II.
Inhaltsverzeichnis So verlief denn des letzteren Entwicklung unter ganz anderen philosophischen Auspizien. Als einige Jahrzehnte nach Kant die grossen technisch-ökonomischen Umwälzungen eintraten, welche die soziale BewegungunsererTage nach sich zogen, stand Deutschland philosophisch unter dem Zeichen Hegels, später Feuerbachs und der Materialisten; von ihnen empfingen die theoretischen Vorkämpfer des modernen Proletariats ihre philosophische Bildung; Kant zählte fast zu den Vergessenen. So wurde der Sozialismus, wenigstens der politische Parteisozialismus, unter dem Banner des "Materialismus" gross, der prinzipiell im stärksten Widerspruch zu seinen Ideen steht und nur als Feldzeichen gegenüber der seichten Rhetorik eines dogmatischen Scheinidealismus einigen Wert besitzt.
1. Selbst ein Friedrich Albert Lange, der sich um die Überwindung des Materialismus nicht bloss auf erkenntnistheoretischem, sondern auch auf dem ethischen Gebiete ein so durchschlagendes Verdienst erworben hat, hielt noch "die ganze praktische Philosophie", so mächtig sie auch auf die Zeitgenossen gewirkt habe, für den "wandelbaren und vergänglichen Teil der Kantschen Philosophie" (Gesch. d. Mat. ed. Cohen 1887, S. 356). Er ist zwar der erste "Kantianer" oder vielmehr der erste von dem kritischen Idealismus nachhaltig beeinflusste Philosoph der neueren Zeit, der sozialistisch gedacht hat, aber die Verbindung zwischen seinem "Kantianismus" und seinem "Sozialismus" ist keineswegs eine systematische; sie bestand vielmehr nur in seiner edlen, vom reinsten ethischen Idealismus erfüllten Persönlichkeit. Seine "Arbeiterfrage" knüpft zur Begründung seiner sozialethischen Anschauungen an den Kritizismus nicht an; sie polemisiert, im Gegenteil, gegen Kants Rechtsbegriff und seine Ableitung des Eigentumsrechts (4. Auflage S. 268 ff.), die insbesondere, wenn man ihm "bis in die Begründung des individuellen Eigentumsrechts hinein" folge (S. 271), zu einer offenbaren petitio principii werde.
2. Der erste Kantianer vielmehr, der offen auf die grundlegende Bedeutung der Kantischen Ethik für die Fundamentierung des Sozialismus hingewiesen hat, ist der Führende unter den heutigen Neukantianern, Hermann Cohen in Marburg. Bereits sein vor dreiundzwanzig Jahren geschriebenes Buch "Kants Begründung der Ethik" (Berlin, Dümmler, 1877) mündete in den Gedanken aus, dass Kants höchstes Gut, wie schon Sehleiermacher bemerkt habe, im Grunde ein politisches sei (328). Der moderne Hiob frage nicht mehr, "ob der Mensch überhaupt mehr Sonnenschein als Regen habe, sondern ob der eine Mensch mehr leide als sein Nächster; und ob in der austeilenden Lust-Gerechtigkeit der berechenbare Zusammenhang bestehe, dass ein Mehr an Lust für das eine Mitglied im Reiche der Sitten das Minder des anderen zum logischen Schicksal macht" (327 J. Jenes höchste Gut brauche aber nicht mehr, wie von Kant geschehen, besonders "postuliert" zu werden. Es sei bereits gegeben in der ,,vor keiner Thatsache der sogenannten Erfahrung zuriiekschreekenden" Idee eines Reichs der Zwecke als regulativer Maxime, die dazu da ist, den "Erfahrungsgebrauch", dessen kausale Bedingtheit umzustossen sie durchaus nicht beansprucht, zu regeln, "nach der Idee der Menschheit den Menschen umzusehaffen" (246). Darin besteht die objektivpraktische Realität des Sittengesetzes. Und so bezeuge und bewähre sieh Kants "in ihrer Grundlegung auf anthropologische Gelehrsamkeit verzichtende Ethik in ihrer Begründung als Anthroponomie" (328).
In dem biographischen Vorwort (von 1881) zu F. A. Langes Geschichte des Materialismus (S. XIII) wird dessen gleichzeitiges Verhältnis zu Kant und dem Sozialismus nur kurz gestreift. Indem Lange seinen Standpunkt gegenüber Strauss und Überweg einnehme, von denen der erste den Sozialismus gehasst, der andere ihn ignoriert habe, habe er die ethische Frage "an ihrer lebendigen ehrlichen Wurzel zu ergreifen verstanden", und "das vor allem, mache ihn ,,zu einem Apostel der Kantischen Weltanschauung".
Am unumwundensten aber hat sich Cohen in seiner "Einleitung mit kritischem Nachtrag" zur fünften Auflage desselben Werkes (1896) Uber unser Thema geäussert. Wir haben diesen leider noch nicht seinem vollen Werte nach beachteten Nachtrag bereits im ersten Bande der "Kantstudien" (S. 268-272) besprochen und machen hier nur auf die unser Spezialthema berührenden Gedanken, in etwas anderer Verbindung und grösserer Ausführlichkeit, nochmals aufmerksam. Indem er sich entschieden gegen das "Vorurteil einer naturalistischen Begründung" des Sozialismus wendet, dem auch Lange in seiner vom Darwinismus erfüllten Zeit nicht widerstanden habe, erklärt Cohen kurz und bündig: "Der Sozialismus ist im Recht, sofern er im Idealismus der Ethik gegründet ist. Und der Idealismus der Ethik hat ihn begründet." Somit ist Kant "der wahre und wirkliche Urheber des deutschen Sozialismus" (S. LXV). Es folgt dann dieselbe Ableitung des sozialistischen Grundgedankens aus Kants kategorischem Imperativ, die wir oben gegeben haben, der sich ein kurzer historischer Rückblick auf die Entwicklung der schon von den Stoikern und den Naturrechtlern des 17. und 18. Jahrhunderts vertretenen Idee der societas humana, der menschlichen Gesellschaft anschliesst. Freilich dürfe uns nicht mehr die "Natur" Rousseaus und die als die blosse Summe der Individuen gefasste Gesellschaft Bürgin des Ideals sein, sondern die Idee der Gesellschaft, als "Ordnungs- und Leitbegriff der Individuen" (S. LXVII).
Für die seit Langes Tod verflossenen zweiundeiuhalb Jahrzehnte glaubt Cohen einen "Riesenfortschritt" in der "Anerkennung des ökonomisch -juristischen Rechts des Sozialismus im Bewusstsein der allgemeinen Bildung" konstatieren zu dürfen. "Heute wehrt sich kein Unverstand mehr gegen den "guten Kern" der sozialen Frage, sondern nur noch der böse oder der nicht zureichend gute Wille". Nur der "idealfeindliche Egoismus, der der wahre Materialismus ist", versagt dieser "Wahrheit des öffentlichen Bewusstseins", die freilich noch ein "öffentliches Geheimnis" ist, den Glauben und pocht auf das geschriebene oder gar "im Dienste seiner Interessen eiligst umzuschreibende" Recht, auf die "verbrieften Privilegien der Stände" (S. LXVII f.).
Wie entschieden nun auch der Marburger Philosoph die Idee des Sozialismus anerkennt, so hat er doch an den "dermaligen politischen Sozialismus" verschiedene sehr gewichtige Forderungen zu stellen: 1. Als Fundament muss der Materialismus nicht nur "zeitweise ab-geschüttelt", sondern "radikal aufgegeben" werden. 2. Als Krönung seines Gebäudes darf, wie die Ethik, so auch der Sozialismus die Gottesidee nicht abweisen, die freilich bei Cohen nichts anderes als den Glauben an die Macht des Guten, die Hoffnung auf die Verwirklichung der gerechten Sache bedeutet. 3. Gegenüber einer rein realistischen Auffassung des Begriffs der Gesellschaft und gegenüber der materiellen Wirtschafts-Genossenschaft müssen Recht und Staat, als Ideen, Ehrfurcht fordern und finden; denn, wie keine Freiheit ohne Gesetz, so kann ohne die im Gesetz bestehende Gemeinschaft keine freie Persönlichkeit, keine wirkliche Gemeinschaft moralischer Wesen bestehen. Mit der Anerkennung der, notwendigerweise mangelhaften, bestehenden Rechts- und Staatsordnung kann sich gleichwohl der schärfste Blick für ihre Gebrechen, die tiefste Glut für deren gründliche Heilung verbinden. Die Vereinigung beider Bedingungen hat von jeher den "grossen, wahrhaft revolutionären Umschwung", nämlich den stetigen geschichtlichen Fortschritt verbürgt. Endlich ist 4. mit der Idee der Menschheit (menschlichen Gesellschaft) die Idee des Volkes (der Nationalität) zu verbinden, indem wir jene, die wir ehren und achten in diesem, das wir lieben, zu verwirklichen streben. Die Volksidee, wie z. B. ein Fichte sie gelehrt, vertritt zugleich "den bevorrechteten Ständen gegenüber die Idee der Menschheit im eigenen Volke" (S. LXXV). "Eine Nation, die für Reich und Arm verschiedene Schulen hat . . . mag auf dem Wege zur Nation sein; ein Volk ist sie nicht" (ebd.). So "erschafft die Idee der Gesellschaft die wahre Einheit des Volkes auf dem Grunde der Kultur des Geistes". In diesem Sinne für die Realisierung der Volksidee zu wirken, ist "der Inbegriff der Aufgaben des Idealismus" (S. LXXVI).
3. Noch etwas vor Cohens letztgenannter Schrift erschien das grundlegende Buch von Rudolf Stammler (Halle): "Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung. Eine sozialphilosophische Untersuchung" (Leipzig, Veit, 1896). Gab Cohen mehr eine "expektorative Darlegung" seines sozialethischen Denkens, so enthält dagegen Stammlers Werk eine ausgeführte systematische Begründung des sozialen Idealismus. Da wir seinerzeit das Buch Stammlers unter dem Titel "eine Sozialphilosophie auf Rantischer Grundlage" in den "Kantstudien" (I,197-216) eingehend besprochen haben, so begnügen wir uns an dieser Stelle mit einer Hervorhebung der Hauptgesichtspunkte: Stammler fasst seine Aufgabe, ganz im Sinne Kantischer Methode und mit Berufung auf sie, rein erkenntniskritisch. Psychologie, Naturwissenschaft, Nationalökonomie, Jurisprudenz werden in reichem Masse herangezogen, aber methodisch nur als Hilfstruppen betrachtet; gegenüber Dogmatismus und Skeptizismus, gegenüber der psychologischen und genetischen Betrachtungsweise, gegenüber Materialismus und Spiritualismus wird der "kritisch gesuchte und methodisch eingeleitete" Standpunkt des wissenschaftlichen Idealismus vertreten. Seine Kernfrage lautet nicht etwa: Wie ist soziales Leben entstanden? sondern: Unter welcher formalen Bedingung ist soziales Leben als ein eigener Gegenstand unserer...