Schweitzer Fachinformationen
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Schwer liegt der Gurt meiner Reisetasche über meiner Schulter, deren Gewicht ich deutlich spüre. Sie ist bis zum Rand gefüllt mit den Klamotten, die ich vor etwa einem Jahr an genau dieser Stelle wahllos in sie hineingestopft habe, mitten in der Nacht, den Herzschlag bis zum Hals und mit einem tränenüberströmten Gesicht. Mein ganzes Leben, zusammengehalten von ein bisschen Stoff.
Aufmerksam schaue ich mich um und spiele dabei mit dem sichelförmigen Anhänger meiner Kette. Es ist ein seltsames Gefühl, in meinem alten Zimmer zu stehen, dabei hat sich optisch gar nicht viel verändert. Mein Bett steht immer noch an derselben Stelle unter meinem Fenster und der Schreibtisch samt Stuhl hinterm Kopfende. Der Eichenschrank gegenüber davon wird von zwei überfüllten Bücherregalen gesäumt und auch der Teppich unter meinen Füßen ist noch genauso weich wie damals. Alles wie immer und doch irgendwie neu. Vielleicht, weil es zu ordentlich ist, und man sieht, dass hier länger niemand mehr gewohnt hat.
Ich stelle die Tasche erst mal vor dem Kleiderschrank ab, gehe zum Bett und kann durch das Fenster den in der Dämmerung liegenden Garten sehen - der Feuerahorn mit seinen roten Spitzen, die Beete, der Teich, alles noch da. Dabei berühre ich die blau gemusterten Laken meines Bettes und spüre den glatten Stoff unter meinen Fingern. Meine Mutter muss sie neu bezogen haben, bevor sie mich vom Bahnhof abgeholt hat.
Ich beuge mich über die Kante des Bettes und strecke meine Hand nach dem Netzteil aus, um es mit der Steckdose zu verbinden. Sofort leuchten die vielen kleinen Lämpchen der Lichterkette, die rings um das Fenster angebracht ist. Ein Lächeln zieht meine Mundwinkel nach oben und ich atme den Geruch von zu Hause tief ein. Unzählige Male habe ich mich mit diesem Licht und einem Buch in die Kissen gekuschelt, um für ein paar Stunden in eine fremde Welt zu flüchten. Hier war immer mein Ruhepol, wo ich mich nicht fürchten musste, sondern selbst die schaurigste Geschichte vorbei war, sobald ich den Roman zuklappte. Nur um am nächsten Tag festzustellen, dass die schlimmsten Monster nicht zwischen zwei Buchdeckeln, sondern im Hier und Jetzt lauern.
Aber das war einmal. Ab sofort ist das vorbei und ich bin mehr als bereit, mein neues Kapitel zu beginnen.
Mit einem Kopfschütteln verscheuche ich die dunklen Gedanken und gehe zum Kleiderschrank, um meine Sachen einzusortieren. Als ich gerade eine Jeans über dem Arm falte, klopft es an der Tür.
»Hey, brauchst du Hilfe beim Auspacken?«
Meine Mutter steckt ihren Kopf herein und sieht mich fragend an. Ihr kurzes braunes Haar fällt ihr in die Stirn und von ihrem roten Lippenstift ist nicht mehr viel übrig. Kein Wunder, es ist schon nach neun und sie hat mich direkt nach der Arbeit abgeholt.
»Ja, gerne«, sage ich und nicke.
Sie lehnt die Tür hinter sich an, kommt zu mir und nimmt ein paar T-Shirts aus der Tasche. »Schön, dass du doch etwas früher gekommen bist«, bemerkt sie, während sie den Stoff glattstreicht.
»Ich dachte, es wäre gut, wenn ich ein paar Tage hätte, mich einzugewöhnen«, antworte ich. »Am Montag beginnt ja schon die Orientierungswoche.«
»Dann willst du hingehen?«
»Schaden kann es nicht«, sage ich so unbekümmert wie möglich, während meine Mutter sich die Hand vor den Mund hält, weil sie gähnen muss.
»Anstrengender Tag?«, vermute ich.
»Kann man wohl sagen. Nach meinem Unterricht hatte ich noch zwei Stunden Vertretung und musste zu einem Gespräch mit der Schulleitung.«
»Ich hätte doch auch mit der Bahn nach Hause fahren können«, sage ich und lege meine Tops auf einem Stapel zusammen.
»Auf keinen Fall. Selbst wenn du mitten in der Nacht angekommen wärst, hätte ich dich abgeholt«, sagt sie entschieden und ich lächle.
»Es ist schön, wieder zu Hause zu sein.«
»Das finde ich auch«, erwidert sie und verstaut die Socken in der Schublade, während ich die letzte Bluse auf einen Bügel hänge. Der Rest meiner Sachen ist längst im Waschkeller und um sie werde ich mich morgen kümmern. »So, das hätten wir.«
»Danke«, sage ich.
Wir sehen uns einen Moment an und ihre blauen Augen, die ich von ihr geerbt habe, werden schon wieder so riesig, als könnte sie nicht glauben, dass ich tatsächlich vor ihr stehe. Dann nimmt sie mich in den Arm und drück mich fest an sich. Keine Ahnung, wie oft sie das heute schon getan hat, seitdem sie mich abgeholt hat. Sanft streicht sie mir über den Kopf und ich höre sie schlucken, als sie sich von mir löst.
»An deine kurzen Haare muss ich mich erst noch gewöhnen«, sagt sie. »Und an die Kontaktlinsen.«
Sie mustert mich eingehend und ich greife nach ihrer Hand. Seitdem wir uns das letzte Mal gesehen haben, habe mich schon sehr verändert, nicht nur äußerlich.
»Wann hast du sie schneiden lassen?«, will sie wissen.
»Kurz nachdem die Ansage kam, dass mein Zug zwei Stunden Verspätung hat. Es war eine spontane Idee.«
»Und hast du das für dich gemacht oder hat es was mit ihm zu tun?«
Ihm. Sie vermeidet es immer noch, Juliens Namen auszusprechen, als würde sie damit schlafende Hunde wecken. Ich habe mir hingegen vorgenommen, keine Angst mehr davor zu haben. Es ist schließlich nur ein Name. Trotzdem kann ich nicht abstreiten, dass sie mit ihrer Vermutung nicht ganz falschliegt.
»Vielleicht ein bisschen«, gebe ich zu. »Ist schwer vorstellbar, dass er nicht mehr hier ist.«
»Aber das ist er nicht.«
»Ich weiß .«, murmle ich und zucke mit den Schultern. »Na ja, mir gefällt es. Und wenn ich es irgendwann doch blöd finde, setze ich einfach eine Mütze auf.«
Auch wenn sie versucht, es mit einem Lachen zu überspielen, entgeht mir der ernste Ausdruck in ihren Augen nicht. Anfangs war sie noch dagegen, dass ich zurück nach Hamburg komme, weil sie davon überzeugt war, ich wäre bei meinem Vater in München besser aufgehoben. Es brauchte stundenlange Telefonate, um sie davon zu überzeugen, dass es die richtige Entscheidung ist. Denn sosehr ich die Stadt im Süden auch mag, so wusste ich trotzdem jeden Tag, dass ich nicht meinetwegen da war, sondern nur aus Angst. Aber ich kann nicht mein Leben lang davor weglaufen, was geschehen ist, und zum Glück hat meine Mutter das irgendwann auch eingesehen. Trotzdem wird sie mich bestimmt im Auge behalten. Dort anknüpfen, wo wir vor einem Jahr auseinandergerissen sind, will nämlich keine von uns.
Sie drückt meine Hand und schließt mit der anderen meine noch offen stehende Schranktür. Der Tag war lang, für sie wie für mich, und vielleicht ist es am besten, es für heute einfach dabei zu belassen.
»Willst du ein bisschen allein sein?«, fragt sie.
»Nicht wirklich. Wollen wir einen Film schauen oder so?«
»Klar, wenn du willst. Ich könnte uns dazu eine Kleinigkeit zu essen machen.«
»Klingt gut. Soll ich dir helfen?«
»Das brauchst du nicht. Ruh dich ein bisschen aus und ich sag dir Bescheid, wenn es fertig ist«, weist sie mein Angebot zurück und hält an sich, mich noch ein weiteres Mal zu umarmen, deswegen mache ich es.
»Danke«, murmle ich in ihr rosa Sweatshirt und sie weiß, dass ich nicht das Essen meine oder dass sie mich abgeholt hat.
Ich sage es für alles, was sie wegen mir durchmachen musste und was noch auf uns zukommt, und weil sie mir kein einziges Mal einen Vorwurf deswegen gemacht hat. Das ist für mich nicht selbstverständlich, obwohl sie es gerne so aussehen lässt.
»Ich bin immer für dich da, Luna. Und daran wird sich nie etwas ändern. Dein Vater auch, falls du es dir anders überlegst.«
»Werde ich nicht.«
»Ich weiß.«
Sie drückt mir einen Kuss aufs Haar. An der Tür dreht sie sich noch mal zu mir um. »Und nur fürs Protokoll: Deine neue Frisur steht dir ausgezeichnet.«
Dann ist sie verschwunden und ich höre ihre Schritte auf der knarzenden Treppe leiser werden.
Immer noch lächelnd zupfe an den dunkelbraunen Haarsträhnen, die mir früher bis zur Rückenmitte gingen und jetzt nur noch knapp bis zur Schulter reichen. Sie sind Teil des Neuanfangs, auch wenn ich für diesen nicht wegziehen, sondern nach Hause zurückkehren musste. Hier gehöre ich hin, egal wie viel Überwindung es mich gekostet hat, diesen Schritt zu machen. Ich bin bereit und ein zweites Mal laufe ich nicht davon.
Ich räume die Tasche auf den Schrank, schlüpfe aus meiner Skinny Jeans und ziehe mir eine bequeme Jogginghose an. Die gut sechsstündige Zugfahrt war anstrengend und mich ein paar Minuten auf meinem Bett auszustrecken klingt verlockend. Als ich mich gerade hinlegen will, fällt mein Blick für einen Moment auf die erleuchtete Fensterbank - oder viel mehr auf einen Rahmen, der ganz rechts hinter dem Vorhang hervorlugt und mich verharren lässt. Es kommt mir fast so vor, als hätte er sich vor mir versteckt. Von meinem Platz aus wird das Licht jedoch von der Scheibe reflektiert und ich komme gar nicht umhin, ihn zu bemerken.
Zögerlich strecke ich meine Hand danach aus und ziehe ihn zu mir heran. Fast andächtig streiche ich mit den Fingern über das Foto und ziehe die Augenbrauen zusammen, als ich die Gesichter von Eli und mir betrachte, die in Regenjacken und aufgesetzten Kapuzen über irgendetwas lachen, an das ich mich jetzt nicht mehr erinnere. Ein Blick in die Vergangenheit, als ich glaubte, alles wäre wieder in Ordnung und ich könnte endlich mit dem, was passiert war, abschließen.
Langsam sinke ich auf die weiche Matratze und drücke mir die Erinnerung an die Brust,...
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