Schweden, heute
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Wie ein Raumschiff schwebte der Bahnhof von Växjö in der feuchten Kälte des späten Februarnachmittags. Scheinwerferkegel hoben das holzverkleidete Gebäude aus der Dämmerung, und nur eine Treppe aus Beton, die vom Bahnhofsvorplatz auf den Gleisübergang führte, schien den halbrunden, ufoförmigen Bau am Abheben zu hindern. Vor der Treppe stand Stina Forss und sah über den unwirtlichen Bahnhofsvorplatz hinweg in eine menschenleere Fußgängerzone. Außer ihr waren lediglich drei andere Reisende dem Zug entstiegen, vermummte Gestalten, die schnell in verschiedene Richtungen verschwunden waren. Sie fror und vergrub ihre Hände tiefer in den Taschen ihres Lodenmantels.
Die zweitägige Zugreise von Berlin über Fehmarn durch Dänemark bis in die südschwedische Stadt Växjö war eine einzige Aneinanderreihung von Ärgernissen gewesen: Um den Fehmarnsund zwischen Deutschland und Dänemark zu überqueren, war der gesamte Zug auf eine Fähre gefahren, wo alle Passagiere hatten aussteigen müssen. Auf dem Deck war es viel zu kalt und zu windig gewesen, und sie war in den Duty-free-Shop gegangen, wo sie sich Parfüm und eine Flasche Wodka gekauft hatte. Alkohol war in Schweden teuer. Dann hatte sie einen Kaffee getrunken, einen Hotdog gegessen und war eingenickt. Als ein Lautsprecher plötzlich die Passagiere zurück in den Zug beordert hatte, war sie hochgeschreckt und zurück an ihren Platz geeilt. Ihre Handtasche, in der sich auch ihr Handy befand, hatte sie dabei unter dem Tisch des Bordrestaurants stehen lassen. Obendrein war es wegen der stürmischen See zu einer Verspätung gekommen, sodass der Anschlusszug in Kopenhagen ohne sie losgefahren war. Also hatte sie eine Stunde in einem McDonald's verbracht, auf den nächsten Zug gewartet und mit dem Ketchup Muster auf den Tisch gemalt, bis sie von einer Angestellten gebeten worden war, das Restaurant zu verlassen. Wenn man aus einem McDonald's geworfen wird, kann es kaum mehr schlimmer kommen, hatte sie gedacht. Als sie endlich mit dem nächsten Zug den Öresund überquert und Schweden erreicht hatte, war es bereits spät am Abend gewesen. Zu allem Überfluss hatte der Zug wegen eines technischen Defekts in Malmö ausgesetzt werden müssen, und ein Bahnangestellter hatte ihr seelenruhig erklärt, dass damit die letzte Verbindung Richtung Växjö ersatzlos gestrichen worden war. Notgedrungen hatte sie also die Nacht in einem Hotel in Bahnhofsnähe verbracht, lange geschlafen und war erst am Mittag weitergefahren. Nun war sie endlich an ihrem Ziel angekommen, aber wo zum Teufel war sie hier nur gelandet?
Sie trat mit ihrem Rollkoffer auf den Bahnhofsvorplatz hinaus. In einem Ständer rosteten einige verlassene Fahrräder vor sich hin, bei einem war der Bezug des Sattels aufgeplatzt, sodass die Schaumstofffüllung herausquoll. Um den Bahnhof herum befanden sich ein Postgebäude, ein Restaurant, ein Fahrrad- und ein Hifi-Geschäft, in keinem der Fenster brannte Licht. Es kam ihr vor, als befände sich die Stadt in einem Winterschlaf, in einer Art kollektiver Kältestarre, deren Sinn sie angesichts des anhaltenden Schneeregens nicht einen Moment infrage stellte. Das einzige Anzeichen von Leben war ein VW-Taxibus mit beschlagenen Scheiben, der in einer Haltebucht stand und im Leerlauf vor sich hin tuckerte. Noch nicht einmal ein Volvo, dachte sie. War das hier wirklich noch das Land, in dem sie aufgewachsen war? Ihr Schweden sah anders aus als ein vergessener Bahnhof an einem Sonntagnachmittag im Winter. Ihr Schweden war warm und sonnig und roch nach Kiefernharz und Walderdbeeren. Arme Stina, hier hast du deinen Wald. Gleich hinter dem Bahnhof fängt er an. Er ist nass und kalt und riesengroß. Und irgendwo da drin wohnt Pipi Langstrumpf mit ihrem Pferd und dem dummen Affen und bekommt eine Blasenentzündung.
Hatte sie die richtige Entscheidung getroffen? Oder war das alles falsch? Eine übereilte Flucht? Oder, noch schlimmer, eine sentimentale Dummheit? Die Kälte schüttelte sie. Trotzdem entschied sie sich gegen das Taxi und machte sich zu Fuß auf den Weg durch die Fußgängerzone.
Das Hotel, das sie von Berlin aus gebucht hatte, lag ihrem zukünftigen Arbeitsplatz direkt gegenüber. Es machte einen nüchternen Eindruck. Der Mann an der Rezeption betrachtete ihren Personalausweis. Sein Blick verriet, dass er die deutschen Papiere mit ihrem akzentfreien Schwedisch in Einklang zu bringen versuchte. Er selbst hatte einen nordschwedischen Zungenschlag. Als er ihre Anschrift in den Computer eingab, wurde ihr bewusst, dass die Adresse bereits nicht mehr stimmte. Berlin lag hinter ihr. Bis auf Weiteres war dieses Hotel ihr Zuhause. Der Mann reichte ihr den Zimmerschlüssel.
»Willkommen, Stina Forss!«
Fosch hatte er gesagt. Wie Frosch ohne r. Irgendwie klang es schwedisch ausgesprochen viel kraftvoller als auf Deutsch: Fosch. Ein Name wie ein Wasserschwall.
Sie hatte vorher nie darüber nachgedacht.
Im Zimmer packte sie ihre Sachen aus; ein weiterer, größerer Koffer würde in den nächsten Tagen mit der Post kommen, ebenso ihre Handtasche, das hatte ihr eine Mitarbeiterin der Fährgesellschaft zumindest am Telefon versichert. Dann rief sie ihre Cousine Maj an, die mit ihrer Familie unweit von Växjö auf dem Land wohnte. Sie hatte versprochen, sich nach ihrer Ankunft zu melden. Sie fand Majs Nummer in dem Telefonbuch, das auf ihrem Nachttisch lag. Maj war auch einmal eine Fosch gewesen, doch nun war sie seit Langem verheiratet und hieß Lundin.
Ihre Cousine freute sich, von ihr zu hören. Sie hatten sich zum letzten Mal vor drei Jahren auf einer Geburtstagsfeier getroffen. Forss schlug ein gemeinsames Abendessen in der Stadt vor. Maj lachte.
»Wir haben Sonntag!«
»Ja, eben. Bring doch die Kinder mit. Und Mathias möchte ich natürlich auch treffen.«
»Aber sonntags hat doch in Växjö kein Restaurant geöffnet.«
Die Lundins wohnten in Moheda, einem Dorf, das eine knappe halbe Stunde Autofahrt nordwestlich von Växjö lag. Die Straße zog sich wie eine nasse Schnur durch Nadelwald, einmal schimmerte rechts der Fahrbahn die Eisfläche eines großen Gewässers in der Abenddämmerung.
»Das ist der Helgasee«, sagte Maj. »Im Sommer haben wir da ein Motorboot liegen. Du musst unbedingt mit uns hinauskommen! Wenn du willst, kannst du Wasserski fahren. Die Kinder lieben es.«
Maj lachte. Sie lachte oft, fand Forss. Bestimmt war sie eine fröhliche Mutter und eine gute Krankenschwester. Alles an der kräftigen Frau strahlte Lebensmut und Pragmatismus aus.
»Und du fährst die Strecke in die Stadt jeden Tag mit dem Auto?«
»Wir beide. Mathias muss ins Büro und ich ins Hospital. Wer nicht gerne Auto fährt, bekommt hier Probleme. Natürlich gibt es einen Bus, aber der fährt nicht häufig und ist im Winter oft unpünktlich. Mit dem Auto muss man allerdings aufpassen, gerade auf der Landstraße, wegen der Elche und anderer Tiere. Berlin ist ja ebenfalls nicht gerade klein, dort warst du bestimmt auch viel von A nach B unterwegs, oder?«
So hatte es Forss noch nie betrachtet.
»Man fährt schon lange Strecken«, sagte sie.
Lea und Tuva hatten die gleichen braunen Zöpfe und trugen die gleichen rosafarbenen Plastikclogs wie ihre Mutter. Mathias Lundin war ein dünner Mann mit festem Händedruck. Sie hatte ihn auf Familienfesten getroffen, damals mit langem Haar, eine Ewigkeit schien das her zu sein, jetzt trug er sein Haar kurz, was seine hohe Stirn betonte. Maj hatte Brot aufgedeckt, Butter und Käse, ein Abendessen wie aus Bullerbü, dachte sie, es steckte sogar ein kleines Holzmesserchen in der Butter. Zum Nachtisch gab es eingelegte Pflaumen mit Vanillesoße.
»Du machst das alles für ihn, oder?«
Maj sah sie an. Obwohl Forss auf die Frage gewartet hatte, fiel es ihr schwer zu antworten. Sie stach mit ihrem Löffel in eine Pflaume. Das Fruchtfleisch war ganz weich.
»Stina, es ist gut, dass du kommst, dass du das alles auf dich nimmst. Deine Nähe wird ihm guttun. Er hat dich vermisst, weißt du? Und jetzt mit der Krankheit wird es auch nicht gerade leichter für ihn.«
Forss spürte, wie sich etwas in ihr spannte.
»Wann warst du denn bei ihm?«
»Das letzte Mal vor zwei Wochen. Er ist in einer guten Einrichtung. Man kümmert sich. Aber trotzdem. Er . Er hat sich verändert. Und er verändert sich noch.«
Forss sah, dass eine Fliege auf der Schüssel mit den Pflaumen gelandet war. Dabei war doch Februar. Mathias hatte ihren Blick bemerkt. Mit einer Handbewegung scheuchte er das Insekt weg.
»Der Nachbar, er hat Kühe. Sie locken die Fliegen an.«
Es klang wie eine Entschuldigung.
»Wir haben dem Großonkel etwas gebastelt«, sagte Lea. Sie war das ältere der beiden Mädchen. »Einen Traumfänger. Der hängt jetzt im Krankenhaus an der Wand neben seinem Bett.«
»Wie bei einem alten Indianer«, sagte Tuva. »Wenn du willst, machen wir dir auch einen.«
Später saßen sie im Wohnzimmer, die Kinder hatten sich in ihre Zimmer zurückgezogen. Maj goss ihnen Tee in große, bunte Becher ein. Forss sah sich um.
»Schön habt ihr es hier. Das ganze Holz. Und so viel Platz.«
»Das ist der Vorteil, wenn man auf dem Land lebt. Warte erst auf den Sommer. Dann ist Schweden ein anderes Land.«
»Wenigstens für eine Woche«, sagte Mathias.
Sie lachten. Dann sprachen sie über...