Richtig atmen für sportliche Höchstleistung

EINFÜHRUNG

Dies ist ein Buch, das alles verändern wird. Richtig atmen für sportliche Höchstleistung ist kein motivierender Wohlfühlratgeber, und obwohl Atmung etwas Magisches, Wunderschönes und geradezu Jenseitiges sein kann, geht es in diesem Buch auch um solcherlei Dinge nicht. Richtig atmen für sportliche Höchstleistung erläutert ein System und gibt Helden des Alltags, wie ich sie nenne - etwa Sportlern oder Rettungskräften -, einen groben Überblick und klare Anweisungen, wie sie angesichts der einzigartigen Anforderungen ihres Sports oder im Dienst auf physisch optimale Weise atmen. Und sobald Sie die Grundlagen verstanden haben und sich strukturell fehlerfrei bewegen, werden Sie lernen, Ihre Atemmuskeln zu kräftigen. Im Ergebnis werden Sie nicht nur Ihre Ausdauer, Kraft und Präzision steigern, sondern auch Ihr Nervensystem stärken - und sogar Ihr emotionales Wohlbefinden von Grund auf verbessern.

Alles was wir lernen, verdanken wir anderen. Dieses System beruht auf dem Fundament von Experten für Ventilation, Atmung und Atemarbeit aus verschiedenen Epochen der Geschichte und aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Unsere Bezüge zur Fachliteratur sind keinesfalls umfassend, sondern sollen eher den Ausgangspunkt für einen Paradigmenwechsel darstellen, durch den wir die Atmung in den Feldern Sport und Performance stärker berücksichtigen und - hoffentlich - etwas zu neuen Theorien und wissenschaftlichen Erkenntnissen beitragen. Atmung lässt sich drei Lagern zuordnen: Atemmeditation bis hin zur Trance (zum Beispiel holotropes Atmen), Respiration (Atmung auf Zellebene, im Sinne des Austauschs von Sauerstoff und Kohlenstoffdioxid) sowie die Ventilation (Belüftung der Lungen). In diesem Buch konzentrieren wir uns auf die Ventilationsmechanik, also die Funktionsweise der Atmung, die daran beteiligten Muskeln sowie die dafür korrekte Körperhaltung.

Im Folgenden finden Sie eine Reihe von Prinzipien, auf denen dieses Buch basiert. Sie wurden inspiriert von den sieben Prinzipien Vladimir Vasilievs, einem Chefausbilder russischer Spezialeinheiten in Kampfsport, die er in seinem Buch Let Every Breath: Secrets of the Russian Breath Masters vorgestellt hat. Wie Vasiliev glaube auch ich, dass sich diese Prinzipien in »jedem wachen Moment Ihres Lebens« anwenden lassen, und zwar ergänzend dazu, wie Helden des Alltags während des Trainings oder der Regeneration atmen sollten.

1. Das Prinzip anatomischer Kongruenz: Unser Ziel ist es, dass Ihre Atmung biomechanisch einwandfrei (anatomisch kongruent) abläuft. Hierzu müssen Sie auf die korrekte Bewegungszone LOM (für Englisch Location of Movement) und den korrekten Bewegungsumfang ROM (Range of Movement) Ihrer Atmung achten. Die LOM sollte in der Körpermitte liegen, wo sich das Zwerchfell befindet und die Lunge am größten ist. Die ROM gibt die sogenannte abdominothorakale Flexibilität des Atemapparats an, die in der medizinischen Fachliteratur auch als Thorax- oder Atemexkursion bezeichnet wird und die wahrnehmbare Bewegung des Brustkorbs beim Atmen misst. Gemeinsam bilden LOM und ROM Ihren Atem-IQ, kurz: A-IQ.
2. Das Prinzip des Atem-IQ: Ein solches funktionales Bewertungssystem für Ihre Atemmechanik (anatomische Kongruenz) ermöglicht und vereinfacht entsprechende Verbesserungen daran. Ein Blick in die medizinische Fachliteratur zeigt, dass der Einsatz der primären Atemmuskeln (Zwerchfell, Zwischenrippenmuskeln, gerade und seitliche Bauchmuskeln) Ihr gesamtes Wohlbefinden beeinflusst, etwa beim Schmerzmanagement, bei der Regulierung des Blutdrucks, der Gesundheit von Rücken und Verdauung, und er erhöht die Leistungsfähigkeit und Lebensdauer.
3. Das Prinzip der Bewegungsintegrität: Atmen ist die elementarste Bewegung, die wir ausführen. Alle anderen Bewegungen bauen darauf auf. Atmung stellt demzufolge die Grundlage für jedes komplexe Bewegungsmuster dar. Erfolgt sie anatomisch kongruent, so besitzen Bewegungen (egal ob beim Tanzen oder Aufheben eines Bleistifts) Integrität. Die lokomotorische Kopplung von Dehn- und Halteübungen sowie Ausdauerbewegung geschieht unter Ausnutzung der Atmung.
4. Das Prinzip von Psychologie und Atmung: Ein- und Ausatmen haben eine psychologische Komponente: Atmung und Emotionen stehen in einer bidirektionalen Beziehung zueinander. Ihre Stimmung beeinflusst Ihre Atmung und Ihre Atmung beeinflusst Ihre Stimmung. Sich der psychosozialen Faktoren bewusst zu sein, die Ihre Atmung bislang beeinflusst haben, ist Teil des Veränderungsprozesses. Dazu gehören:
   
   • Der Einfluss der Umgebung auf den Körper, vor allem von Technologie und chronischem Stress (betrifft Haltung und Körperspannung)
   • Negative Gefühle zum eigenen Körper (Größe oder Gewicht)
   • Mythen und Missverständnisse zum Atemapparat
   • Lebenserfahrungen, in denen Sie mit Kampf, Flucht oder Erstarren reagiert haben
5. Das Prinzip des amnestischen Zwerchfells: Eine gute Körperspannung kann Ihren Rücken beim Krafttraining schützen. Ist Ihre Haltung allerdings den ganzen Tag über verkrampft, schadet das Ihrer körperlichen und geistigen Gesundheit. Verspannungen, Abwehranspannung, Baucheinziehen - also emotionale und muskuläre Korsetts - stören allesamt eine korrekte Atemmechanik. Die bedauerliche Folge ist ein ungeschmeidiges Zwerchfell, das entweder eingeklemmt oder amnestisch ist. Der Körper hat dann keine andere Möglichkeit, als vertikal oder (mit zusätzlicher Hilfe der Halsund Schultermuskulatur) apikal, also nach oben zum Kopf hin zu atmen. Die Symptome treten dann so weit von ihrer Ursache - der Atmung - entfernt auf, dass wir ihren Ursprung nicht mehr in einer Fehlfunktion im Rumpf vermuten.
6. Das Prinzip des perfekten Dreiergefüges: Beckenboden, Zwerchfell und Lenden-Darmbeinmuskeln bilden das Grundgerüst einer biomechanisch korrekten Atmung. Diese Muskeln umrahmen die Systeme von Verdauung, Wirbelsäule und Urogenitalregion. Ein Atemzug ist gesund für die Organe, sorgt für besseres Gleichgewicht, eine stabilere Wirbelsäule und einen gesünderen Darm. Fehlerhafte Mechanismen zu korrigieren, um dem Zwerchfell seine Rolle als wichtigster Atemmuskel zurückzugeben, hat deshalb ganz überwältigende Auswirkungen auf die allgemeine Gesundheit und Leistungsfähigkeit. Das Zwerchfell stützt Herz und Lunge von unten und den unteren Rücken, die Verdauungsorgane und den Beckenboden von oben. Ändern Sie eine fehlerhafte Atemgewohnheit, ist der Effekt riesig, weil er sich selbst verstärkt. Sobald Sie korrekt atmen, will Ihr Körper dies weiterhin auf diese Art tun.
7. Das Prinzip der Entgiftung: Zwar sind Leber und Nieren die wichtigsten Entgiftungsorgane des Körpers, das Zwerchfell ist allerdings der wichtigste Entgiftungsmuskel. Weil es sich in der Körpermitte ausdehnt und zusammenzieht, fördert es die Blutzirkulation, die Verdauung und den Transport der Lymphflüssigkeit.
8. Das Popeye-Prinzip: Popeyes breite Brust zeugt nicht von Kraft, sondern von einer großen Menge sogenannter Residual-, also Restluft in der Lunge. Mit dem Alter werden effizientes und kraftvolles Ausatmen, bei dem sich Körper und insbesondere Brustkorb zusammenziehen, immer wichtiger. Andernfalls kann es zu Verknöcherungen kommen. Das Ausatmen tut dann weh, wodurch mehr Restluft in der Lunge verbleibt und die betreffende Person sogenannten Lufthunger verspürt, ein Symptom, das in vielen Arztpraxen und Krankenhäusern oft nicht korrekt diagnostiziert und falsch behandelt wird.
9. Das Prinzip didaktischer Atemumschulung: Ein tiefer Atemzug in den Bauch ist der erste Schritt zum Verständnis und Erlernen der zirkumferenziellen Zwerchfellatmung (gemessen an der abdominothorakalen Flexibilität des Atemapparats). Schlechte Atemgewohnheiten (zum Beispiel Anspannen) erfolgreich abzubauen und bessere Techniken zu erlernen, erfordert multisensorische, didaktisch einwandfreie Anleitungen. Die Alternativen - Instruktionen wie »Holen Sie tief Luft« - sind derart mit Mythen und Missverständnissen beladen, dass sie ineffektiv sind oder nur zu kurzfristigen Veränderungen führen. Dank seiner kinästhetischen und lehrenden Komponente löst das Prinzip der Atemumschulung ein sofortiges Gefühl der Ruhe und Gelassenheit aus.
10. Das Prinzip der Effizienz: Eine mechanisch korrekte (horizontale) Zwerchfellatmung ist effizienter, weil dabei pro Atemzug mehr Luft in und aus Ihrem Körper strömt als bei apikaler oder vertikaler Atmung. Wenn der Körper anatomisch kongruent atmet, werden Atemrhythmus und Tempo natürlicher und eine ausgeglichene Atmung eher möglich.
11. Das Prinzip der fünf Kilogramm: Das Gesamtgewicht aller an einer korrekten Atemung beteiligten Muskeln beträgt über fünf Kilogramm. Ihr größter Feind ist gefühlte Ermüdung, deren Ursache...