossenen Briefumschlägen, der andere mit zusammengefalteten Rechnungen (ein seltsames Zugeständnis an das praktische Leben, denn sonst schien der Ort den unterschiedlichen Formen der Kontemplation gewidmet zu sein), beschwert von einem Stiftebecher, der nach Kunsthandwerk aussah. Zwei Geräte regierten die Oberfläche: ein Scanner und ein Computerbildschirm, ein weißes Ungetüm, neustes Modell, das seinen Platz wie ein Götze einnahm. Nein, dachte ich sogleich: nicht wie ein Götze, sondern wie ein großes Auge, wie das Auge, das alles sieht, alles weiß. Ich war so lächerlich, zu überprüfen, ob der Computer ausgeschaltet war, zumindest seine Kamera, nicht dass mich jemand heimlich beobachtete.
Was war da unten geschehen? Es war mir noch immer nicht ganz klar. Meine gewaltsame Reaktion überraschte mich, obwohl ich wie ein Großteil meiner Generation einen Rest unterdrückter Gewalt mit mir trage, weil ich in einer Zeit aufgewachsen bin, in der die Stadt, meine Stadt, zu einem verminten Gelände geworden war. Die brutale Gewalt der Bomben und Schießereien wiederholte sich in uns mit ihrem heimtückischen Mechanismus. Bestimmt erinnert sich jeder von uns noch daran, wie man prompt aus dem Auto stieg und wegen eines banalen Vorfalls im Verkehr einem anderen die Schnauze einschlug, und sicher bin ich nicht der Einzige, der mehr als einmal in die schwarze Mündung eines Pistolenlaufs geblickt hat, der einem ins Gesicht zielt. Auch mit meiner Faszination für gewaltsame Szenen bin ich gewiss nicht allein, für die Fußballspiele, die zu Feldschlachten werden, für die versteckten Kameras, die irgendwo Fausthiebe aufzeichnen, in der Madrider Metro oder an einer Tankstelle in Buenos Aires, Szenen, die ich im Internet suche und mir ansehe, um den nötigen Adrenalinstoß zu bekommen. Aber nichts davon rechtfertigte, was unten geschehen war; nur der Zustand meiner Nerven inmitten von Anspannung und Schlaflosigkeit taugte wenigstens für den Versuch einer Erklärung. Daran klammerte ich mich: Ja, das war nicht ich selbst gewesen, Doktor Benavides und seine Frau mussten es einfach verstehen. Dreißig Straßen weiter schwebten meine ungeborenen Töchter in Lebensgefahr, und Tag für Tag wurde mein Wohlergehen und das meiner Frau aufs Spiel gesetzt von der Gefahr einer Risikogeburt. War es da nicht verständlich, dass Carballos Bemerkung mich einen Moment lang um den Verstand gebracht hatte?
Andererseits, wie viel wusste Carballo über meine Beziehung zu José María Villarreal? Es lag auf der Hand, dass er nicht über konkrete Einzelheiten verfügte, aber auch, dass Benavides und er recht ausführlich über mich geredet hatten. Seit wann? Hatte mich Benavides mit der geheimen Absicht eingeladen, dass er mir Carballo vorstellen oder Carballo mich kennenlernen konnte? Warum? Weil ich Neffe von jemandem war, der aus erster Hand vom 9. April zu berichten wusste und eine entscheidende Rolle bei den Geschehnissen nach Gaitáns Ermordung gespielt hatte. Ja, das zumindest stimmte. Das war anerkannte Tatsache und Teil der offiziellen Geschichte: Der regimetreue Gouverneur schickt tausend Mann, die den Aufstand bezwingen sollen. Und natürlich hatte ich García Márquez' Memoiren gelesen, wie alle Welt, und wie alle Welt war ich betroffen und beunruhigt davon gewesen, wie deutlich der größte Romancier des Landes und zudem unser einflussreichster Intellektueller ungeschminkt und direkt andeutete, dass es eine verborgene Wahrheit gab. Denn nichts anderes besagte diese Seite: Indem García Márquez von dem eleganten Mann sprach und seiner möglichen Beteiligung an der Ermordung des Mörders, hielt er schwarz auf weiß die tiefe Überzeugung fest, dass Juan Roa Sierra nicht der alleinige Mörder von Jorge Eliécer Gaitán war, sondern dass hinter dem Verbrechen eine ausgeklügelte politische Verschwörung steckte. Dieser Mann hatte es geschafft, dass man einen Falschen umbrachte, um die Identität des wahren Mörders zu schützen. Diese Worte erschienen nun in einem neuen Licht. Aber natürlich war ich nicht auf den Gedanken gekommen, dass mein Onkel hätte wissen können, wer der elegante Mann gewesen war. Das war ein unsinniger Gedanke, so gut man sich damals in der politischen Elite gekannt haben mochte. War er unsinnig? Vielleicht. Oder doch nicht? Aus jedem von Carballos Worten schien eine tiefe Überzeugung zu sprechen: Mein Onkel José María war womöglich in Besitz von Kenntnissen gewesen, die ein Licht, mochte es auch noch so schwach sein, auf die Identität des Mannes hätten werfen können, der es geschafft hatte, dass man einen Falschen umbrachte, um die Identität des wahren Mörders zu schützen.
Bei diesen Überlegungen war ich gerade, als es an der Tür klopfte.
Beim Öffnen stieß ich auf Doktor Benavides, eine Ausführung mit Augenringen und Hängeschultern, als hätten die jüngsten Ereignisse ihn noch mehr ausgelaugt. In der Hand hielt er ein Tablett mit zwei Tassen und eine fuchsiafarbene Thermosflasche, wie sie Sportler beim Joggen benutzen, mit dem Unterschied, dass Doktor Benavides' Thermosflasche kein Wasser, keinen Energydrink enthielt, sondern starken schwarzen Kaffee. »Für mich nicht, danke«, sagte ich, und er entgegnete: »Doch, für Sie schon. Danke.« Und er schenkte mir eine Tasse ein. »Ach, Vásquez«, fuhr er fort. »In was für ein Schlamassel haben Sie mich heute gebracht.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Verzeihen Sie mir, Francisco. Ich weiß nicht, was mit mir los war.«
»Das wissen Sie nicht? Ich weiß es schon. Mit Ihnen war los, was vermutlich mit jedem anderen an Ihrer Stelle los gewesen wäre. Carballo ist zu weit gegangen, auch das weiß ich. Aber das Schlamassel wird dadurch nicht kleiner.« Er ging in eine Zimmerecke und drückte auf einen Apparat mit Gitterrost. Die Temperatur sank um mehrere Grad, und die Luft, schien mir, war nicht mehr feucht. »Sie haben meine Gesellschaft ruiniert, lieber Freund«, sagte Benavides. »Sie haben mein Fest und das meiner Frau ruiniert.«
»Ich kann hinuntergehen«, bot ich an. »Und alle um Verzeihung bitten.«
»Keine Sorge. Sie sind schon alle fort.«
»Carballo auch?«
»Auch Carballo«, sagte Benavides. »In der Klinik. Damit sie seine Nase richten.«
Dann ging er zum Schreibtisch, setzte sich und schaltete den Computer ein. »Carballo ist schon ein besonderes Kaliber«, sagte er, »man hält ihn schnell für verrückt. Das will ich nicht abstreiten. Aber in Wirklichkeit ist er ein wertvoller Mensch, der in seiner Leidenschaft manchmal über das Ziel hinausschießt. Und leidenschaftliche Menschen mag ich. Das ist eine Schwäche von mir, aber was soll ich machen. Ich mag Leute, die das, was sie glauben, mit echter Leidenschaft glauben. Und das ist bei Carballo weiß Gott der Fall.« Beim Sprechen fuhr Benavides mit der Maus über das grüne Leder des Tischs, und auf dem Bildschirm wechselten die Elemente einander ab, Fenster öffneten sich, legten sich übereinander, und dahinter schien das Bild durch, das Benavides als Hintergrund gewählt hatte. Ich war nicht überrascht, als ich ein weiteres von Sady González' berühmten Fotos erkannte: die Straßenbahn, die während der Unruhen am 9. April in Brand gesetzt wird. Es war ein Bild voller Gewalt, das wohl einiges über den Mann verriet, der es beim Anstellen des Computers jedes Mal vor Augen haben wollte, aber darüber dachte ich lieber nicht weiter nach. Man musste in dem Bild nicht die anklagende Darstellung der Gefahr und der Zerstörung an jenem unheilvollen Tag sehen, sondern konnte es auch einfach als Gedächtnisbrücke nehmen, als historisches Zeugnis. »Haben Sie Ihren Kaffee schon getrunken?«, fragte Benavides.
Bild 2
Ich zeigte ihm die leere Tasse, deren Grund nun zwei braune Ringe schmückten, die manche (ich nicht) zu lesen und zu interpretieren wissen. »Ausgetrunken«, sagte ich.
»Sehr gut. Und sind Sie wach, oder gieße ich Ihnen noch einen ein?«
»Ich bin wach, Doktor. Das da unten war etwas anderes. Das war .«
»Nennen Sie mich nicht Doktor, Vásquez, ich bitte Sie. Erstens hat dieses Wörtchen bei uns stark an Wert verloren. Jeden, aber auch jeden, nennt man so. Zweitens bin ich nicht Ihr Arzt. Drittens sind wir beide bereits Freunde. Etwa nicht?«
»Doch, Doktor. Francisco. Doch, Francisco.«
»Und Freunde reden sich nicht mit solchen Formeln an. Oder?«
»Nein, Francisco.«
»Ich könnte Sie ebenso Doktor nennen, Vásquez. Jetzt sind Sie Autor, aber...
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