Kapitel 2
Oh, wie sehr sie sie hasste. Diese dicken, aufgeblasenen, überheblichen Supermütter, die ihre voluminösen Bäuche vor sich herschoben wie eine Trophäe. Guckt, was ich kann!, schienen sie ihr entgegenzuschreien, wenn sie ihr entgegenkamen, sieh, wozu mein Körper in der Lage ist! Ich kann schöpfen, ich kann gebären, ich tue das, wozu ich hier auf dieser Erde bin, vollbringe meinen ureigensten, tiefsten menschlichen und spirituellen Sinn! Ich bin gottgleich!
Sie hustete und schob sich auf dem unbequemen Stuhl hin und her. Sie hatte schon wieder Gewicht verloren, je mehr sie sich so eine Art Körper wünschte, wie diese Frauen besaßen, diese überheblichen Schlampen, üppig und strotzend vor Leben, desto mehr schien sie in sich zusammenzufallen. »Alt, verdorrt, vertrocknet und bitter bist du«, murmelte sie vor sich hin und zündete sich eine weitere Zigarette an, die fein manikürten Fingernägel quetschten den Filter zwischen ihren Fingerkuppen. »Giftig von innen, kein Wunder, dass nichts und niemand bei dir bleiben will.« Sie nahm einen tiefen Schluck von ihrem Kaffee, der bitter am Gaumen schmeckte, und sog gierig am gelblichen Qualm, der bis tief in ihre Lungen strömte. Ein Baby am Nebentisch patschte mit seinen kleinen, pummeligen Händen auf dem Teller herum, und die Mutter brach in stolzes, unerträglich quietschendes Gekicher aus. Ihr Blick suchte Beifall heischend die Tische neben ihr ab. Habt ihr das gesehen?, schien ihr Blick zu sagen. Dieses kleine Wunder? Das habe ICH gemacht!
Einfach zum Kotzen. Sie drückte den Zigarettenstummel auf dem Teller aus, auf dem der halb angebissene Kuchen unter einer geschmolzenen Pfütze von Sahne in sich zusammengesunken war. Sie drehte den Filter mit quietschenden Bewegungen auf dem Porzellan hin und her und genoss die hasserfüllten Blicke der Edel-Öko-Muttis um sich herum. Aber niemand hatte ihr bis jetzt das Rauchen am Cafétisch auf dem Bürgersteig verbieten können, und von diesen übersättigten, arroganten Yoga-Muttis würde sie sich erst recht nichts sagen lassen, nein, so weit war sie noch nicht.
Sie lehnte sich genüsslich zurück, ließ die letzten herbstlichen Sonnenstrahlen ihr müdes Gesicht wärmen und angelte mit ihren Fingern aus der Packung, die vor ihr lag, nach einer neuen Zigarette. Die Stimme ihrer Mutter schoss ihr plötzlich durch den Kopf, wie immer, wenn sie einen Moment nicht achtgab und sie in Schach hielt.
Dass es gut wäre, dass die Familie mit ihr endete, hatte sie immer gesagt. Stell dir mal vor, ein Monster wie du vermehrt sich! Bringt ein neues kleines Monster in die Welt! Gott bewahre! Dann hatte sie ihr dreckiges, hässliches Lachen gelacht und sich eine weitere Zigarette angezündet, ihr korallfarbener Nagellack hatte sich grell gegen die gelben Fingerkuppen abgesetzt. Vorm Abaschen war sie sich durch die blondierten Haare gefahren, und ein paar Krümel Asche waren auf den strohigen Locken liegen geblieben.
»Wenn es nach mir ginge, würde ich dich sofort sterilisieren lassen. Sicher ist sicher. Noch so eine Göre, so ein nutzloses, hässliches Etwas wie du, das die Erde bevölkert, das braucht kein Mensch.« Ihre Mutter hatte einen imaginären Fussel von ihrer blendend weißen Bluse gezupft und sie aus den sorgfältig umrandeten Augen angestarrt.
Unsichtbar werden. Verschwinden. Aus der Tür hinausschlüpfen, auf die weichen Sommerwiesen, die in der Dämmerung vor den hohen Wohnzimmerfenstern lagen. Nur ein paar Meter entfernt und unerreichbar für sie. Sie würde den Abend zu Hause verbringen, hier, genau hier. Auf dem hellgrauen Flanellsofa, vor dem niedrigen Glastisch die hohe Vase mit Lilien, deren stechender Gestank ihr pochende Kopfschmerzen verursachte. Sie würden zusammen Denver Clan gucken, die alten Folgen, die ihre Mutter synchron mitsprechen konnte. Ihre makellos nachgezogenen Lippen taten das lautlos, während sie den Fernseher anstarrte, die dünn gezupften Augenbrauen konzentriert nach oben gezogen, wie ein Clownsmaske sah sie dann aus, blass im Gesicht, blutrot lackierter Mund und das Blau um die Augen neonfarben schimmernd. Wenn Mutter genug getrunken hatte, schlief sie manchmal ein. Dann konnte sie sich davonschleichen. Leise, leise auf Mausepfoten, das Herz hämmernd in der Brust. Eine falsche Bewegung, ein Knarren der Dielen unter dem hohen Florteppich, und Mutters Kopf ruckte hoch, wie der einer Puppe wackelte er einen Moment unsicher auf dem dünnen Hals, dann hatten ihre Augen sie gefunden, fixiert, aufgespießt. Sie würde murmeln, sie wolle nur kurz ein Selters aus der Küche holen, ob sie auch etwas brauche. Irgendwann wäre der Kopf ihrer Mutter auf die Schulter gesackt, und sie könnte sich davonschleichen.
In ihrem Zimmer würde sie sich auf das Bett mit der rosafarbenen Häschen-Bettwäsche legen und Pläne schmieden. Dieselben Pläne, die sie jeden Abend schmiedete. Sie würde ihren Vater finden, sie würde ihn anrufen, und er wäre so glücklich, wenn er ihre Stimme am Telefon hörte. Dann würde er in einem großen, schicken Auto vorfahren, er würde ihren Koffer bis ins Auto tragen und sie von hier wegbringen. Sie würde in einer Wohnung wohnen, irgendwo in der Stadt, mit Cafés um die Ecke und einer Schule, in der sie Freunde finden würde. Sie hätte einen Hund - einen echten Hund! -, und abends dürfte sie alleine auf ihrem Zimmer lesen oder fernsehen oder sich mit ihren Freundinnen fürs Kino verabreden. Und sie würde sogar Taschengeld haben, und davon könnte sie sich eine Jeans kaufen, eine echte LEVI?S. Niemand würde mehr hinter ihrem Rücken tuscheln wegen der braunen, kratzigen Stoffhosen und Seidenblusen, die sie tragen musste. Und Nagellack, sie würde sich hellrosa Nagellack kaufen und kleine Sticker, die sie daraufkleben würde, mit Smileys oder Schmetterlingen.
»Bist du taub, oder was ist los mit dir?«
Das Glas verfehlte knapp ihr Gesicht, ihre Finger zitterten, als sie sich bückte, um die Scherben aufzuwischen, die sich über den Glastisch verteilt hatten - der Knall, als das Weinglas auf die Tischoberfläche aufgeschlagen war, hallte ihr in den Ohren. Sie musste besser aufpassen. Wenn ihre Mutter in dieser Stimmung war, konnte man es sich nicht leisten, nachlässig zu sein.
»Ich hab dich was gefragt, antworte gefälligst, wenn ich dich etwas frage, du dummes Miststück!«
Das Gesicht ihrer Mutter war direkt vor ihrem, ihr Atem roch nach Weißwein, Zigaretten und etwas Undefinierbarem, Süßlichem.
»Es tut mir leid, Mutter, ich habe nicht gehört, was du gesagt hast. Ich muss einen Moment in Gedanken gewesen sein.«
»Aha!« Ihre Mutter starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an, sie sah irre aus, so irre wie der Clown aus ES, ging es ihr durch den Kopf.
»Du willst mich wohl für blöd verkaufen, du dumme Nuss«, zischte ihre Mutter. »Wisch das endlich auf, und dann setz dich neben mich. Du weißt, dass ich nicht gerne abends alleine fernsehe. Und beweg endlich deinen Arsch, du armselige Kreatur.« Sie zündete sich eine weitere Zigarette an und fixierte ihre Tochter, die den Rest der Scherben zusammensammelte. »Wie konnte so etwas wie du nur aus mir herauskommen«, murmelte sie und fuhr sich mit der Hand über die auftoupierten Haare. »Eine völlige Missgeburt, eine Enttäuschung von vorne bis hinten.«
»Ja, Mutter«, sagte sie leise und erhob sich vorsichtig. Tränen brannten unter ihren Lidern. Jetzt nicht auch noch heulen, dachte sie bei sich und ballte die Hände zu Fäusten. Die Scherben schnitten in die Handflächen, und der Schmerz war einen Moment lang wie eine Erleichterung. Ein anderes Gefühl - etwas, das den anderen Schmerz für einen Moment lang betäubte. Beim Hinausgehen spürte sie ihre Beine nicht, ihr ganzer Körper fühlte sich federleicht an. Verschwinden, sich in Luft auflösen, in die warme Sommernacht. Eines Tages.
Es war brütend heiß in der Redaktion. Und zu allem Überfluss hatte Heinz' Sekretärin ihre Liebe zu Duftkerzen entdeckt, die die Imkerin aus Unterpfaffenhofen mit Bienenwachs und »einer großen Portion Liebe und kosmischen Kräften« herstellte, wie ihre Zettelchen drohend verkündeten, die von den dicken Kerzen baumelten.
Lorie kämpfte sich durch einen Schwall von »Heiß-süßer-Tannenlust« und »Schmelzendem Vanilletraum« und ließ sich seufzend auf dem Stuhl vor Heinz? Schreibtisch nieder. Hier roch es wenigstens nach altem Kaffee und getrocknetem Männerschweiß.
Im Hintergrund lief der Fernseher, und Lorie konnte an der Anzeigetafel erkennen, dass Bayern gegen Eintracht Frankfurt spielte, und der Punktestand war 4 zu 2. Für Eintracht. Das war wohl auch der Grund für Heinz? kurze Konzentrationsspanne.
»Lorie!«, sagte er und lächelte gequält. »Ich hatte ja schon vor ner Stunde mit dir gerechnet!«
»Tut mir leid, ging nicht schneller.«
Lorie stellte die Handtasche am Boden ab und ließ sich auf den Stuhl gegenüber von Heinz? Schreibtisch nieder. Noch irgendwas roch hier komisch. Nach etwas Vertrautem, etwas, das nicht hierher passte. Sie hob noch einmal schnuppernd die...