Schweitzer Fachinformationen
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6. März
Der Linoleumfußboden des forensischen Instituts in der Tulane Avenue gibt bei jedem ihrer Schritte ein gedämpftes Geräusch von sich. Sieben Uhr morgens, Hanna Vincennes ist höchstens seit einer halben Stunde wach. Sie hatte noch im Bett gelegen, als das Telefon klingelte. Sie sollte ihre Termine Termine sein lassen und gleich ins Büro kommen. Die Verabredung mit dem Chief Inspector am Mittag, um die sie vor Wochen gebeten hatte, wurde bis auf Weiteres verschoben.
Das ist einer der unangenehmsten Aspekte ihrer Arbeit, auch wenn sie inzwischen gegen die grauenhaftesten Fotos abgehärtet ist und kaum noch auf durchgeschnittene Kehlen oder auf in Fetzen geschossene Gesichter achtet. Aber es bleibt problematisch: Was mal ein Mensch war, ist nun ein vielfach verstümmeltes Opfer. Sie streicht eine Locke hinter ihr Ohr - es ist immer öfter eine Neufärbung nötig, um dieses Blond zu behalten - und geht durch den fensterlosen Korridor. An dessen Ende wartet der Pathologe auf sie. Steve, mit zurückweichendem Haaransatz, und selbst bei dieser Leichentemperatur Crocs an den Füßen.
Hanna schüttelt seine Hand, sie begrüßen sich und beugen sich über den Körper.
»Nathalie Underwood«, liest der Pathologe von einem Clipboard ab. »Mindestens vor vierundzwanzig Stunden ermordet. Fünfundzwanzig Jahre alt, heute früh von einem neunjährigen Mädchen, das mit ihrem Vater spazieren war, in einem der Bayous bei Lake Lery aufgefunden.« Er legt das Clipboard weg und zeigt auf die Leiche. »Ihr Portemonnaie steckte noch in der Hosentasche, ihr Handy wurde ein Stück weiter im Morast gefunden. Aber wegen des Wasserschadens können wir keine Daten auslesen.«
»Ein außer Kontrolle geratener Raubüberfall ist also ziemlich unwahrscheinlich.«
Sie ziehen Latexhandschuhe an, die ein kurzes klatschendes Geräusch in der Stille des Raumes hinterlassen.
Es gelingt Hanna immer besser, bei solcherart Verrichtungen nicht an frühere Opfer zu denken. Oder an den Fall, der ihre Karriere fast beendet hätte. Das ist inzwischen drei Jahre her. Das Gesicht des Opfers, Anna Morales, eine vierzigjährige Frau mit eingeschlagenem Schädel - Hanna hat es noch immer nicht von sich abgeschüttelt.
»Gibt es Besonderheiten?« Sie betrachtet die Stichwunden.
Der Pathologe geht zu einer Leuchtwand, an der vier Röntgenfotos hängen, zwei von Nathalies Körper - seitlich und von vorn - und zwei von ihrem Schädel und ihrem Gehirn. »Die Lunge ist durchlöchert«, sagt er. »Das Opfer ist erstickt. Das geht auch aus den Hirnscans hervor.«
»Weiß man schon mehr über die Schnittwunde? Was für ein Messer?«
»Die Stichwunden haben kurze ausgefranste Ränder: Es handelt sich um ein Messer mit Wellenschliff, nicht übertrieben groß.«
»So ein Messer kann man überall kaufen. Gibt es Spuren von Gewaltanwendung?«
»Nein.« Er zeigt auf die Arme des Opfers. »Sie wurde nicht geknebelt oder gewürgt, sie war bei Bewusstsein. Außerdem: kein Hinweis auf Raub oder Vergewaltigung.
»Vermutlich hat sie ihren Verfolger gekannt.«
»Es war auf jeden Fall jemand, der sie quälen wollte. Er hat insgesamt achtmal zugestochen. Die Wunde an der Schulter ist die älteste. Danach erhielt sie noch einige Stiche in den Rücken, und dann ist sie sehr schnell erstickt.« Der Finger des Pathologen gleitet über das Foto des Schädels. Er hält am Hals an. »Wahrscheinlich konnte sie nach den Messerstichen nicht mehr rufen oder schreien, soll heißen, sich verteidigen, aber sie lebte noch.«
»Toxikologie?«
»Wird noch untersucht. Ein Teil des DNA-Materials ist vom Regen weggespült worden. Ich habe am Körper Samenspuren, Fingerabdrücke und ein paar Haare gefunden. Die laufen gerade durch die Datenbank. Und dann ist da noch das hier, das habe ich entdeckt, kurz bevor du reinkamst.« Steve hebt die linke Hand des Opfers an und beugt sich nach vorn. »Guck, hier unter dem Nagel ihres Zeigefingers. Nicht länger als vier, fünf Millimeter.« Mit einer Pinzette holt er einen kleinen dunklen Gegenstand hervor. »Es ist fast ganz schwarz, nur am Ende sieht man noch eine hellbraune Färbung.«
»Kommt das nicht einfach vom Morast?«
Der Pathologe schüttelt entschieden den Kopf. »Nein, dann würde es nicht so tief unter dem Nagel sitzen. Das ist höchstwahrscheinlich von Hand hinzugefügt.«
»Bewusst?«
»Allem Anschein nach, ja.«
»Was könnte das bedeuten? Warum sollte der Mörder das dahin getan haben?«
»Wir schicken es ins Laboratorium. Das kann ein paar Wochen dauern. Ich würde auch eine genauere Blutuntersuchung machen. Weißt du übrigens, dass der Täter im Internet schon einen Namen hat?«
»Jetzt schon?«, fragt Hanna. »Die Leiche ist gerade erst gefunden worden.«
»Es ist die Rede vom Mardi Gras-Mörder. Und dann der Vollmond . So was stachelt die Phantasie an. Sie reden vom Loop garoo.«
»Märchen interessieren mich nicht. Wenn du was hörst, ruf mich an. Niemanden sonst.«
Im Büro wird eine provisorische Zentrale eingerichtet, wo auch das erste Briefing stattfindet. Die unübersichtliche Menge an halben Fakten, Aussagen von Spinnern und unzuverlässigen Tipps von Leuten, die ihren Nachbarn oder Kollegen verdächtigen, wird aufgeteilt in sachdienlich und nicht sachdienlich. Alles, was sachdienlich ist, landet im Tagesrapport. Es werden Informationswege festgelegt, der älteste Polizist des Büros fährt Pinnwände in den Raum. Halb zwei am Mittag ist der Mord an Nathalie Underwood ein Fall mit einer eigenen Nummer geworden.
Hanna Vincennes wird vom Chief Inspector zur Chefermittlerin ernannt. Seit dem letzten Abgang von zwei herausragenden Kollegen, beide entlassen wegen Suffs, ist sie die Einzige im Büro, die Erfahrungen mit einem Fall dieses Ausmaßes hat. Sie beschließt, nicht mehr an die Gründe ihres Termins zum Mittagessen mit dem Chief zu denken. Heute wollte sie eigentlich um Versetzung bitten. Das ist es, worauf Chris und sie sich geeinigt haben. Sie würde nicht ganz bei der Polizei aufhören, aber nicht mehr als Detective arbeiten. Und jetzt kann sie nicht mehr zurück: Der Fall dieser ermordeten jungen Frau, die, wie die Kollegen meinen, ihr ähnlich sieht, erfordert auf einmal ihre ganze Aufmerksamkeit. Außerdem hat sie etwas gutzumachen.
Die übrigen Polizisten werden in Zweier-Einheiten eingeteilt. Der Chief Inspector selbst wird den Fall koordinieren - New Orleans ist eine Stadt, die ihre Probleme selbst löst.
Entlassen.
Es gibt Gescharre mit den Stühlen, nervöse Blicke machen die Runde. Vor allem Connor, ein junger Polizist mit mehr Ambition als Talent, wirkt unzufrieden über die Aufgabenverteilung. Hanna geht direkt auf ihn zu, »Gibt's Probleme?«
Er will ausweichen, aber sie versperrt ihm den Weg.
»Hör zu«, sagt er mit niedergeschlagenen Augen. »Jeder hat viel Respekt vor deinem Standing in der Dienststelle. Aber der letzte große Fall ist lange her, und wir wissen alle, wie er ausgegangen ist. Über dich wird geredet.«
»Wer redet? Und was sagen sie?«
»Die Jungs halt. Sie sagen, dass du es vielleicht nicht mehr drauf hast.«
Hanna durchforstet das System, ob in den zurückliegenden Jahren weitere Morde bei Vollmond verübt wurden. Sie sucht nach dem Alter des Opfers, dem Fundort der Leiche, der Anzahl der Messerstiche. Aber keiner der Fälle, die sie findet, gleicht dem jetzigen grundlegend.
Die weitaus meisten Morde werden mit Schusswaffen verübt und ereignen sich in großen Städten, der Sumpf ist eine Ausnahme. Ein Mord wie dieser, bei dem eine Frau so zugerichtet wird, ist in der Regel immer das Werk eines Mannes, und Hanna sieht keinen Grund zu der Annahme, dass dieser Fall eine Ausnahme darstellt. Die Pause zwischen dem ersten Messerstich und dem Todeszeitpunkt verrät Wollust. Er wollte sehen, dass sie leidet. Hanna kennt die Theorien - hinter so einem Mord stecken vermutlich pathologische Motive, Minderwertigkeits- oder Rachegefühle, vielleicht Groll auf Frauen.
Die Wahl des Opfers kann willkürlich gewesen sein, aber das ist unwahrscheinlich. Das undeutliche Autobahnfoto, aufgezeichnet von einer Überwachungskamera, das gestern auftauchte, zeigt zwei Personen in einem schwarzen Toyota Corolla. Sie sitzen ruhig nebeneinander, Nathalie Underwood auf dem Beifahrersitz, am Steuer ein Mann in Voodookostüm, um seinen Hals eine Kette mit Streichhölzern. Menschen, die einander kannten. Er wollte sie.
*
Einen Tag später wird der schwarze Toyota ausgebrannt auf einem Parkplatz im Norden der Stadt, beim South-Shore-Hafen, aufgefunden. Wie sich herausstellt, ist der Wagen in der Woche zuvor in der derselben Gegend gestohlen worden, auf dem Parkplatz eines Walmart. Die Polizei hat das Autobahnfoto inzwischen im Internet verbreitet, sie hofft auf verwertbare Reaktionen. Und natürlich spricht Hanna auch mit so vielen Mitarbeitern der Bars und Mardi Gras-Feiernden wie möglich. Aber niemand hat konkrete Hinweise: Jeder kennt natürlich jemanden, der sich als Skelett verkleidet hat, solche Voodooanzüge gibt es überall. Nathalies bescheidene Aufmachung ist gleich gar keinem aufgefallen - und Erinnerungen, die jemand möglicherweise hätte haben können, sind eingetrübt durch Gedränge oder Alkohol.
Am Ende des Nachmittags wird Hanna angerufen. Die Fingerabdrücke und Samenspuren, die auf Nathalie Underwoods Körper gefunden wurden, sind nicht in der Datenbank aller Verdächtigen früherer Verbrechen in Louisiana...
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