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Erstes Kapitel
Es gehört vielleicht zu den besonderen Verfahren einer Unterscheidungskunst, die man Literatur nennen mag, dass die damit dargestellten Dinge und Wesen, die erzählten Erscheinungen und Ereignisse nach ihrem spezifischen Gewicht und ihren jeweiligen Aggregatzuständen auseinander gehalten werden. In seinem Bemühen, Vorschläge für eine Literatur des nächsten Jahrtausends - also für die Jetztzeit - zu formulieren, hat dies etwa Italo Calvino im Jahr 1985, kurz vor seinem Tod, versucht. Diese Vorschläge, die als Vorlesungen an der Harvard University geplant waren und nicht mehr vorgetragen werden konnten, sollten nicht von ungefähr mit der Sache der «Leichtigkeit» (lightness, leggerezza) beginnen und sich dem Gegensatz zwischen Gravitation und Levitation widmen, dem Angriff auf die Trägheit der Welt, dem Besinnen auf das eigene Schreiben und der Absicht, den Figuren, den Himmelskörpern oder Städten, der Erzählweise und der Sprache selbst Gewicht und Schwere zu nehmen. Mit dem Blick auf eine Abdrift von Falllinien und auf einen Widerstand gegen Versteinerungsprozesse hat Italo Calvino seine Bibliothek wie seine Vorlieben durchmustert und einige prominente Exemplare einer Literatur des Leichten oder Schwerelosen präsentiert, die sich schwebenden Bedeutungen, vorsichtigen Abstraktionen oder Bildern der Beweglichkeit verschrieben hatten. Dazu zählte etwa das Lehrgedicht De rerum natura des Lukrez, dessen Atomismus die Kompaktheit der Welt schwinden lässt, Wirklichkeiten zerstäubt, in das Gestöber des unendlich Kleinen, Mobilen und Leichten hinein führt, mit der Materie auch die Leere dazwischen vorstellt und den Atomen die Abweichung von der geraden Linie, also Freiheiten und unvorhersehbare Möglichkeiten gestattet. Ebenso die Metamorphosen des Ovid, die sich - wie Calvino bemerkt - auf eine Gleichwertigkeit alles Seienden, gegen eine Hierarchie von Wesen, Werten und Mächten, auf einen fließenden Übergang von einer Form zur anderen hin bewegen und einmal einen geflügelten Perseus dem petrifizierenden Gorgonen-Blick entkommen und in die Lüfte steigen ließen. Einen besonderen Raum nehmen dabei die Verse von Guido Cavalcanti ein, die Calvino gegen das Gefüge literarischer Machtarchitekturen von dessen Zeitgenossen und Freund Dante setzt - Landschaften, die in eine Atmosphäre schwebender Gestaltlosigkeit aufgelöst werden, wie etwa: «klare Luft, wenn der Morgen graut/und weißer Schnee, der bei Windstille fällt».
Seit den 1950er Jahren und im Zeichen zunehmender politischer Enttäuschungen, die mit der Niederschlagung der ungarischen Revolutionsbewegung 1956 begannen, war Italo Calvinos Programm der Leichtigkeit nicht nur gegen den Zwangscharakter historischer Sachlagen gerichtet und an Abwandlungen, Geschichtsvarianten und Möglichkeitsreserven orientiert; es hat ihn auch in den Umkreis literarischer Experimente, etwa in die Nähe der Pariser Gruppe Oulipo (die berühmte «Werkstatt für potentielle Literatur», Ouvroir de Littérature Potentielle), und auf die Zusammenhänge zwischen Zufallspoetik und Lukrez'scher Physik, auf den Widerstand winzigster und subtilster Elemente gegen massive Strukturen gebracht. Hiervon ausgehend könnte man mit Calvino folgern, dass zwei entgegengesetzte Neigungen über die Jahrhunderte hinweg das Feld der Literatur durchziehen (und man möchte hinzufügen: wahrscheinlich auch das Feld des Denkens überhaupt): «Die eine sucht aus der Sprache ein gewichtloses Element zu machen, das über den Dingen schwebt wie eine Wolke oder besser gesagt wie ein feiner Staub oder noch besser wie ein Feld von Magnetimpulsen; die andere ist darauf aus, der Sprache das Gewicht und die Konkretheit der Dinge zu geben, die Konsistenz der Körper und der Empfindungen.»[1] Und natürlich lässt sich Calvinos Reihe ganz unschwer und auf unterschiedliche Weise im Kanon deutscher Literatur fortsetzen: etwa mit Märchen wie Hans im Glück, in dem die Verwandlungskunst des Tauschens vom unbequemen Gewicht eines kopfgroßen Goldklumpens zu einer von aller Last befreiten Herzensbewegung führt; oder mit Goethes Faust. Zweiter Teil, wo der Stich- und Schlagfertigkeit der imperialen Gewaltfiguren namens Raufebold, Habebald und Haltefest die aufstrebenden Bewegungen der Luft-, Wolken- oder Lichterscheinungen von Euphorion und Helena gegenübertreten; oder mit Nietzsches Zarathustra, der einmal davon träumt, die Welt neu zu wiegen, sich gegen den «Geist der Schwere» im Leichtmachen und Davonfliegen versucht und - schwebend in «tiefen Licht-Fernen» - zu sich selbst sagt: «Siehe, es gibt kein Oben, kein Unten! Wirf Dich umher, hinaus, zurück, du Leichter!»[2]; oder auch mit dem eigentümlichen «Gerichtsorganismus» in Franz Kafkas Proceß-Roman, der anders als es ordentliche Rechtslagen verlangen, nicht fest gefügt, beharrlich und gründlich gesetzt ist, sondern «gewissermaßen ewig in Schwebe bleibt».[3]
In all diesen - endlos erweiterbaren - Beispielen steht allerdings nicht nur das Verhältnis zwischen Literatur und dem Gewicht irdischer Geschehnisse und Zwangslagen auf dem Spiel. Mit den Fragen nach Schwere und Leichtigkeit reichen literarische und ästhetische Sondierungen vielmehr in Bezirke hinein, wo sich Erkenntnisprozesse mit Machtordnungen, Weltverhältnisse mit Seelenverfassungen überkreuzen - Verflechtungen, um die es in den folgenden Überlegungen gehen wird. Dieser Versuch über das Schwebende widmet sich einigen Problemfeldern, in denen flüchtige Erscheinungen, unfeste Sachverhalte und unfassbare, in den Lüften oder am Himmel entschwindende Objekte eine Herausforderung für Wahrnehmungsprozesse, Wissensformen, Begriffsbildungen und Ordnungsgedanken darstellen. Dabei werden verschiedene Schauplätze durchmustert. Sie reichen von einer eigentümlichen Schwebeszene moderner Erzählliteratur zu einem bemerkenswerten Gedankenexperiment in der mittelalterlichen Philosophie, von wundersamen Phänomenen in der Meteorologie der Antike bis zum Verwirrspiel neuzeitlicher Himmelsereignisse, von den Levitationsversuchen literarischer Sprache bis hin zu einer Wissenschaft des Ephemeren und Immateriellen. Als immer wiederkehrender Wegweiser für diese Spurensuche über die verschiedensten Szenen, Versuchsanordnungen und Epochen hinweg wird sich ein großer Roman des 20. Jahrhunderts bewähren, der wie kaum ein anderer die Darstellung von Weltverhältnissen mit Fragen der Schwerkraft verknüpfte und sich dabei um eine Verflechtungsintensität, um die Frage nach den Überschneidungen, Spannungen und Konkurrenzen zwischen literarischen und wissenschaftlichen Erkenntnisweisen bemühte.
Auch wenn man mit Robert Musil wohl eingestehen muss, dass «immer schon ein gewisser Größenunterschied zwischen dem Gewicht dichterischer Äußerungen und dem Gewicht der ungerührt von ihnen durch den Weltraum rasenden zweitausendsiebenhundert Millionen Kubikmeter Erde» bestand, ein Unterschied, den man in Rechnung stellen und «irgendwie in Kauf» nehmen muss[4], laden solche Gewichtsprobleme doch zu einer genaueren und wegweisenden, vielleicht auch systematischen Befragung ein. Mit seinem Der Mann ohne Eigenschaften hat Musil dies dann auch auf exemplarische Weise versucht. So wurde dieses Romanprojekt um ein Spektrum von Erscheinungen herum gruppiert, das von der Schwere der Tatsachen zum Hauch der Möglichkeiten, von versteinerten Weltlagen zu einem Dunst aus Ahnungen und Ideen, von der festen Materie der Gegebenheiten zu einem feineren Gespinst aus «Einbildung, Träumerei und Konjunktiven» reicht. Das Erzählprogramm changiert zwischen der Statik von stoßfesten Ordnungsgefügen und einem Schwarm von Begebenheiten, der eher statistisch, als Molekulargeschehen kinetischer Gastheorie zu fassen ist und den Lauf der Geschichte selbst ins Sich-Verlaufen und in Wolkenbahnen verlegt. Der Wechsel von harten Geschäftsgrundlagen, Festkörperphysik und den Gesetzen der Gravitation zu den Hebungen eines unbestimmten Schwebens prägt einen mehrfach gebrochenen, also ikonoklastischen Realismus, der Welt und Wirklichkeit eben nicht an Bildern und Formen, sondern an Unschärferändern und Werdensprozessen untersucht und dabei zwangsläufig in ein Feld dynamischer und gegenstrebiger Kräfte gerät.
Die einen davon hat der Roman mit einem «Seinesgleichen geschieht» umschrieben und damit jene sozialen, politischen und ökonomischen Gravitationslinien...
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