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AM 11. MÄRZ 2011 WURDE DIE Ostküste der japanischen Hauptinsel von einem Erdbeben der Stärke 9 getroffen. Ein Tsunami folgte. Am Tag bevor ich aus Tokio ins Katastrophengebiet aufbrach, summierten sich die Opferzahlen wie folgt: 12 175 Tote; 15 489 Vermisste; 2 858 Verletzte.7 Zufällig befanden sich zwei Atomkraftwerke der Tokyo Electric Power Company (kurz: Tepco) im betroffenen Gebiet. Das Atomkraftwerk Fukushima Nr. 1 mit sechs Reaktorblöcken wies nach der Katastrophe mehr Risse und Lecks auf als sein Gegenstück ein paar Kilometer südlich. Am 26. März gab das Wasser im Reaktorblock Zwei des Kraftwerks Nr. 1 mindestens ein Sievert radioaktiver Strahlung pro Stunde ab.8 Bei dieser Menge hätte ein Mensch seine 5-Rem-Dosis in etwa drei Minuten weg.
Die Lage schien wenig verheißungsvoll, umso mehr, als ich in Japan nicht der einzige Ignorant war:
27. März:
Frage: Woher kam dieses radioaktive Wasser?
Antwort: Kraftwerkverantwortliche und Beamte der Regierungsaufsicht sagen, sie wissen es nicht.9
3. April:
Bis Samstagnachmittag stand nicht fest, wie lange Wasser ausgetreten ist und um wie viel es sich handelt.10
Vor meiner Abreise nach Japan hatte Peter Bradford, ein ehemaliges Mitglied der amerikanischen Atomaufsichtsbehörde, der heute im Kuratorium der Union of Concerned Scientists saß, mir gesagt: »Es beunruhigt mich zunehmend, dass die Öffentlichkeit in Japan keine genauen Informationen erhält. In der ersten Woche habe ich geglaubt, die japanische Regierung sei mit gutem Grund vorsichtig. In der dritten Woche mehren sich die Anzeichen dafür, dass Einzelheiten zurückgehalten werden. Gerade jetzt gibt es da erstens die extrem hohen Strahlungsmesswerte, die als fehlerhaft bezeichnet wurden, und zweitens die Entdeckung von Jod-134, das eine sehr kurze Halbwertszeit hat und nur bei einer Rekritikalität auftreten kann, und auch da wurde von einem Fehler gesprochen. Das macht schon zwei Fehler.«
»Was wäre der schlimmste Fall?«
»Wenn es in einem der Reaktorkerne zu einer kritischen Reaktion käme, zu einer Nuklearexplosion, auch wenn sie klein wäre.«
»Ein wie großer Teil Japans würde unbewohnbar werden?«
»Das ist schwer zu sagen. Hängt ganz vom Wind ab. Bisher hatten die Japaner Glück, weil der Wind aus Westen kam, nach Osten aufs Meer hinaus.«
Obwohl meine Akkreditierung als Journalist die wenigen Japaner, die sich für dieses Dokument interessierten, davon in Kenntnis setzte, dass es zu meinen Aufgaben gehöre, »für unsere Publikation Individuen und Beamte zu interviewen«, sah ich es nicht als meine Aufgabe an, Zahlen zu Opfern, Strahlungsintensität etc. zu sammeln, die sehr wohl gefälscht sein konnten und gewiss bald überholt sein würden. (Die atemberaubende Fähigkeit des japanischen Beamten, rein gar nichts zu sagen, wird nur vom absurden Ausmaß des Vertrauens übertroffen, das die Öffentlichkeit in ihn setzt; während das zynische Misstrauen der US-amerikanischen Wählerschaft ihre perfekte Entsprechung in der selbstgefälligen, manchmal vollmundigen Unaufrichtigkeit ihrer Amtsträger findet.)
Ich konnte mir außerdem nicht vorstellen, dass »Experten« mehr zu den wirklich gravierenden Fragen zu sagen hätten, die diese fortdauernde Tragödie aufwarf, als die unmittelbar Betroffenen. Schließlich konnte ich auch keinen Nutzen darin erkennen, die Menschen aufzuspüren, deren emotionales Leid am größten war. Sie werden sehen, dass meine Interviewpartner, bei allen materiellen Verwüstungen, relativ viel »Glück« gehabt haben. Nur die Familie in Ishinomaki hatte eines ihrer Mitglieder verloren – bisher. Die Auswahl war kaum das Ergebnis meines gezielten Vorgehens, vielmehr die Folge der Tatsache, dass, wer nicht um einen Angehörigen trauert, sein Herz einem Fremden eher öffnet; es war also wahrscheinlicher, dass ich solchen Menschen begegnete.
Wie vorsichtig und behutsam ich mir mein Vorgehen auch dachte, unanfechtbar machte es mich nicht. Meine Dolmetscherin, die mir seit vielen Jahren nahestand, war so reizbar und lustlos, wie ich sie nie erlebt hatte; sie gab zu, dass sie deprimiert war, ganz zu schweigen von ihrem Zorn auf Tepco und ihre Regierung. Ihre Kusine, die mir nie begegnet war, ging davon aus, dass ich keinen Schaden anrichten könnte, und ermahnte mich daher, a) niemanden ohne einen japanischen Beistand zu interviewen, einen Vermittler; b) meine Interviewpartner zu Anfang jedes Gesprächs aufzufordern, unliebsame Fragen nicht zu beantworten; und vor allem c) zu zahlen, zahlen, zahlen. Ich hatte immer geglaubt, dass ich genau das tat, wann immer ich Japan besuchte; ich war gewöhnt, nagelneue Zehntausend-Yen-Scheine in »Erkenntlichkeitsumschläge« zu stecken. Früher waren das etwas über 80 US-Dollar; heute waren es 125. Ich war bereit, diesen Betrag weiter auszuzahlen, besonders an Menschen in Not; meine Dolmetscherin und ihre Kusine jedoch fanden eine so kleine Summe »undenkbar«. Sie erwarteten, dass ich wenigstens 40 000 bis 50 000 Yen zahlte. Ich schaltete auf stur und forderte die Dolmetscherin auf, ihr Herz zu öffnen und auf die Beträge in meinen Umschlägen draufzulegen, was immer sie wollte, was sie auch tat, nicht ohne stummen Groll; ich bin sicher, sie hat bestimmt ihren gesamten Verdienst ausgegeben. Wir ließen es dann bei unserem Dissens. Mit diesem hässlichen Zwischenfall begann unsere Arbeit.
An jenem Tag und allen folgenden hatte ich immer das Dosimeter im Blick und las es vielleicht öfter ab als nötig, aber ich konnte nicht wissen, wie bekömmlich die Luft von Stunde zu Stunde sein würde. Tatsächlich zeigte das Display 0,1-Millirem-Schritte an; es gab nichts dazwischen. In San Francisco hatte es, wie gesagt, ungefähr alle 24 Stunden ebenjene 0,1 Millirem registriert, wobei die Anzeige sich irgendwann in der Nacht änderte. Auf dem Flug nach Japan wurde ich mit 1,2 Millirem belohnt, der kürzere Rückflug sollte es auf 0,8 bringen; beides ließ sich auf etwa ein Millirem pro Stunde umrechnen. In Tokio glichen die Strahlungswerte im Wesentlichen jenen in San Francisco, was mich für mich und all meine Mitmenschen freute.
Um sechs Uhr früh betrug der kumulierte Messwert 1,5. Mein Bus fuhr um acht in Tokio ab. Ich befand mich, sagen wir, 230 Kilometer vom Reaktor entfernt.11 Die Pflaumenbäume blühten bereits; im Süden dürfte schon die Kirschblüte eingesetzt haben. Kurz vor zwölf hielten wir zum Mittagessen in Koriyama, 58 Kilometer vom Gefahrenort entfernt, das von Bergen umstandene Land öffnete sich, die Reisfelder waren strohgelb (ein Monat noch bis zur Pflanzzeit), und auf den Gipfeln im Westen glänzte der Schnee; da schaltete die Anzeige um auf 1,6. Wir hatten die Region Tohoku erreicht, von meiner Dolmetscherin Japans Kornkammer genannt, wobei sie hinzufügte: »Ich mache mir solche Sorgen um die Zukunft.« Im Restaurant mit angeschlossenem Laden waren viele Artikel ausverkauft. Hier machten sich auch die japanischen Verteidigungsstreitkräfte bemerkbar; die Soldaten trugen flache Kappen oder Schutzhelme. Wir setzten unsere Reise nach Norden fort, bis wir uns auf der Höhe von Kraftwerk Nr. 1 befanden, dann fuhren wir weiter und erreichten am Nachmittag Sendai (208 Kilometer vom bösen Ort entfernt). Dem Dosimeter nach schätzte ich, dass die Strahlung in Koriyama mindestens doppelt so hoch sein musste wie in Tokio, was ich bei meiner Rückkehr dorthin überprüfen wollte, sobald der ungefährlichere Teil meiner Arbeit abgeschlossen wäre.
In Tokio waren die Belastungen durch die Katastrophe kaum noch zu bemerken: hier und da ein Stromausfall, Mangel an Windeln und Hygienetüchern, die man den Verwandten im Notstandsgebiet schickte. Was Sendai anging – dort verbesserte sich die Lage; der Flughafen war zwar noch nicht wieder geöffnet, Gas zum Heizen war weiterhin nicht zu haben, und Milch, Joghurt, Eier und Zigaretten waren knapp, aber wenigstens hatte es mit der zweistündigen Wartezeit an den Tankstellen ein Ende, und es gab wieder Strom. Die Innenstadt wirkte unberührt, solange man nicht umherspazierte und auf die Warnschilder an diesem oder jenem Gebäude stieß.
Ich nahm mir ein Taxi in das Wakabayashi-Viertel von Sendai, das schwerer betroffen war.
»Ich hatte Dienst und war auf Tour«, sagte der Fahrer, der Sato Masayoshi hieß.12 »Ich hatte keine Fahrgäste. Ich hörte die Erdbebenwarnung im Radio. Ich suchte mir einen freien Platz zum Parken, weil die Häuser schwankten. Man konnte nicht stehen! Ich hockte auf dem Mittelstreifen. Es dauerte gute zwei Minuten, eine Bewegung von Osten nach Süden und zurück, seitwärts.13 Als die Erschütterungen nachließen, stieg ich aus dem Taxi, versuchte es mit meinem Handy, das kein Netz hatte, und rief dann aus einer Telefonzelle bei meiner Familie an. Es klingelte und klingelte, aber niemand nahm ab. Also bin ich zum Büro gefahren, bekam die Erlaubnis, mir frei zu nehmen, und bin schnell nach Hause. Die Verkehrsstaus waren schrecklich, aber ansonsten ging es allen gut. Wir hatten drei Tage lang keinen Strom. Meine Enkelkinder fanden das lustig.«
Er zeigte mit dem Finger. »Da drüben, das ist das Restaurant, das so gewackelt hat. Und sehen Sie, die Tankstelle! Die Decke ist eingestürzt …«
»Ist der Tsunami bis hierher gekommen?«
»Nein, das war alles das Beben.«
»Was war Ihre Meinung, als Sie das erste Mal von dem Reaktorunfall gehört haben?«
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