Schweitzer Fachinformationen
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Als der Bus in Stavanger hielt, war es schon lange dunkel. Außer Inger war nur eine Handvoll Personen bis zur Endstation gefahren, und die zerstreuten sich jetzt rasch. Offenbar wussten alle anderen, wo sie hinsollten. Das Mädchen setzte ihre Ente auf den Boden. Petronella durchforstete sofort mit dem Schnabel die Pfützen im Rinnstein, froh, nach der trockenen Wärme im Bus endlich wieder Feuchtigkeit um sich zu haben. Feiner Nieselregen fiel. Genau richtig für eine Laufente. Inger zog einen Zettel aus der Tasche, studierte erneut die Wegbeschreibung und schulterte dann entschlossen ihren Rucksack.
»Komm, komm, komm«, lockte sie die Ente.
Petronella warf einen verlangenden Blick auf den kleinen See gegenüber dem Bahnhof, doch alleine unter fremden Stockenten und Schwänen zurückbleiben wollte sie dann doch nicht. Sie folgte Inger wackelnd und so schnell sie konnte über den Bahnhofsvorplatz und nach links den Berg hinauf in den Westteil der Stadt.
Sie waren seit dem frühen Morgen unterwegs. Dreimal hatten sie umsteigen müssen, doch Inger hatte die Fahrt genossen. Es kam nicht oft vor, dass sie alleine war, ohne dass ihr gleich wieder jemand sagte, was sie als Nächstes zu tun hatte. Vor dem Fenster schob sich die herbstliche Landschaft vorbei. In den Bergen waren die Bäume bereits vollständig kahl, und selbst unten am Meer riss der Wind die letzten Blätter von den Ästen. In der frühen Dämmerung waren sie die Küste von Kristiansand heraufgekommen, während der Regen unaufhörlich auf das Dach des Busses prasselte und vom Wind getrieben gegen die Scheiben schlug. Erst kurz vor Stavanger hatte sich das Wetter etwas beruhigt.
In dem trüben Licht der Straßenlaternen glänzte die Straße, und die Pfützen warfen kleine Wellen, auf denen welkes Laub tanzte. Mit einem Mal wurde das Licht abgeschaltet, und die Straße blieb schwarz und leer zurück. Sparmaßnahmen der Stadt, hier wie überall. Inger bückte sich und nahm die Ente auf den Arm, die sich in so tiefer Dunkelheit nicht orientieren konnte. Vorsichtig ging sie weiter, immer tiefer in den Stadtteil Eiganes hinein, vorbei an einem Park mit alten, hohen Buchen und entlang menschenleerer Straßen, die von ehrwürdigen Villen und großen, verlassenen Gärten gesäumt waren.
Hier irgendwo musste es sein.
Petronella auf ihrem Arm wurde schnell schwer. Gut, dass Inger sonst nicht viel Gepäck bei sich hatte. Sie suchte nach Straßenschildern und Hausnummern und zog immer wieder ihren Zettel zurate.
Endlich stand sie vor dem richtigen Tor. Zumindest nahm Inger das an, denn das Haus rechts davon trug deutlich die Nummer 71, ein moderner, viereckiger Klotz mit riesigen Fenstern und der Hausnummer in großen, beleuchteten Ziffern neben dem Eingang, und das links war eindeutig die 75, auch wenn die Hausnummer nur bescheiden auf dem Briefschlitz stand. Das Haus dazwischen trug gar keine Nummer, auch keinen Briefkasten mit einem Namen daran, aber hinter den Fenstern im ersten Stock sah sie Licht, und falls das nicht die Villa Ödegaard war, könnte sie immerhin fragen.
Inger öffnete das Gartentörchen und ging den Kiesweg zur Haustür hinauf. Sie wollte schon läuten, doch dann erinnerte sie sich an ihre Ente und ließ die Hand wieder sinken.
Petronella war ihr im letzten Frühjahr zugelaufen. Plötzlich hatte die Ente im Gemüsebeet gestanden und nach den Regenwürmern geschnappt, die die Klasse beim Graben an die Oberfläche beförderte. Gartenbau-Unterricht. Unkraut jäten und Kartoffeln setzen. Bei allen unbeliebt außer bei Inger, die gerne im Freien war, selbst wenn sie sich die meiste Zeit bücken musste. Petronella war noch ein Entenküken gewesen, das nicht quakte, sondern nur piepste, anfangs sehr scheu, aber auch sehr hungrig. Inger brachte ihr Brot oder Reis, der vom Mittagessen übrig geblieben war. Und manchmal grub sie ihr ein Stück Beet auf, wenn keiner der Lehrer sah, dass sie schon wieder unreife Kartoffeln aushob, damit Petronella mit ihrem Schnabel in der lockeren Erde wühlen konnte. Das liebte sie. Den gesamten Sommer über war es Inger gelungen, die Ente in dem großen Garten des Internats zu verstecken, der nahtlos in die umliegenden Felder überging. Inger hatte ständig irgendwelches Viehzeug um sich. Und ständig irgendwelchen Ärger, denn Tierhaltung war den Schülern strengstens verboten. Tiere brachten nur Allergien, ansteckende Krankheiten und Disziplinlosigkeit mit sich.
Inzwischen war Petronella ausgewachsen. Inger hatte nie herausgefunden, woher sie kam. Soweit sie wusste, vermisste niemand in der Nähe eine Laufente, und das war Inger nur recht, denn die Ente war sehr zahm geworden. Sie fraß aus der Hand und ließ sich sogar streicheln, selbst wenn Inger den Eindruck hatte, dass sie dies nur aus Zuneigung zu Inger gestattete. Die wenigsten Vögel mochten Körperkontakt.
Heute Morgen beim Aufbruch war Petronella ihr wie selbstverständlich zur Bushaltestelle gefolgt. Die Einzige übrigens, die sie begleitete. Abschiede waren etwas, das man im Internat ohne Aufheben und ohne Kummer überstand, vor allem Abschiede zu nachtschlafender Zeit. Der Bus hatte gehalten, die Tür sich zischend geöffnet, Inger stieg ein und zahlte. Draußen trippelte die Ente ungeduldig von einem Bein aufs andere, kackte einen Entenklecks, trippelte wieder und quakte schließlich ungeduldig und laut. Inger war noch nie irgendwo ohne ihre Ente hingegangen - zumindest nicht, soweit Petronella zurückdenken konnte. Der Busfahrer schloss die Tür und legte den Gang ein. Petronella quakte noch einmal, dringlicher. Und im letzten Moment rief Inger: »Meine Tasche! Die hätte ich fast vergessen. Bitte noch mal die Tür aufmachen.«
Sie sprang auf die Straße zurück, schnappte sich Petronella, wandte dem Fahrer beim Einsteigen geschickt den Rücken zu und suchte sich einen Platz ganz hinten, während der Bus endlich losfuhr.
Die Ente hatte aus dem Fenster gesehen und leise vor sich hin geschnattert. Sie war ganz einer Meinung mit Inger: Was hätte sie auch alleine im Internat gesollt? Entweder wäre sie dort verhungert - morgens lag schon Frost über den Hügeln, und es gab kaum noch Schnecken und Würmer. Oder jemand hätte sie gegessen, um den eigenen Hunger zu stillen.
Doch jetzt, vor der Haustür der Villa Ödegaard, kamen Inger mit einem Mal Zweifel. Die Bestellung war ein Mädchen gewesen. Nicht ein Mädchen mit Geflügel. Falls diese Frau Ödegaard nett war, hatte sie sicher nichts gegen ein Haustier einzuwenden. Aber falls nicht, wäre es unmöglich, die Ente im Nachhinein zu verbergen. Besser, Petronella blieb fürs Erste inkognito. Inger sah sich suchend um und ging dann links um das Haus herum in den Garten. Inzwischen hatte es aufgehört zu regnen, und ab und zu gaben die Wolken den Mond frei, doch viel konnte man nicht erkennen. Hier Büsche und dort Bäume und da eine Hecke. Reichlich regennasses Grün auf jeden Fall, und es roch nach feuchter Erde und Laub. Petronella strampelte und versuchte, sich zu befreien. Inger tastete sich tiefer in den Garten hinein und setzte die Ente unter einer Eibe ab, deren Zweige direkt über dem Boden begannen, dicht wie ein Dach. Hoffentlich gab es hier weder Katzen noch Marder, die nachts auf Entenjagd gingen. Aber für heute musste es einfach reichen. Morgen würde sie sehen, ob sich nicht irgendetwas fand, das als Stall dienen könnte.
Inger kehrte zur Haustür zurück, diesmal alleine, und läutete. Drinnen blieb es still. Sie läutete noch einmal. Hatte die Heimleitung nicht mit Frau Ödegaard telefoniert? Ankunft am 27. Oktober gegen 21 Uhr? Natürlich war es für eine alte Frau zu beschwerlich gewesen, Inger vom Bahnhof abzuholen. Oder zu spät. Oder zu nebensächlich. Aber wenigstens die Tür öffnen? Inger klingelte ein drittes Mal, während sie überlegte, ob Frau Ödegaard vielleicht gerade heute Nachmittag verstorben war und jetzt tot hinter ihrem erleuchteten Fenster lag. Für diese Nacht würde Inger sicher einen Winkel bei der Ente im Garten finden, wo sie einigermaßen trocken und windgeschützt wäre. Doch wohin morgen früh? Zurück ins Internat sicher nicht. Inger war froh, dass sie die Schulzeit hinter sich hatte. Nach Hause zu den Eltern nach Klepp? Unwillkürlich zog Inger die Schultern hoch und schlang die Arme um den Körper. Vater und Mutter waren so stolz gewesen, dass Inger gerade bei Frau Ödegaard eine Stelle bekommen hatte. Frau Ödegaard war eine Märtyrerin der Mission, denn sie hatte ihren Mann in Afrika verloren, den Doktor Ödegaard, und selbst wenn das nun schon lange her war, »leuchtet sein Stern doch immer noch in unseren Herzen«, wie die Mutter vor ein paar Tagen am Telefon gesagt hatte. »Mach uns diesmal bitte keine Schande, hörst du, Inger? Gott schickt dich nach Stavanger, damit du dich läuterst, das verstehst du doch, oder? Frau Torkelsen .« - das war die Leiterin des Internats - »Frau Torkelsen sagt, dass ein guter Kern in dir steckt, Inger, ein Samenkorn für den rechten Glauben. Gott widersteht den Hoffärtigen, den Demütigen aber gibt er Gnade. Denk daran!« Dann hatte sie aufgelegt. Sowieso war es das längste Telefongespräch gewesen, das Inger je mit ihrer Mutter geführt hatte. Bei sieben Geschwistern, die meisten davon jünger als Inger, war eben immer viel zu tun.
Auf jeden Fall, wenn Inger sich vorstellte, wie sie mit einer verbotenen Ente auf dem Arm die Auffahrt des Elternhauses hochgestiefelt kam, weil Frau Ödegaard just in dem Moment gestorben war, in dem Inger an der Tür klingelte - freuen würde sich da niemand.
Sie läutete noch ein viertes Mal, hartnäckiger und länger, und diesmal...
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