Schweitzer Fachinformationen
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Neun Stunden später, es war mittlerweile dunkel geworden und der Wind drückte in Intervallen feinen Herbstregen gegen die Panoramascheibe des Konferenzzimmers, hatte Nyström das Team zu einer späten Lagebesprechung zusammengerufen. Irgendjemand hatte zwei Tüten Chips und einige Flaschen Cola besorgt und auf dem großen ovalen Tisch bereitgestellt. Dort saßen Hugo Delgado, Anette Hultin, der bärtige, beleibte Lars »Lasse« Knutsson, der junge Göran Lindholm, der erst seit einem knappen Jahr fertig ausgebildeter Polizist war und nun neben seiner halben Stelle einen Universitätskurs in Kriminologie besuchte, um seine Chancen auf eine feste Stelle in Växjö zu optimieren. Ann-Vivika Kimsel und Bo Örkenrud, der noch immer seinen rustikalen Arbeitsoverall aus Baumwolle trug; seine Gummistiefel mit Profilsohle hatten eine Spur aus Erd- und Matschkrümeln hinterlassen, die sich einmal quer durch den Raum zog. Ein starker modriger Geruch ging von ihm aus, was ihn aber nicht sonderlich zu stören schien. Und Stina Forss. Die kleine, zierliche Deutschschwedin zupfte wie so oft gedankenverloren in ihrem rotbraunen Lockenwust herum und nagte an ihrer Unterlippe. Trotz ihres leicht hängenden linken Augenlids, das ihrem Gesicht eine irritierende Asymmetrie verlieh, wirkte die junge Frau nicht unattraktiv. In Momenten wie diesen hatte sie beinahe etwas Elfenhaftes an sich. Ein friedliches, ein filigranes Fabelwesen. Doch Nyström wusste, wie sehr dieser Eindruck trog. Örkenruds Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
»Es hat mehr als fünf Stunden gedauert, diesen Wassergraben leer zu pumpen, trotz der Hilfe der Feuerwehr. Zum Glück ist ja der See gleich einige Meter weiter, sonst hätten wir gar nicht gewusst, wohin mit all dem Wasser. Aber die Plackerei hat sich gelohnt, wir konnten beinahe alle Teile des skelettierten Leichnams bergen, einschließlich der Kleidung, beziehungsweise dem, was davon übrig geblieben ist. Und noch ein besonderes Bonbon dazu.«
»Ein Bonbon?«, wunderte sich der junge Lindholm.
Örkenrud lächelte kurz - eine Kunstpause, dann legte er etwas auf den Tisch, etwas Kleines, Hartes.
»Das Projektil?«, fragte Nyström.
»Zumindest ein Projektil«, sagte er. »Wobei ich nicht glaube, dass es sich um die Kugel handelt, die für die Kopfverletzung verantwortlich war. Der Schädel hatte schließlich eine Austrittswunde, deshalb fürchte ich, dass das entsprechende Projektil für immer verschwunden ist - zumindest wenn wir davon ausgehen, dass unser Mister X nicht in dem Wasserhindernis erschossen wurde, wofür sehr vieles spricht, wie ich gleich ausführen werde. Nein, diese Kugel hier hat vermutlich im Körper des Toten gesteckt, bis sie die natürlichen Zersetzungs- und Verwesungsprozesse wieder ans Tageslicht gebracht haben. Milliarden Bakterien, Würmer und Kleinstlebewesen .«
»Mir wird gleich schlecht«, flüsterte Hultin.
»Tu dir keinen Zwang an«, stichelte Delgado und griff beherzt in die Chipstüte.
»Dazu würde die unnatürliche Absplitterung passen, die ich unter den verwesten Fleischresten an einem der Rippenbögen gefunden habe«, sagte Kimsel und blätterte in ihren Unterlagen.
Delgado ließ eine Handvoll Chips geräuschvoll im Mund zerknacken. Hultin wurde blasser.
»Zwei Projektile also, mindestens. Einen Kopfschuss und einen in den Oberkörper«, fasste Forss zusammen.
»Das klingt ja wie eine Hinrichtung«, brummte Lars Knutsson.
»Kannst du schon etwas zur Munition sagen?«, fragte Nyström.
»Yep«, machte Örkenrud und lehnte sich so weit in seinem Stuhl zurück, dass die Lehne unter dem Gewicht des ehemaligen Eishockeyverteidigers ächzte. »Und da wird es interessant. Dieses Bonbon hier auf dem Tisch ist 9.2 x 18- Millimeter-Munition, auch Makarow genannt, passend zur gleichnamigen Pistole. Das war die Standardwaffe der Sowjetarmee und ist heute noch in vielen Ländern Osteuropas weitverbreitet, als offizielle Polizeiwaffe und natürlich auch bei vielen Kriminellen dort drüben.«
»Etwa die Russenmafia?«, fragte Lindholm und fasste sich an seine modische, überdimensionierte Hornbrille.
»Zum Beispiel.«
»Klischee-Alarm!«, rief Delgado dazwischen. »Zehn Kronen in die Kaffeekasse, alle beide!«
»Was hat die Russenmafia auf unserem Golfplatz zu suchen?«, fragte Knutsson.
»Schon dreißig Kronen!«
»Das ist der nächste Punkt .« Örkenrud ignorierte Delgados Gequake.
»Moment«, warf Kimsel ein. »Wo du das gerade mit Osteuropa sagst - das würde zu der seltsamen Zahnsituation des Toten passen.«
»Was ist denn eine Zahnsituation?«, fragte Knutsson.
»Na ja, lass es mich so ausdrücken - der Kerl hatte eine regelrechte Batterie im Mund, so viele verschiedene Metalle waren da verbaut. Würde mich nicht wundern, wenn er mit offenem Mund Radioempfang gehabt hätte: Füllungen aus verschiedenen Amalgamen, Goldkronen, aber auch grauenhafte Stahlprothesen. Bei uns würde ein Zahnarzt für eine solche Arbeit ins Gefängnis wandern, im ehemaligen Ostblock waren solche Mischbehandlungen jedoch gang und gäbe. Und was das Alter des Mannes angeht: Vom Zustand der Zähne und der Knochen würde ich sagen, zwischen vierzig und fünfzig. Linköping kann uns mit Sicherheit Genaueres sagen, das wird allerdings erfahrungsgemäß eine ganze Weile dauern.«
»Ein Russe mittleren Alters auf dem Golfplatz«, sinnierte Knutsson. In seinem Bart hingen Chipskrümel.
»Er muss ja nicht unbedingt Russe gewesen sein. Möglicherweise war er auch Lette, Bulgare oder Tschetschene«, entgegnete Kimsel.
»Genau«, sagte Delgado. »Das sind dann noch mal zehn Kronen von dir, Lasse.«
»Außerdem war der Kerl selbst höchstwahrscheinlich gar nicht auf dem Golfplatz.«
Örkenrud nahm den verlorenen Faden wieder auf. »Lebendig, meine ich. Der ist dort unter dem Wasserhindernis begraben worden.«
»Unter dem Wasserhindernis? Du meinst im Wasserhindernis.«
»Nein. Unter. Das ist ja das Bemerkenswerte. Also: Vergangene Woche haben in dem Wassergraben Ausbaggerungen stattgefunden, um der Verschlickung Herr zu werden, dabei hat es der Baggerführer aber wohl übertrieben und zu tief gegraben, sodass der Grund des Grabens beschädigt wurde, eine dicke Teichfolie und eine Betonverschalung. Stand sogar in der Zeitung, das Malheur. Sachschaden 40.000 Kronen, schreibt Smålandsposten. Als wir das Wasser abgepumpt hatten, konnte man den Schaden ziemlich gut sehen. Der Leichnam hat unter der Folie und unter der Betonschale gelegen, und zwar eingewickelt in ein Tuch oder ein Laken oder so etwas Ähnliches. Sonst wäre er bestimmt auch schon früher gefunden worden, schließlich kommt dort zweimal im Jahr dieser Golfballtaucher vorbei, der heute morgen den Totenschädel ans Licht gebracht hat. Der arme Kerl! Jemand muss den Leichnam begraben haben, als sich das Wasserhindernis auf Bahn Nummer sieben im Bau befand.«
»Und wann war das?«, fragte Nyström.
Forss blätterte in ihren Notizen.
»Ziemlich genau vor zwanzig Jahren. Im Herbst 1994. Steht so in der Vereinschronik und der stellvertretende Vorsitzende des Clubs konnte das bestätigen.«
»Passt zu den Schuhen«, sagte Delgado. »Nike Air Max Classic BW heißt das Modell. Habe ich im Internet gefunden. Die wurden Anfang der Neunzigerjahre hergestellt, damals sehr teure Laufschuhe.«
»Der Rest der Kleidung ist auf den ersten Blick nicht besonders aussagekräftig«, merkte Örkenrud an. »Vermoderte Jeans, ein Sweatshirt, Baumwollunterwäsche. Die genauen Laborberichte stehen natürlich noch aus, mal abwarten, was da noch kommt.«
»Danke, Bo.«
Nyström räusperte sich und wartete, bis sie die Aufmerksamkeit aller hatte.
»Im Herbst 1994 wird ein vierzigbis fünfzigjähriger Mann, möglicherweise Osteuropäer, mit einer Waffe aus der Produktion der ehemaligen Sowjetunion erschossen und auf unserem Golfplatz begraben. Wem fällt dazu etwas Sinnvolles ein?«
»Sag ich doch, Russenmafia«, grunzte Knutsson und trank von seiner Cola.
»Rrring!« Delgado imitierte das Geräusch einer klingelnden Kasse.
»Du hast da was im Bart kleben, Lasse«, merkte Lindholm an.
»Organisierte Kriminalität, etwas Besseres fällt mir ehrlich gesagt auch nicht ein«, sagte Hultin.
»Rrring!«
»Wir hatten damals in den ersten Jahren nach dem Zusammenbruch des Ostblocks tatsächlich eine Menge Ärger hier«, sagte Nyström. »Alkoholschmuggel war natürlich ein Thema. Und ich erinnere mich an eine litauische Einbrecherbande. Aber ein Mord? Wir müssen auf jeden Fall die Archive aus dem Herbst 1994 sorgfältig durchgehen.«
»Wir sollten auch das Bauunternehmen überprüfen, die damals die Arbeiten an diesem Wasserhindernis auf dem Golfplatz gemacht haben, das Graben und das Ausgießen mit Beton, meine ich. Die Mitarbeiter waren ja wohl diejenigen, die am ehesten Zugang zu der Baustelle hatten«, merkte Forss an.
»Gute Idee«, sagte Nyström. »Aber dann müssten wir den Kreis noch größer ziehen: die damaligen Angestellten des Golfclubs, eigentlich sogar alle, die zu der Zeit Mitglieder waren.«
»Puh«, machte Knutsson. »Das sind ganz schön viele. Zum Glück war Golfen in den Neunzigern noch nicht so ein Volkssport wie heute. Erinnert ihr euch noch an den Ausdruck Moderathockey?«
»Moderathockey?«, fragte...
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