Schweitzer Fachinformationen
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Am Morgen stand Ingrid Nyström lange vor dem Spiegel in ihrem Schlafzimmer und überlegte, was sie anziehen sollte. Schließlich entschied sie sich für einen dunkelblauen Hosenanzug und eine weiße Bluse. Normalerweise trug sie dieses Ensemble nur bei Familienfeiern oder in der Kirche. Anders, ihr Mann, machte beim Frühstück darüber einen Witz, aber was wusste er als Pastor schon von Berufskleidung? Wenn er nicht gerade den Gottesdienst hielt, trug Anders ausgebeulte, beige Cordhosen.
Nach dem Frühstück fuhr sie bei ihrer jüngsten Tochter Anna vorbei, um sich die Haare schneiden zu lassen. Zu ihrer Überraschung öffnete ihr eine junge Frau mit wilder Frisur die Tür, die sie vorher noch nie gesehen hatte, vermutlich eine von Annas unzähligen Freundinnen, über die sie ständig den Überblick verlor.
»Hej, ich bin Madeleine«, sagte das Mädchen in dem weiten T-Shirt und den Strumpfhosen mit Tigermuster. Es streckte ihr eine Hand entgegen. »Wir lernen gerade für die Friseurinnenprüfung«, fügte es hinzu, »Styling und so einen Kram.«
Um acht Uhr morgens, dachte Nyström, aber sie sagte es nicht laut. Das Letzte, was sie heute wollte, war ein Streit mit ihrer Tochter. Außerdem war sie insgeheim sogar zufrieden, dass sich der aktuelle Berufswunsch Annas zu verfestigen schien.
»Genau«, krähte Anna aus dem Hintergrund und, als habe sie die Gedanken ihrer Mutter erraten, »der frühe Vogel fängt den Wurm.«
Anna schnitt ihr die Haare und überredete sie anschließend sogar dazu, Lidschatten und etwas Rouge aufzutragen. Schließlich begutachtete sie ihre Mutter zufrieden.
»Jetzt siehst du wie eine richtige Chefin aus.«
Madeleine grinste.
»Eine echte femme fatale.«
»Du siehst ja wie eine richtige Chefin aus!«
Lars Knutsson war der Erste, den sie im Flur der Abteilung im dritten Stock des Präsidiums traf.
»Herzlichen Glückwunsch zu deiner Beförderung, Ingrid!«
Ein wenig unbeholfen nahm der dicke, große, bärtige Mann sie in die Arme. Es fühlte sich an, als ringe sie mit einem Bären. Lars Knutsson war wie sie Anfang fünfzig und arbeitete seit vielen Jahren gemeinsam mit ihr in der Abteilung.
»Danke, Lasse.«
»Du hast es verdient, wirklich. Alle hier denken so. Mach dir also bloß nicht zu viele Gedanken.«
»Gunnar hat mit dir geredet, oder?«
»Ich war gestern bei ihm, aber .«
Lars Knutsson wurde rot. Er kratzte seinen Bart.
»Du, meinst du, du hast später noch mal ein bisschen Zeit für mich?«
»Geht es um die Lkw-Diebstähle in Alvesta?«
»Nein. Ja. Auch. Eigentlich um etwas anderes. Mein Sommerurlaub. Es war so, dass ich mich schon im Herbst eingetragen hatte. In den Urlaubskalender, meine ich. Und dann habe ich mich wieder ausgetragen, weil meine Frau doch im Frühjahr in Kur sollte. Also, jetzt wurde dieser Kuraufenthalt verlegt, und mein Schwager hat uns in sein Sommerhaus nach Öland eingeladen, aber nun haben sich schon zwei Kollegen für Juli in die Liste geschrieben und .«
»Lasse.«
»Mmh.«
»Heute ist mein erster Tag.«
»Ich bin noch nicht mal in meinem Büro angekommen. Ich habe meine Jacke noch an und meine Tasche noch nicht abgestellt. Auf meinem Schreibtisch liegen ein riesiger Stapel Akten und die halb fertigen Dienstpläne für den nächsten Monat. Um neun kommt der Chef wegen der ganzen Formalitäten, und um halb elf stellt sich unsere neue Mitarbeiterin vor.«
Nyström atmete hörbar aus. Sie konnte fühlen, dass sie unter der ungewohnten Schminke schwitzte, außerdem kratzten Haarschnipsel im Kragen.
»Meinst du, wir können morgen über deinen Urlaub reden?«
»Kein Problem, Ingrid. Wirklich kein Problem.«
Knutssons Gesicht glühte. Er machte auf dem Absatz kehrt und stapfte mit großen Schritten den Flur hinab.
»Lasse«, rief sie. Der bullige Mann stoppte und drehte sich wieder zu ihr um. »Wegen der Lkw-Geschichte: Sagen wir nach dem Mittagessen in meinem Büro?«
Der Termin mit Erik Edman, dem Chef der Dienststelle, verlief so unerfreulich, wie sie es erwartet hatte. Die Besetzung des Postens mit dem eloquenten, aber wenig kompetenten Mann war eine politische Konzession gewesen, die in den vergangenen Jahren für einigen Unmut unter den Kollegen gesorgt hatte. Seine fehlende Sachkenntnis und Arbeitsmoral waren legendär, und nicht wenige nannten ihren obersten Vorgesetzten hinter vorgehaltener Hand Halbvier-Erik, denn das war die Uhrzeit, zu der er normalerweise das Präsidium Richtung Golfplatz verließ. Der formale Teil ihrer Beförderung zur Hauptkommissarin und Leiterin der Abteilung Kriminalpolizei bestand darin, dass er ein Fax der stellvertretenden Landespolizeichefin vorlas, das aus Stockholm gekommen war. Dazu gab es einen ganzen Katalog an Papieren, die sie unterzeichnen musste, und schließlich eine Urkunde.
»Es ist deine Chance«, sagte Edman, als er ihr die Hand schüttelte. »Versau sie nicht.«
Sie war froh, als Halbvier-Erik ihr Büro endlich wiederverlassen hatte und sie sich weiter ihrer Arbeit widmen konnte.
Die Frau, die am späten Vormittag ihr Büro betrat, war in den Dreißigern, klein gewachsen und hatte ein auffallend schmales, mit Sommersprossen übersätes Gesicht, das von einem Wust rotbrauner Locken umrahmt wurde, der auf der Stirn zu einem schräg geschnittenen Pony gestutzt war. Das schiefe Lächeln ihres leuchtend rot geschminkten Mundes und der Umstand, dass ihr linkes Augenlid ein wenig zuweit nach unten hing, verstärkten den Eindruck von Asymmetrie im Gesicht der jungen Frau, dennoch wirkte sie auf Nyström nicht unattraktiv. Zu ihren weiten, schlaghosen-artigen Jeans, unter denen die abgerundeten Kappen teuer aussehender Pumps hervorlugten, trug sie eine knapp geschnittene, grasgrüne Trainingsjacke mit blauen Bündchen, die auch einer Elfjährigen gepasst hätte. Auf der schmalen Brust formten ausgeblichene Buchstaben den Schriftzug Reinickendorfer Füchse. Das Rot des Nagellacks auf ihren kurzen Fingernägeln war sowohl auf den Lippenstift als auch auf das Leder ihrer Schuhe und die münzgroßen Ohrringe abgestimmt, die bei jeder Bewegung zwischen ihren Locken schimmerten. Nichts an dieser Frau sah nach einer Kriminalbeamtin aus, trotzdem dokumentierte die Akte auf Nyströms Schreibtisch eine eindrucksvolle Karriere bei der Berliner Kriminalpolizei, einschließlich des Einsatzes in verschiedenen Mordkommissionen.
»Ich bin Stina Forss.« Ihr Lächeln wurde noch ein bisschen schiefer. »Eigentlich habe ich einen Termin bei Hauptkommissar Gunnar Berg, aber der Mann am Empfang hat mich zu dir geschickt. Heute ist hier mein erster Tag.«
Nyström war aufgestanden. Die beiden Frauen gaben sich die Hand.
»Willkommen. Ich bin Hauptkommissarin Ingrid Nyström. Heute ist auch mein erster Tag, gewissermaßen.«
Nyström lächelte, dann bat sie Forss, Platz zu nehmen. Sie berichtete von Bergs Unfall und den personellen Veränderungen im Revier, dann sprach sie über die allgemeinen Aufgabenbereiche der Abteilung, die Entwicklung der Kriminalität in Växjö und der Region Kronoberg und die zukünftigen Einsatzschwerpunkte der neuen Mitarbeiterin. Stina Forss war dem Kommissariat in Växjö für ein Anerkennungsjahr zugeteilt worden, an dessen Ende ihr die Reichspolizeibehörde eine dauerhafte Übernahme in den schwedischen Polizeidienst in Aussicht gestellt hatte. Neue EU-Richtlinien machten solche Programme möglich. Forss würde während dieses Jahres sowohl auf der Polizeidienststelle arbeiten als auch an zwei Tagen in der Woche Seminare an der Polizeihochschule in Växjö besuchen müssen. Zum Abschluss des Gespräches führte Nyström Forss durch das Präsidium und stellte sie ihren neuen Kollegen vor. Als ersten Ansprechpartner für Forss hatte Nyström Hugo Delgado ausgesucht. Er hatte eine ruhige, gelassene Art und war gut darin, Dinge zu erklären, außerdem war er etwa im selben Alter wie die junge Deutschschwedin. Während sich die beiden in ein Fachgespräch über Datenbanken vertieft zum Mittagessen Richtung Kantine aufmachten, hatte Nyström zum ersten Mal an diesem Tag ein gutes Gefühl. Vielleicht war es gar nicht so schwer, eine gute Chefin zu sein. Man musste nur delegieren können.
Als sie sich gegen halb sieben dazu durchrang, Feierabend zu machen, hatte sich längst Dunkelheit über die Stadt gelegt. Sie sah aus dem Fenster ihres Büros. Vor dem Eingang des Kinos stand ein Grüppchen von Jugendlichen im Nieselregen und rauchte, auf dem petroleumgelb beleuchteten Parkplatz vor dem Präsidium lagen zwischen den Haltebuchten Inseln aus schmutzigem Schnee. Das Wiegen der blattlosen Weiden zeigte Westwind an. Sie hatte seit vielen Stunden nichts mehr gegessen, jetzt war sie hungrig und müde. Sie stopfte mehrere Ordner in ihre Umhängetasche. Nach dem Abendessen würde sie weiterarbeiten, wenn sie vorher nicht auf dem Sofa einschlief. Als es an der Tür klopfte, schrak sie hoch. Sie war davon ausgegangen, dass alle Kollegen bereits vor ihr gegangen waren. Zu ihrer Überraschung war es Stina Forss, ihre grüne Trainingsjacke hob sich grell von der dunklen Holzvertäfelung des Flurs ab.
»Störe ich? Du siehst aus, als wolltest du gerade gehen.«
»Wollte ich auch. Macht aber nichts. Komm rein. Was kann ich für dich tun?«
»Es ist...
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