MARIENKÄFER BRINGEN GLÜCK!
Kim beobachtete einen wedelnden Hundeschwanz, der unter den Büschen hervorragte. Weil das Laub so hoch war, raschelte es bei jeder Bewegung. »Hey, Sherlock, was machst du denn da?«, rief sie.
»Er hat gestern einen kleinen Igel gefunden. Iggy überwintert jetzt in der Praxis von meinem Vater«, berichtete Franzi und stellte einen Eimer mit Äpfeln neben die Pferdekoppel.
»Vielleicht denkt Sherlie, da sind noch mehr Igel«, vermutete Marie.
Franzi strich ihrem Pony Tinka über den Rücken und hielt ihm einen roten Apfel hin. »Hier, habe ich heute gepflückt.« Tinka schnaubte und schnappte sich den Apfel.
Kim holte sich auch einen. »Frisch vom Baum, was für ein Traum.«
Ein Knurren war zu hören. Alle Blicke richteten sich in Sherlocks Richtung. Im nächsten Moment stolzierte Polly, Franzis Huhn, aus dem Gebüsch an Sherlock vorbei und begann, im herbstlichen Laub zu picken.
»Fehlalarm, Sherlock«, sagte Marie lachend. »Das war nur Polly. Auch der beste Detektivhund kann sich mal irren.«
Kim blinzelte in die goldene Herbstsonne und sog den Duft von Laub und Erde ein. »Guckt mal, die ganzen bunten Herbstblumen, die hier blühen!« Sie zeigte zu den Blumenbeeten, die an der Hauswand eine Farbenpracht von blühenden Astern, Kornblumen und Dahlien bereithielten. Endlich waren Herbstferien, und die Freundinnen hatten sich auf dem Winklerhof getroffen, um zusammen ein bisschen in Herbststimmung zu kommen.
Marie setzte sich auf einen Heuballen. »Was kann man denn im Herbst alles Schönes machen?«
»Kastanien sammeln, Tee trinken, spazieren gehen, lesen«, begann Kim aufzuzählen. »Oder Serien gucken.«
»Ich liebe es, zu baden. Mit Zimt und Ingwer im Wasser«, schwärmte Marie. Sie deutete zu Franzis Katze Ophelia. »Und wenn man eine Katze hat, kann man sich neben sie aufs Sofa kuscheln.«
Sherlock, den die drei Freundinnen auf einem Raststätten-Parkplatz gefunden hatten und der mit vollem Namen Sherlock Bones hieß, wuffte zustimmend und stupste die Katze an. Ophelia hatte aber keine Lust, mit Sherlock zu spielen. Mit einem Satz sprang sie auf das Fenstersims des Geräteschuppens und rollte sich in der Sonne zusammen. Sherlock schien das nicht zu stören. Er schnappte sich Lenis ausrangiertes Schmusekissen in der Form einer Banane und verzog sich damit unter einen Haselnussstrauch.
Nun begann Polly, an Kims Schnürsenkeln herumzupicken. »Hey, du verrücktes Huhn, lass das!«, rief Kim lachend.
Franzi schob Polly zur Seite und holte ein paar Körner aus ihrer Hosentasche, die sie dem Tier hinwarf.
»Du hast ja für alle was dabei«, staunte Marie.
»Franzi, hast du an das Lebkuchengewürz gedacht?« Frau Winkler kam auf die Mädchen zu. »Hallo, Kim und Marie, ihr müsst unbedingt mal wieder bei mir im Hofcafé vorbeikommen. Ich kann einen Apfelkuchen backen.«
»Hast du denn Zeit dafür, bei den vielen Aufträgen?«, fragte Franzi.
Ihre Mutter betrieb einen erfolgreichen Backservice und veranstaltete dazu noch Events auf dem Hof. Schon seit langer Zeit war bei den Winklers eine Menge los. Auch Franzis Vater, dessen Tierarztpraxis sich im Erdgeschoss des Wohnhauses befand, war voll ausgelastet. Bis vor Kurzem hatten auch noch Franzis großer Bruder Stefan mit seiner Freundin Britt und dem gemeinsamen Baby Leni hier gelebt. Die kleine Familie war nun in das Haus von Maries Oma Agnes und Opa Herbert umgezogen. Das kleine Häuschen am Waldrand war frei geworden, weil die beiden Großeltern jetzt in einer wunderschönen Seniorenresidenz lebten. Sogar ihre beiden Esel Adam und Eva durften mit umziehen. Franzi vermisste ihre kleine Nichte Leni sehr, aber meistens hatte sie nicht allzu viel Zeit, daran zu denken, denn es gab ja auch noch ihre ältere Schwester Chrissie, mit der sie zwar die Leidenschaft für den Naturschutz teilte, sich aber auch immer wieder in den Haaren lag.
»Ich habe das Lebkuchengewürz in die Küche auf den Tisch gelegt«, sagte Franzi.
Ihre Mutter drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Danke, du bist die Beste.« Dann verschwand sie wieder.
»Und warum hast du nicht den Geschirrspüler ausgeräumt? Du bist dran!«, fragte Chrissie, die sich unbemerkt genähert hatte, etwas genervt.
»Weil er noch nicht fertig war«, konterte Franzi und verdrehte die Augen. Sie nahm sich ihr Springseil, das neben ihr auf der Bank lag, und begann zu hüpfen.
»Aha«, sagte Chrissie, schwang sich auf ihr Rad und fuhr ohne ein weiteres Wort vom Hof.
Kim und Marie tauschten einen Blick.
»Manchmal ist sie echt schwierig«, seufzte Franzi und hüpfte weiter. »Wo waren wir noch mal stehen geblieben?«
»Dass man sich im Herbst sehr gut mit Lebkuchen und Tee aufs Sofa kuscheln und Bücher lesen kann«, sagte Kim. »Oder seilspringen. Ooooder«, sie betrachtete das Freundschaftsarmband mit der halben Sonne, das Camilla ihr aus Italien mitgebracht hatte, »mit Freundinnen Seriennachmittage machen.«
»Oder mit einer ganz speziellen Freundin einen Seriennachmittag machen?«, fragte Franzi und zwinkerte Kim zu.
»Mit Frühlingsgefühlen im Bauch?«, ergänzte Marie.
Kim grinste. »Wir sind heute Nachmittag verabredet und wollen einen Film zusammen gucken«, erzählte sie. »Ich hoffe, es ist okay für euch, dass ich dann erst heute Abend zum Übernachten wiederkomme?«
»Na klar!« Marie deutete in den blauen Himmel. »Aber wollt ihr bei dem schönen Wetter nicht lieber einen Herbstspaziergang machen?«
»Vielleicht hast du recht«, sagte Kim.
Franzi hörte auf zu springen und rollte ihr Seil wieder ein. »Also ich finde, ihr solltet die Serie gucken. Egal, ob die Sonne scheint oder nicht. Das ist der perfekte Anlass, sich ganz nah nebeneinanderzukuscheln.«
Marie schloss die Augen. »Vielleicht küsst ihr euch endlich. Wenn ich an Holgers und meinen ersten Kuss denke, habe ich sofort wieder ein Kribbeln im Bauch.«
»Bei mir kribbelt auch was«, sagte Kim und wischte sich panisch mit der Hand über den Nacken. »Franzi, hilf mir mal!«
Mit einem Griff an Kims Hals hatte Franzi einen Marienkäfer auf der Hand. »Kim wird von einem Marienkäfer attackiert - was sagt uns das?«
»Dass sie Glück hat .«, antwortete Marie, ». so tolle Freundinnen wie uns zu haben!«
Alle drei Mädchen beobachteten, wie der Marienkäfer auf Franzis Zeigefinger krabbelte. Auf der Fingerspitze angekommen breitete er die Flügel aus und hob ab.
»Im Ernst!« Marie stand auf und legte die Arme um ihre Freundinnen. »Ich bin so froh, dass ich euch habe. Ihr seid meine Familie.«
Kim legte ihren Kopf auf Maries Schulter. »Ich auch.«
In den letzten Wochen hatte Kim ziemlich viel Zeit mit Camilla und weniger mit Franzi und Marie verbracht. Aber langsam merkte sie, dass sie auch mal wieder bereit für ein anderes Kribbeln war, nämlich das, das sich einstellte, wenn sie kurz davor waren, einen Fall zu lösen. Kim Jülich, Franziska Winkler und Marie Grevenbroich waren nämlich nicht nur beste Freundinnen, sie hatten auch einen Detektivclub gegründet und nannten sich Die drei !!!. Zusammen hatten sie schon mehr als einhundert Kriminalfälle erfolgreich gelöst.
Marie sah dem Marienkäfer seufzend hinterher, der sich auf einer rostrot blühenden Aster niederließ.
»Ist alles gut bei dir, Marie?«, fragte Franzi.
»Ja, eigentlich schon«, sagte Marie. »Ich habe nur in letzter Zeit öfter an Mama gedacht. Es ist so traurig, dass ich mich nicht an sie erinnern kann.«
»Sie war bestimmt superlieb und wunderschön«, vermutete Kim.
Als Marie zwei Jahre alt war, hatte ihre Mutter einen schweren Autounfall, in dessen Folge sie verstarb. Marie und ihr Vater, Helmut Grevenbroich, waren ein perfektes Team, und Marie war glücklich, dass er seine zweite große Liebe in Tessa gefunden hatte. Ihren kleinen Halbbruder Finn liebte sie über alles und auch ihre Stiefschwester Lina war Marie nach anfänglichen Reibereien sehr ans Herz gewachsen.
»Ich verstehe, dass du sie vermisst«, sagte Kim und hatte eine Idee. »Wie wäre es, wenn wir sie heute auf dem alten Südfriedhof besuchen?«
Marie begann zu strahlen. »Au ja! Wir bringen ihr Blumen!« Sie stockte. »Aber Moment mal, du bist doch mit Camilla verabredet!«
»Ach«, sagte Kim und winkte ab. »Das verschiebe ich.«
»Willst du dich etwa davor drücken, mit ihr zu sprechen?«, fragte Marie mit etwas übertriebener Empörung in der Stimme.
»Quatsch!«, beteuerte Kim, ebenso empört. Doch vielleicht hatte Marie recht? Eigentlich wünschte Kim sich nichts sehnlicher, als ganz viel Zeit mit Camilla zu verbringen. Schon länger spürte sie, dass da auch noch andere Gefühle im Spiel waren als rein freundschaftliche. Immer, wenn sie in Camillas Nähe war, kribbelte es in ihrem Bauch. Zuerst war Kim verunsichert gewesen, aber seit sie und David sich getrennt hatten, hatte sie endlich mehr Raum gehabt, um über ihre Gefühle nachzudenken. Sie war verliebt in Camilla. Doch sie war sich nicht ganz sicher, ob Camilla auch so empfand.
»Also, ich finde, du kannst die Verabredung nicht absagen!«, sagte Franzi entschieden.
»Bring sie...