Schweitzer Fachinformationen
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Hamburg, 2019
Ertappt zuckte Nele zusammen, als die antike Messingglocke über der Eingangstür bimmelte und Kundschaft ankündigte. Sie schlug das Buch zu, in dem sie gerade gelesen hatte, und stand schnell aus dem bequemen, mit Samt bezogenen Ohrensessel auf, der eigentlich den Kunden vorbehalten war.
Hier, in der hintersten Ecke der Bücherwelt, konnte man es sich gemütlich machen. Ein Buch aus dem Regal ziehen, es im Schein der Stehlampe durchblättern, sich einfangen lassen von der Geschichte. Erst einen Satz lesen, dann einen Abschnitt, eine Seite, ein Kapitel. Darüber die Zeit vergessen und all das, was noch erledigt werden musste. Einkäufe, Rechnungen, unbeantwortete E-Mails .
Irgendwann tauchten die Kunden dann wieder auf, überrascht von der eigenen Pflichtvergessenheit und gleichzeitig beglückt von der unerwarteten Auszeit. Dann blieb nur noch, das Buch zu bezahlen und es mit nach Hause zu nehmen. Wie einen Urlaub, den man in der Tasche aufbewahrte. Stets bereit, einen fortzutragen aus dem Alltag.
»Hallo?«
Und jetzt war es Nele selbst passiert. Sie legte das Buch beiseite.
»Ja, ich bin hier. Entschuldige. Hallo, Leonie!« Sie trat ihrer Stammkundin entgegen, die sich schüttelte wie ein nasser Hund, sodass die Regentropfen von ihrem dunkelgrünen Parka spritzten.
»Mistwetter«, schimpfte die junge Frau. »Kann denen da oben mal einer Bescheid geben, dass wir schon Juni haben?«
»Der einzige Nachteil an der schönsten Stadt der Welt«, grinste Nele.
»Ich hätte doch den Studienplatz in Freiburg nehmen sollen«, murrte Leonie und zog einen Zettel hervor.
»Das wäre schade gewesen.« Nele nahm ihr die Buchbestellung ab. Wie immer war es eine bunte Mischung: Thriller, Liebesromane, Sachbücher, Autobiografien. »Wow, ganz schön viele!«
»Ich hab noch ein paar Kommilitonen mehr von der Sache überzeugen können.« Leonie reckte die Faust gen Himmel. »Support your local bookstore!«
»Wirklich toll. Und wie schön, dass ihr jungen Leute so viel lest.«
»Ihr jungen Leute . Was bist du denn? Eine alte Frau?«, fragte Leonie, die mit Mitte zwanzig gerade mal fünf Jahre jünger war als Nele.
»Eine in den besten Jahren.« Nele zwinkerte der Studentin zu und zog los, um die Bücher einzusammeln, die sie vorrätig hatte. In der Leseecke fiel ihr Blick wieder auf den Roman, in den sie gerade noch vertieft gewesen war und von dessen Cover ihr eine junge Rothaarige mit entschlossenem Gesichtsausdruck entgegenblickte. Sie hielt das Buch in die Höhe. »Du magst doch Dystopien, oder? Hab ich gerade reinbekommen und finde es wirklich richtig .«
»Ich nehm es«, unterbrach Leonie sie, und Nele lächelte.
»Bei solchen Kunden macht es Spaß, Buchhändlerin zu sein.«
Sie trug den Stapel zum Tresen, setzte ihn ab und zog die Computertastatur heran. »Den Rest muss ich bestellen. Du kannst die Bücher morgen .«
»Ab zehn Uhr abholen«, vervollständigte ihr Gegenüber den Satz. »Super.« Sie reichte Nele eine Kreditkarte über den Ladentisch und begann, die Bücher in ihren mitgebrachten Jutebeutel zu packen.
Nele zog die Karte durch das Lesegerät und reichte Leonie Kassenbeleg und Abholschein. »Dann bis morgen.« Sie warf einen Blick durchs Schaufenster. »Soll ich dir einen Schirm leihen?«
»Geht schon.« Die Studentin zog eine Grimasse und setzte die Kapuze ihrer Jacke auf. »Ich schau lieber nicht nach, was für ein Wetter die in Freiburg gerade haben.«
Nele begleitete sie zum Ausgang und öffnete die Tür. Schräg gegenüber, auf der anderen Seite der Ottenser Einkaufsstraße, leuchtete der Schriftzug der großen Buchhandelskette, die dort vor zwei Monaten eine neue Geschäftsstelle eröffnet hatte.
Die Türglocke bimmelte, und Nele war wieder alleine im Laden. Sie kämpfte die trüben Gedanken nieder, die beim Anblick der Konkurrenz automatisch in ihr aufstiegen. Dass es Mitbewerber gab, in Form des Online-Versandhandels oder der großen Ketten, war sowieso klar. Aber die Konkurrenz genau gegenüber vor die Nase gesetzt zu bekommen, das war schon ein harter Brocken.
Na gut, sie wollte sich die Laune nicht verderben lassen, also beschloss sie, an etwas anderes, etwas Schöneres, zu denken. Morgen war Mittwoch und damit zwischen sechzehn und siebzehn Uhr Vorlesestunde für Kinder. Nele liebte diese Nachmittage, wenn die Kleinen wie gebannt an ihren Lippen hingen, sich voll und ganz auf die Geschichten einließen, die sie ihnen vorlas. Sie reagierten so ehrlich, so unmittelbar, lachten laut, stießen erschreckte Rufe aus oder versteckten sich in wohligem Grusel hinter ihren Eltern. Es war Nele egal, ob diese dann am Ende der Stunde ein Buch kauften oder nicht, die Augen der Kinder, in denen die Begeisterung funkelte, waren für sie Belohnung genug.
Sie würde aus »Eine Woche voller Samstage« vorlesen, eines ihrer Lieblingsbücher aus Kindertagen. Mit Kajalstift konnte sie sich und den Kindern blaue Wunschpunkte ins Gesicht malen, und in der Verkleidungskiste, die sie im Laufe der Jahre gut bestückt hatte, befand sich eine rote Perücke, die sie über ihren braunen Bob ziehen konnte. Grüne Augen hatte sie sowieso, und sie würde einen Hosenanzug tragen, nicht aus Neopren, aber immerhin blau. Nele lächelte voller Vorfreude.
Vor zehn Jahren, direkt nach dem Abitur, durch das sie sich mit Ach und Krach gemogelt hatte, war sie wild entschlossen gewesen, Erzieherin zu werden. Ihre Umgebung hatte wenig verständnisvoll auf diesen Berufswunsch reagiert. Wollte sie wirklich ihr Leben damit verbringen, eine Horde Kinder von fremden Leuten zu hüten? Ja, genau das wollte sie. Mit Feuereifer und sehr viel mehr Fleiß, als sie jemals auf dem Gymnasium hatte aufbringen können, hatte sie zwei Jahre lang die Berufsfachschule besucht. Nur noch das einjährige Praktikum hatte ihr gefehlt - doch dann war alles anders gekommen. Ihr Vater war an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt. Es war schnell gegangen, und vielleicht war das ein Glück, auch wenn Nele das damals nicht so sehen konnte. Wenige Wochen vor seinem Tod hatte sie die Bücherwelt übernommen. Er hatte seine Frau nur ein Jahr nach Neles Geburt verloren, hatte sein Kind alleine großgezogen, war der liebevollste Vater gewesen, den ein Mädchen sich nur wünschen konnte. Sie hatte ihn einfach nicht gehen lassen können ohne das Wissen, dass seine Tochter sein Lebenswerk für ihn bewahrte.
Manchmal fragte Nele sich, wie ihr Leben wohl aussähe, wenn es anders gelaufen wäre, doch im Grunde ihres Herzens glaubte sie, dass alles seinen Sinn hatte. Zum Beispiel hätte sie sonst vielleicht niemals Julian kennengelernt.
Bei dem Gedanken an ihn stieg ein warmes Gefühl in ihr auf. Vor einem halben Jahr war er in ihr Leben getreten und hatte es ganz schön auf den Kopf gestellt. Davor war ihr Liebesleben für fast drei Jahre praktisch nicht existent gewesen. So lange, dass sie sich um ein Haar von Franzi, ihrer besten Freundin, hätte breitschlagen lassen, sich bei einer Partnervermittlung im Internet anzumelden, und das, obwohl alles in ihr sich dagegen sträubte. Nele war eine echte Romantikerin und glaubte nicht daran, dass Amor mit Elite-Partners kollaborierte.
Tatsächlich sorgte er stattdessen dafür, dass am Mittwoch vor jenem Wochenende, an dem Nele für die Anmeldung im Partnerportal mit Franzi verabredet war, Julian in die Bücherwelt geschlendert kam. Auf den ersten Blick hielt sie ihn für einen Studenten, so jungenhaft wirkte er mit seiner langen, schlaksigen Figur, die in Jeans, T-Shirt und Sneakers steckte. Erst allmählich erkannte sie, dass er mindestens Ende dreißig war, mit sympathischen, nach oben weisenden Lachfältchen um die braunen Augen und ein paar hauchfeinen grauen Strähnen im strubbeligen dunklen Haar. Er stöberte fast eine halbe Stunde lang herum, las im Stehen, an eines der Bücherregale gelehnt, in mehrere Bücher hinein, kaufte schließlich drei davon, unterhielt sich ein paar Minuten mit Nele und verließ den Laden. Nele hatte ihm lange hinterhergeschaut. So einen hätte sie gerne mal kennengelernt. Attraktiv, ohne übertrieben gut aussehend zu sein, belesen, höflich. Seine positive Ausstrahlung hatte sie beeindruckt.
Schon am selben Nachmittag war er zurück. Nele hockte auf dem großen Lesesessel inmitten einer Gruppe Kinder. Sie trug einen spitzen Hut, unter dem ein roter Zopf mit Schleife hervorlugte, hatte sich eine lange Nase mit Warze aufgesetzt und schwarze, struppige Augenbrauen gemalt. Während sie aus Für Hund und Katz ist auch noch Platz vorlas, kam Julian mit einem kleinen Jungen an der Hand herein. Leise ließen sie sich in der hintersten Reihe nieder, Julian nickte grüßend und lächelte, woraufhin sie sich zweimal verhaspelte, dann komplett die Zeile verlor und von vorne beginnen musste.
»Da bin ich wieder«, sagte er, als er nach dem Vorlesen an die Kasse trat, um das Gesamtwerk von Julia Donaldson und Axel Scheffler zu erstehen.
»Ähm, ja«, sagte Nele wenig eloquent. Sie hätte alles dafür gegeben, nicht in Hexenbemalung vor ihm zu stehen. Andererseits war mit Blick auf das etwa fünfjährige Kind an seiner Seite ohnehin klar, dass es eigentlich egal war. Er war vergeben.
»Da hat dein Papa jetzt aber viel vorzulesen, was?«, sagte sie und reichte dem Jungen den Stapel.
Der strahlte und nickte. »Aber erst nächste Woche«, erklärte er, »diese Woche wohne ich bei Mama.« Damit sauste er davon, während Nele versuchte, diese neue Information zu verarbeiten.
»Mika, warte vor der Tür auf mich«, rief Julian seinem Sohn hinterher....
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