Dienstag, 14. Oktober
1
Obwohl Stina Forss so schnell gefahren war, wie es ihr Polo hergegeben hatte, war es bereits nach Mitternacht, als sie das Krankenhaus in Ljungby erreichte, das direkt neben dem Pflegeheim lag, in dem ihr Vater lebte. Sie stellte den Wagen ab, stieg aus und eilte über den Parkplatz. Hinter den doppelten automatischen Schiebetüren traf sie der Geruch von Alter stärker als sonst: menschliche Ausscheidungen, Putzmittel, Fencheltee. Diese Doppeltüren sind wie eine Schleuse, dachte sie, draußen ist das Leben und hier drinnen wartet der Tod. Ihre Schritte verlangsamten sich, ihr Herz klopfte. Sie wollte sofort zu ihrem Vater und gleichzeitig wollte sie ganz weit weg sein.
»Ein heftiger Schlaganfall«, sagte der Arzt, ein müde wirkender, junger Mann. »Seine Situation ist nun stabil, allerdings ist er momentan halbseitig gelähmt, auch das Sprachzentrum ist betroffen. Selbstverständlich haben wir sofort alle nötigen Gegenmaßnahmen eingeleitet, er bekommt wie in solchen Fällen üblich Blutgerinnsel auflösende Mittel, aber wie erfolgreich seine Rekonvaleszenz sein wird, ist bei der massiven Vorerkrankung natürlich völlig offen.«
»Ich möchte zu ihm.«
»Gerade schläft er. Die Pflegerin kann dich trotzdem für einen Augenblick zu ihm lassen.«
Mit einem flüchtigen Händedruck verabschiedete sich der Arzt. Eine Krankenpflegerin führte sie den Flur hinab, in einen Gebäudeflügel, den sie von ihren vorherigen Besuchen nicht kannte.
»Ich gebe dir zwei Minuten«, sagte die Schwester. »Und versuche bitte, ihn nicht zu wecken. Er braucht nun jede Erholung, die er bekommen kann. Nimm dir dort bitte einen Kittel und einen Mundschutz.«
Forss befolgte wortlos die Anweisungen. Dann betrat sie die Intensivstation. Es standen zwei Betten in dem Raum, nur eins war belegt. Vorsichtig trat sie näher. Ihr Vater lag da wie eine Puppe aus Holz. Sein Kopf wirkte so groß auf dem ausgemergelten Körper, der einmal so stark und voller Leben gewesen war, der Körper eines Soldaten, eines stolzen Offiziers. Seine Haut war ohne Farbe, wie Recyclingpapier, dachte sie. Feucht klebten die wenigen Haarsträhnen, die ihm geblieben waren, an seinem kantigen Schädel. Sein Mund stand offen, Speichel rann ihm über die Wange, die rotbraunen Bartstoppeln glänzten nass, auf dem Bezug des Kopfkissens hatte sich bereits ein Fleck gebildet. Er muss rasiert werden, dachte sie. Warum rasierte ihn denn niemand? Ein Gerät, das an einem Ständer neben dem Bett befestigt war, piepte regelmäßig. In seinem Arm steckten dünne Schläuche, an seinem linken Zeigefinger klemmte eine Sonde, die den Sauerstoffgehalt des Blutes maß. Dein Blut, Papa. Etwas davon fließt auch in meinen Adern, dachte sie, trotz allem. Sie griff seine rechte Hand. Die Haut war rau. Warum hast du sie gegen uns erhoben? Warum hast du Mama und mir das angetan? Was ist nur falsch gelaufen in deinem Leben, dass alles so schlimm enden musste? Du warst doch so ein guter Vater, als ich klein war, ein so guter Mann. Warum ging dann alles den Bach hinunter?
Das waren die Fragen, die sie ihm stellen musste, aber auch nach mehr als eineinhalb Jahren in seiner Nähe nicht über die Lippen gebracht hatte. Sie waren wie ein Graben zwischen Vater und Tochter. Die Nettigkeiten, die sie miteinander austauschten, kamen nie richtig an, sondern blieben in dem Graben stecken. Wie zu kurz geschlagene Golfbälle, dachte sie. Dabei wusste sie genau, dass sie nicht nach Schweden gekommen war, um ihren todkranken Vater zu pflegen, sondern um Antworten zu bekommen. Antworten, die für ihr Leben notwendig waren. Einen von Krankheit gezeichneten Mann mit seinen Sünden zu konfrontieren, war allerdings etwas, das sie nicht fertigbrachte. Für ein solches Gespräch fehlte ihr der Mut, immer noch.
Die Edelstahlrohre des Krankenbettes spiegelten ihr schiefes Gesicht unter den rotbraunen Locken. Ihr hängendes Augenlid. Die Tränen liefen ihre Wangen hinab und über die Narben auf ihren Hals. Sie musste an den Tag denken, an dem sie entstanden waren. Die Tränen und die Narben. Der Tag vor achtundzwanzig Jahren, an dem ihr Leben explodiert war. Nach dem nichts mehr war wie vorher und auch nie wieder so sein sollte. Sie ließ die Hand ihres Vaters los. Die Erinnerung war zu schmerzhaft. Plötzlich war die Wut da. Dann stirb doch, dachte sie, verreck doch endlich und lass mich in Frieden!
Erst als sie draußen vor den Schiebetüren war und die Herbstluft ihre glühenden Wangen kühlte, bemerkte sie, dass sie immer noch den Einmalkittel und den Mundschutz trug. Sie riss sich beides ab und stopfte die Sachen in einen Mülleimer. Dann zog sie ihren Mantel an, den sie über den Arm gelegt hatte. Die Kiefern, die den Parkplatz der Einrichtung umrahmten, ächzten im Wind. An der Bordsteinkante, nicht weit von ihrem Auto, lag eine tote Elster mit zerdrücktem Kopf.
2
Die Baufirma Lund Construction AB hatte ihren Sitz im Industriegebiet am südwestlichen Stadtrand. Anette Hultin und Göran Lindholm trafen die Chefin persönlich an. Pia Lund war eine stark übergewichtige Frau mit langen weiß lackierten Fingernägeln, die einen mit grellen Farben bedruckten, afrikanisch anmutenden Kaftan und ein Bluetooth-Headset trug, in das sie in breitestem Småländisch Anweisungen bellte, während sie gleichzeitig ihre beiden Besucher anlächelte, ihnen gestisch bedeutete, Platz zu nehmen und sich am Kaffeeautomaten und gegebenenfalls auch aus der Keksdose zu bedienen. Lindholm gab der imposanten Erscheinung über den Schreibtisch hinweg vorsichtig die Hand, er hatte einigen Respekt vor den beachtlichen Fingernägeln, Hultin nickte der Frau knapp zu, ihr Augenrollen verriet Lindholm, was sie von Pia Lunds Maniküre, dem pinkfarbenen Lippenstift und dem wilden Stoffmuster des Gewands hielt, möglicherweise war sie auch genervt, dass Lund ihnen nicht unmittelbar ihre volle Aufmerksamkeit schenkte, hatte Hultin doch schon beim Betreten des Büros demonstrativ mit ihrem Polizeiausweis gewedelt. Als Pia Lund endlich ihr Gespräch beendete, klopfte Hultin bereits ungeduldig mit einem Kugelschreiber auf ihren Notizblock, während Lindholm an einem Keks knabberte, Kaffee trank und sich die großformatigen Fotos von Gebäuden, Parkplätzen und Straßenabschnitten anschaute, die gerahmt an den Wänden hingen.
»Entschuldigt bitte, Hoch- und Tiefbau ist ein stressiges Geschäft, es gibt Probleme mit einem Kran in Teleborg, der Sturm heute Nacht hat das Ding umgeblasen und jetzt haben wir den Salat.«
Ein breites Lächeln in Pink.
»Aber das ist ja alles schon mit der Polizei vor Ort geregelt worden, deswegen seid ihr wahrscheinlich nicht hier, nehme ich an. Was kann ich also für euch tun?«
»Es geht um den Golfplatz in Araby, genauer gesagt um ein Wasserhindernis, das dort in den Neunzigern gebaut worden ist. Von deiner Firma.«
Hultin begleitete die letzten Silben mit einem nachdrücklichen, rhythmischen Klopfen ihres Kugelschreibers.
»Ah, dieser Neandertaler vom Golfplatz! Das Skelett, das dort gestern ausgebuddelt wurde. Ich hab es in der Zeitung gelesen.«
»Ein Neandertaler?«, fragte Lindholm
»Genau! Der Ötzi von Araby. Stand so in der Überschrift. Ein Foto gab es auch, fürchterliche schwarze Knochen, grauenhaft!«
Hultin und Lindholm sahen sich an.
»Lest ihr denn keine Zeitung? Oder das Internet?«
»Doch, schon, aber nicht heute«, sagte Lindholm.
»Wie dem auch sei«, sagte Hultin. »Der Ötzi von Araby stammt jedenfalls nicht aus der Steinzeit. Er trug Turnschuhe. Und vieles deutet im Moment darauf hin, dass er dort während der Bauarbeiten zu dem Wasserhindernis auf der Bahn Nummer sieben vergraben wurde. Den Unterlagen vom Golfplatz zufolge war das 1994 und die Bauarbeiten wurden von Lund Construction AB durchgeführt.«
Die Spitze von Hultins Kugelschreiber zeigte nun auf ihr bunt gemustertes Gegenüber.
»Mmh. Das ist natürlich möglich, auch wenn ich mich daran nicht erinnere. 1994, da war ich ein Teenager. Damals hat mein Vater noch die Firma geleitet, Gott hab ihn selig. Aber es gibt natürlich Unterlagen.«
»Wir bitten darum.«
»Das kann aber ein Weilchen dauern. Wir haben den Betrieb erst 1998 auf EDV umgestellt. Unser Archiv ist unten im Keller, solange ich da unten rumwühle, dürft ihr euch gerne noch einen Kaffee nehmen.«
3
Hugo Delgado holte sich einen Kaffee, setzte sich an den Schreibtisch in seinem Büro und ließ den Rechner hochfahren. Das Zeitfenster, in dem er im Polizeiarchiv nach Ereignissen suchen wollte, die im Zusammenhang mit dem Tod des unbekannten Mannes stehen konnten, war durch die Bauarbeiten auf Bahn Nummer sieben genau definiert. Wie ihm Lindholm am Telefon erklärt hatte, hatte den Unterlagen von Lund Construction AB zufolge das Ausbaggern des Wasserhindernisses am Freitag, dem 23. September 1994, stattgefunden. Über das folgende Wochenende hatte die Arbeit geruht. Schwere Regenfälle und stürmisches Wetter hatten das Ausgießen der Betonverschalung bis zum folgenden Freitag verzögert. Ein Zeitrahmen von einer Woche also, in der der Leichnam in der ausgehobenen Grube vergraben worden sein musste. Um sicherzugehen, dass er wirklich nichts übersah, entschied er, jeweils zwei Monate davor und danach in seine Suchmatrix mitaufzunehmen. Vom 23. Juli bis zum 1. Dezember 1994. Da war ich sechzehn, dachte Delgado, ich hatte meinen ersten...